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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 182 Bewertungen
Bewertung vom 06.10.2022
Die leise Last der Dinge
Ozeki, Ruth

Die leise Last der Dinge


gut

Der 13-jährige Benny Oh hat ein Problem. Seit dem Unfalltod seines Vaters Kenji hört der Junge Stimmen. Seine Turnschuhe, die Fensterscheibe, die sich über den Tod eines Vogels beklagt, das Quietscheentchen - wie bringt man diese Gegenstände bloß wieder zum Schweigen? Seine Mutter Annabelle ist ihm keine große Hilfe. Trotz ihrer großen Liebe für den Sohn ist sie heillos überfordert und in ihrer Trauer gelähmt, hortet Dinge und kann sich nicht mehr von ihnen trennen. Für den Jungen werden sie zu einer Kakophonie des Grauens. Und während sich das Haus langsam aber sicher zu einer Müllhalde wandelt, macht Benny in der städtischen Bibliothek eine aufregende Entdeckung, die sein Leben fortan in eine andere Bahn lenken wird...

"Die leise Last der Dinge", der neue Roman von Ruth Ozeki, hat gerade den renommierten "Women's Prize for Fiction 2022" gewonnen und sich dabei gegen namhafte Konkurrentinnen wie Louise Erdrich oder Elif Shafak durchgesetzt. Im Eisele Verlag ist nun die deutsche Übersetzung von Andrea von Struve und Petra Post erschienen.

Zu Beginn der Lektüre überraschte mich diese Auszeichnung überhaupt nicht. So originell und im positiven Sinne einlullend startet das Buch. Formal zeichnet es sich zunächst durch zwei Erzählstimmen aus, die sich nicht nur im Tonfall, sondern auch in der gewählten Schriftart deutlich voneinander unterscheiden. Der erste Erzähler ist "das Buch", das jedoch immer wieder von Protagonist Benny selbst unterbrochen und korrigiert wird. Einfühlsam und gleichzeitig komisch lässt Ozeki ihre beiden Erzähler sich die Bälle zuspielen. Später lesen wir mit dem Zen-Ratgeber "Tidy Magic" ein Buch im Buch, wie es zuletzt beispielsweise Amy Waldman in ihrem Roman "Das ferne Feuer" meisterlich umsetzte. Einen so großen Raum nimmt "Tidy Magic" zwar nicht ein, doch die Idee ist durchaus charmant. Ohnehin bleibt die Form die große Stärke des Romans. Später wechselt das Buch in die Du-Perspektive und spricht Benny direkt an, es gibt Briefe zu lesen, Bennys eigene kleine Kurzgeschichten und immer wieder auch eine Meta-Ebene, auf der sich "das Buch" über verschiedene Themen auslässt, die sich mit Büchern befassen.
Jedoch kann "Die leise Last der Dinge" inhaltlich nicht mit seiner formalen Innovation mithalten. Dabei beginnt die Geschichte durchaus verheißungsvoll. Ozeki erzählt einfühlsam von einer dysfunktionalen Mutter-Sohn-Beziehung. Trotz der spürbaren Liebe zueinander sind Benny und Annabelle so mit sich und ihrer Trauer beschäftigt, dass der jeweils andere mit seinen schwerwiegenden Problemen eher eine Last denn eine Hilfe ist. Bennys Stimmen-Wirrwarr führt ihn schließlich in eine Klinik, während Annabelle ihr Messie-Chaos daheim allein nicht in den Griff bekommt und durch den Verlust des Hauses und ihres Jobs bedroht wird. Da kommt das kranke Kind schon mal zu kurz oder wird fast sträflich falsch behandelt.

Allein aus diesem Familienporträt hätte Ruth Ozeki einen ganz wunderbaren 350-seitigen Roman stricken können. Doch leider belässt sie es nicht dabei, sondern verheddert sich in zu vielen Nebenschauplätzen und damit fast 700 Seiten. Das Unheil nimmt für die Leser:innen seinen Lauf, als Benny mit dem obdachlosen "Flaschen-Mann" und einem Mädchen namens "Das Aleph" zwei Figuren kennenlernt, die besonders schräg und liebevoll wirken sollen. Anfangs gelingt das auch durchaus, doch mit zunehmender Dauer nehmen diese Nebenfiguren einfach zu viel Raum ein und entwickeln sich dadurch zu einem Ärgernis. Denn "Die leise Last der Dinge" entpuppt sich in dieser zweiten Hälfte als ein nicht besonders origineller Jugendroman, dessen Charaktere man gefühlt schon 50 Mal irgendwo getroffen hat und deren Abenteuer immer unwahrscheinlicher werden. In dieser Phase fühlte ich mich beispielsweise stark an Alina Bronskys "Nenn mich einfach Superheld" oder etwas weniger auch an Gavin Extences "Das unerhörte Leben des Alex Woods" erinnert, die zu ihrer jeweiligen Veröffentlichung sicherlich überraschen konnten, aus heutiger Sicht durch die Vielzahl an ähnlichen Werken aber überholt wirken.

Und auch das Finale konnte mich leider nicht mehr überzeugen. Zu vorhersehbar und konstruiert wirkten auf mich die Verbindungen, zu einfach die präsentierten Lösungen.

Ich bin mir dennoch sehr sicher, dass "Die leise Last der Dinge" eine durchaus große Anzahl an Leser:innen erreichen wird und für viele davon sogar zu einer Art Lieblingsbuch werden könnte. Die Mischung aus schrullligen Figuren, Weisheiten über Bücher und Bibliothekarinnen wird bei einer großen Zielgruppe den Nerv treffen. Das Buch selbst macht jedenfalls schon mal kräftig Werbung für sich: "Natürlich gibt es einzigartige Bücher - vielleicht haltet ihr gerade eines in der Hand", heißt es an einer etwas sich selbst beweihräuchernden Stelle. Auch für mich hätte es ein Lieblingsbuch werden können, wenn sich der Inhalt gleichermaßen gelungen wie die Form präsentiert und das Buch mindestens 200 Seiten kürzer gewesen wäre.

Bewertung vom 25.09.2022
Lukusch
Heisenberg, Benjamin

Lukusch


sehr gut

Nach dem schweren Reaktorunglück in Tschernobyl wird der 13-jährige Anton Lukusch gemeinsam mit seinem Freund Igor Shevchuk und zahlreichen anderen Kindern von der Hilfsorganisation Shelta nach Deutschland gebracht. Dort kommt er in der Familie des gleichaltrigen Simon Ritter unter und entpuppt sich als Schachgenie, dem es sogar gelingt, Bundeskanzler Helmut Kohl öffentlichkeitswirksam zu besiegen. Doch sein Ruhm bleibt nicht ohne Folgen, denn die Unternehmensberatung SBI wird auf den Jungen und seine außergewöhnliche Intelligenz aufmerksam. Mehr als 30 Jahre später sieht Simon bei einem Schachturnier den Großmeister Igor Nazarenko - und erkennt in ihm Antons damaligen Freund. Doch wo ist Anton selbst? Simon macht sich auf eine gefährliche Suche...

"Lukusch" ist der Debütroman des Regisseurs und Künstlers Benjamin Heisenberg. Und tatsächlich ist das Werk vielmehr ein Gesamtkunstwerk als ein "gewöhnlicher" Roman. Kongenial verarbeiten Autor Heisenberg und der Verlag C. H. Beck ein Ideenfeuerwerk, das mit den Erwartungen der Leser:innen spielt und dabei formal etwas wirklich Neues an der Grenze zwischen Roman, Deep Fake und Mockumentary schafft. Das Buch selbst wirkt wie ein abgegriffenes Notizbuch und liegt auch dadurch ganz wunderbar in der Hand. Dass die eigentliche Geschichte die Klasse der Form dabei nicht ganz halten kann, liegt an der etwas schwächeren zweiten Hälfte des Buches.

Was Clemens J. Setz in "Indigo" in seinem Spiel aus fiktiven Zeitungsausschnitten, ausgedachten Legenden und sich selbst als Protagonisten schon überragend umsetzte, treibt Benjamin Heisenberg in "Lukusch" auf die Spitze. Heisenberg gibt sich als Herausgeber der Aufzeichnungen des 2020 in der Nähe von Tschernobyl verschollenen Simon Ritter und trägt diese "nach bestem Wissen und Gewissen chronologisch und in Sinnzusammenhängen geordnet" zusammen, wie es im Vorwort des Herausgebers heißt. Eine klug gewählte Perspektive, die allerdings in der Folge nicht immer gehalten werden kann.

Denn zwischen Simons Aufzeichnungen, die Zeitungsausschnitte, Beiträge aus Büchern, Fotos und wissenschaftlichen Analysen mischen sich auch romanartige Passagen aus der Sicht von Anton Lukusch und dessen damaliger Freundin Maria, deren Ursprung fraglich ist und nicht zum eigentlichen Ansatz des Buches passen. Denn es wird nicht deutlich, wie Herausgeber Heisenberg an diese Perspektiven gekommen sein soll, wenn er lediglich Simon Ritters Aufzeichnungen zusammenträgt.

Nimmt man diese Schwäche des Buches als gegeben, wird man aber mit einem wahrlich verrückten literarischen Trip belohnt, der besonders in der ersten Hälfte einen Sog entwickelt, dem man sich schwer entziehen kann. So aufregend neu ist alles, was man zu sehen und zu lesen bekommt, so spannend und melancholisch die Geschichte des Wunderkinds Anton, dessen Kindheit durch das Reaktorunglück so abrupt endete. Man schaut gemeinsam mit Simon alte Videos an, erkennt die Traurigkeit in Antons Blick und ist dabei, wenn Anton und Maria erste zarte Bande knüpfen. Wie eine Marionette wird der stille und freundliche Junge in Deutschland anschließend von Politik und Wirtschaft herumgereicht, immer begleitet vom grobschlächtigen Igor.

Dieser Igor nimmt eine zentrale Rolle in dem Buch ein. Da ist zunächst die parapsychologische Verbindung zwischen Anton und ihm, die unter anderem Simon Ritters Vater näher untersuchen möchte. Denn im wahrsten Sinne des Wortes sind die beiden untrennbar. Bei einer zu großen Entfernung setzt bei beiden der Herzschlag aus. Umso erstaunlicher scheint es, dass ausgerechnet Igor im Jahre 2019 als Schachgroßmeister wieder auftaucht - offenbar ohne Anton Lukusch.

Während die Umsetzung und die Grundidee durchgehend überzeugen, schwächelt die eigentliche Geschichte in der zweiten Hälfte leider ein wenig. Das liegt vor allem daran, dass sich die Beziehung zwischen Simon und Maria, die sich der Suche nach Anton anschließt, zu einem Ärgernis entwickelt. Der seit seiner Kindheit in Maria ve

Bewertung vom 22.09.2022
Sein Sohn
Lewinsky, Charles

Sein Sohn


sehr gut

Mailand, zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Im Waisenhaus Martinitt fristet der kleine Louis Chabos ein unglückliches Dasein. Von den größeren Jungen wird er drangsaliert, und auch von den Erwachsenen erfährt er keine Liebe. Als ihn die Mutter Oberin an seinem zwölften Geburtstag zu sich ruft, ahnt er noch nicht, dass sich sein Leben in den nächsten Wochen und Monaten komplett ändern wird. Denn nun, da er "erwachsen" ist, ist es Zeit für seinen ersten Job. Beim alten Marchese wird er fortan als Diener eine neue Moral und die Werte des Lebens kennenlernen. Und erfährt erstmals so etwas wie Respekt und Zuneigung...

Der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky sagte auf einer Lesung zu seinem damaligen Roman "Der Stotterer" einmal, sein Ziel sei es, mit jedem seiner Bücher eine ganz neue Geschichte zu erzählen. Bei Diogenes ist nun sein aktueller Roman "Sein Sohn" erschienen - und erneut gelingt es Lewinsky, aus einer minimalen historischen Information eine ganze Lebensgeschichte zu entwickeln.

"Sein Sohn" ist eine Mischung aus historischem Coming-of-Age- und klassischem Abenteuerroman, die sich weniger durch sprachliche oder literarische Extravaganzen als durch die Kunst des Erzählens selbst auszeichnet. Denn dass Lewinksy ein begnadeter Geschichtenerzähler ist, stellt er mit diesem Werk einmal mehr eindrücklich unter Beweis.

Hervorzuheben ist dabei, wie es Lewinsky gelingt, die Leserschaft an den Protagonisten Louis Chabos zu binden, diesem Jungen und Mann, auf der Suche nach sich selbst und nach seinen Eltern. Denn obwohl die Sätze kurz und knapp sind, die Sprache des auktorialen Erzählers eher distanziert ist, leidet und hofft man als Leser:in mit diesem Louis. Trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse, die ihm in den Weg gelegt werden, hat man das Gefühl, dass Louis nie verloren ist, dass es immer eine helfende Hand gibt, die ihm aus dem Schlamassel befreit.

So folgt man Louis Chabos auf seinem gesamten Lebensweg, den Lewinksy episodenhaft erzählt. Besonders gelungen ist der Beginn, wo sich Louis' Geburt direkt an eine einleitende Beerdigunsszene anschließt. Selten lagen in der Literatur Tod und Geburt so nah beieinander.

Ständig tauchen im Anschluss neue Nebenfiguren auf, die für Louis' Werdegang mal mehr, mal weniger wichtig sind. Gerade in Louis' Kindheit fühlte ich mich dadurch häufig an die Serie "Sans Famille" nach dem Roman von Hector Malot erinnert. Und so schnell, wie die Charaktere auftauchten, sind sie auch schon wieder verschwunden, denn Lewinsky legt ein fast schon abenteuerlich schnelles Erzähltempo vor. Dies ist sogleich Vor- und Nachteil des Buches. Einerseits sorgt das temporeiche Erzählen für kurzweilige und spannende Unterhaltung, doch andererseits fehlt den Nebenfiguren dadurch auch ein wenig Tiefe. Man ist geneigt, sie recht schnell wieder zu vergessen. Sprachlich gestaltet sich der Roman in diesen Phasen relativ einseitig. Kurze pointierte Hauptsätze wechseln sich vor allem mit Dialogen ab.

An zwei Stellen experimentiert Lewinsky mehr mit der Sprache und entwickelt sogleich etwas Rauschhaftes. In einer Nahtoderfahrung Louis' verschwimmen plötzlich die Grenzen des linearen Erzählens und all seine Erinnerungen wirbeln nicht nur den Helden durcheinander, sondern auch die Leser:innen, die blitzlichtartig gewisse Dialoge und besonders wichtige Stellen noch einmal und dadurch Louis' Rausch selbst miterleben. Eine sehr gelungene Extravaganz, von denen ich mir durchaus mehr gewünscht hätte.

Dennoch ist "Sein Sohn" alles andere als eine Enttäuschung. Die Geschichte ist spannend genug, um die knapp 400 Seiten zu tragen, vermutlich hätte sie selbst die doppelte Seitenanzahl gut ausgefüllt. Denn ein echter Lewinsky langweilt eben nie - und erzählt jedes Mal etwas ganz Neues.

Bewertung vom 15.09.2022
Das Mädchen auf der Himmelsbrücke
Manner, Eeva-Liisa

Das Mädchen auf der Himmelsbrücke


gut

Finnland, Anfang der 1930er-Jahre: Die kleine Leena ist traurig. Wieder einmal hat ihr die verhasste Lehrerin eine Strafarbeit aufgedrückt. Die Neunjährige soll abends alleine nachsitzen. Dabei versteht sie gar nicht, was sie schon wieder falsch gemacht haben soll. Das Mädchen, dessen Mutter tot und dessen Vater irgendwo im Ausland lebt, wächst bei ihrer Großmutter auf und hat sich das Lesen und Schreiben selbst beigebracht. Leena fühlt sich unverstanden und unendlich einsam. Als sie aus der kleinen katholischen Kirche plötzlich Orgelmusik von Bach hört, nimmt ihr junges Leben eine unerwartete Wendung und die Grenzen zwischen kindlicher Fantasie und erwachsener Realität verschwimmen bis zur Unkenntlichkeit...

Der Guggolz Verlag hat sich in den letzten Jahren in Deutschland vor allem einen Namen gemacht, weil es ihm gelang, fast schon vergessene Autor:innen wieder in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und ihnen dadurch zumindest im Nachhinein noch den verdienten Ruhm zukommen zu lassen. Insbesondere die Romane "Die Vögel" und "Das Eis-Schloss" des Norwegers Tarjei Vesaas dürften die Leser:innen nicht so schnell vergessen. Mit ihren liebevollen Covern, der schönen Gestaltung und den sorgfältigen Nachworten avancierten die Romane zu Lieblingsbüchern vieler Buchfreund:innen.

Auch Eeva-Liisa Manners "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke", das nun erstmals in der deutschen Übersetzung aus dem Finnischen von Maximilian Murmann bei Guggolz erschienen ist, sticht mit seinem Wiesen-Kerbel-Cover sofort ins Auge und passt ganz wunderbar in das Verlagsprogramm. Manner (1921 - 1995) veröffentlichte ihren Debütroman im Jahre 1951. Abgerundet wird die Edition durch ein Nachwort der letztjährigen Buchpreis-Gewinnerin Antje Rávik Strubel.

Ein Kind, welches durch die Musik von Johann Sebastian Bach gerettet wird. Nicht wenige Leser:innen dürften sich durch dieses existenzielle Ereignis an James Rhodes' schwer verdauliches, aber umso lesenswerteres Buch "Der Klang der Wut" von 2016 erinnert fühlen. Während der junge James den Missbrauch durch den Sportlehrer nur dank Bachs "Aria" aus den Goldberg-Variationen überlebte, ist es hier eine Fuge, die der kleinen Leena den Weg weist.

Doch bevor es dazu kommt, nimmt "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" die Leser:innen zunächst sehr von sich ein. Nicht von ungefähr beginnt der Roman mit den Worten "Es war einmal", und dieser märchenhaft-poetische Tonfall zieht sich durch die Lektüre wie der kleine Fluss durch den Handlungsspielort. Neben der Heldin Leena gibt es mit der Lehrerin wie im Märchen eine klassische Antagonistin. Tieftraurig und melancholisch leidet man als Leser:in mit dem Kind und freut sich, als sich in der Bach-Musik endlich ein Fenster der Hoffnung für sie öffnet.

Gut für Leena, aber schlecht für den Roman, mag man etwas despektierlich denken. Denn tatsächlich ist diese Schlüsselbegegnung auch für das Buch ein Wendepunkt. Leena trifft nämlich auf den blinden Orgelspieler Filemon, und der Mann versucht in der Folge, auf sage und schreibe 20 der gerade einmal 130 Seiten Leena in einem hochphilosophischen Dialog das Leben und die Welt zu erklären. Filemon ist dabei dermaßen überzeichnet und schrullig, dass er nicht nur der ebenfalls anwesenden Nonne fürchterlich auf die Nerven geht.

Das Buch verlässt an dieser Stelle die Ebene eines Romans mit klassischer Erzählstruktur, sondern löst Handlung und Sprache fast schon experimentell auf. Genau wie Leena verschwimmen auch bei der Leserschaft die Grenzen zwischen Fantasie und Realität. Mehr als einmal fragte ich mich, was nun auf der Handlungsebene "wahr" ist und was nicht. Und auch der Erzähler, der sich von Beginn an komplett auf die kindliche Sicht seiner Heldin einlässt, fängt plötzlich an, unstrukturiert oder in Kinderreimen zu erzählen. In der zweiten Hälfte spürt man dadurch sehr stark, dass Eeva-Liisa Manner eigentlich aus der Lyrik kommt. Dem Roman gelang es bis zum ethisch etwas fragwürdigen Ende leider nicht mehr, mich u

Bewertung vom 13.09.2022
Eine Liebe
Mesa, Sara

Eine Liebe


gut

Als Natalia ihre neue Unterkunft in dem spanischen Dörfchen La Escapa bezieht, ahnt sie noch nicht, welche Folgen das für sie und ihre Arbeit als Übersetzerin haben wird. Beim unsympathischen Vermieter eckt sie ohnehin an, weil sie sich seiner Meinung nach zu stark über die zahlreichen Mängel des heruntergekommenen Hauses beschwert. Doch auch zu den anderen Dorfbewohner:innen findet sie - mit Ausnahme von Althippie Píter - kaum Zugang. Als Starkregen einsetzt, nimmt das Unheil seinen Lauf, denn das verwitterte Dach hat viel zu viele undichte Stellen. Und so sieht auch Natalia ihre Felle langsam aber sicher davonschwimmen...

Sara Mesas neuer Roman "Eine Liebe", der in der Übersetzung von Peter Kultzen jetzt bei Wagenbach erschienen ist, war in Spanien ein Bestseller und wurde dort 2021 mit dem Preis des unabhängigen Buchhandels ausgezeichnet. Durchaus überraschend, denn das Buch ist recht schwer verdaulich und wird die Leserschaft wahrscheinlich spalten.

Bereits in Mesas wunderbarem Debütroman "Quasi" erzählte die Autorin die Geschichte zweier Außenseiter:innen, schaffte es aber durch ihre enorme Empathie, die Figuren in die Herzen der Leser:innen zu schreiben. Bei "Eine Liebe" gelingt ihr das nicht, soll es wohl aber auch gar nicht, denn Nat - so der Spitzname der Protagonistin - ist eine ambivalente Figur, die mit ihrer Passivität und permanenten Unzufriedenheit durchaus zu nerven weiß.

Dabei ist der Auftakt des Buches verheißungsvoll. Mesa beschreibt die neue ungewohnte Umgebung so plastisch, dass man das Gefühl bekommt, alles durch Nats Augen sehen und hören zu können. Die ländlichen Geräusche in der Nacht, der Geruch des modernden Holzes und der bedrohlich über La Escapa wachende Berg - Mesa zieht die Leser:innen mit großer Unmittelbarkeit in die Handlung hinein. Auch die Figuren wirken zunächst gelungen. Die dörfliche Dynamik sorgt mit ihren merkwürdigen Charakteren für eine subtile Spannung und man spürt genau wie Nat eine permanente Bedrohung. Warum Natalia diesen Ort ausgewählt hat, um ihrer Vergangenheit zu entfliehen, bleibt dabei unklar. Doch man bekommt das Gefühl, dass das Dorf nicht ohne Grund "La Escapa" heißt und mehr als deutlich auf Fluchtgedanken, auf ein Ausbrechen aus dem bisherigen Leben hinweist. Die Bewohner:innen, die vornehmlich mit ihren Spitznamen "der Hippie", "der Deutsche", "der Dicke" oder "die Hexe" eingeführt werden, scheinen jedenfalls alle ihre Gründe für das Leben an diesem unwirtlichen Ort zu haben.

Mit einem veritablen Spannungsbogen beendet Sara Mesa den ersten ihres aus drei Teilen bestehenden Romans, erfüllt jedoch die daraus resultierenden hohen Erwartungen im Rest des Buches leider nicht. Denn der zweite Teil befasst sich fast ausschließlich mit einer wahrlich ungewöhnlichen Beziehung, die Nat mit einem der Dorfbewohner eingeht und die wohl Grundlage des Romantitels ist. Doch von Liebe ist nichts zu spüren, vielmehr schildert die Autorin eine eher dysfunktionale Abhängigkeit, die sich auch stilistisch recht eintönig liest. Ständig schlüpft der Erzähler in die Hauptfigur und nervt nicht nur Nat, sondern auch die Leser:innen mit permanenten Fragen an sich selbst. Die Hintergründe dieser Beziehung erschließen sich dabei nicht, da Natalia zwar urteilt und behauptet, man selbst aber einfach keinen Zugang zu den Charakteren findet.

Und auch das Ende enttäuscht mit einer gewissen Unterkomplexität und spürbaren Lustlosigkeit. Während die Abneigung und Negativität der Dorfbewohner:innen gegenüber Nat deutlich zunehmen und auch für die Leser:innen fast unerträglich werden, erstreckt sich die Lösung auf gerade einmal einer halben Seite. Dadurch bleiben viel zu viele Fragen im Raum, auf die keine befriedigenden Antworten gefunden. Nicht einmal über Natalias Vergangenheit erfahren wir - bis auf eine erschreckend klein gehaltene Missbrauchserfahrung aus der Kindheit - gar nichts. Und auch die Figuren selbst lassen kaum eine Entwicklung erkennen.

So ist "Eine Liebe" ein nur in Tei

Bewertung vom 08.09.2022
Der Klang der Erinnerung
Browning Wroe, Jo

Der Klang der Erinnerung


sehr gut

Birmingham, 1966: Als den jungen William die Nachricht eines furchtbaren Unglücks im walisischen Dörfchen Aberfan erreicht, steht für ihn sofort fest, dass er dorthin will, um zu helfen. Denn soeben ist er der Familientradition gefolgt und hat seinen Abschluss als Einbalsamierer gemacht und bei den 144 Toten, die durch einen Haldenrutsch ums Leben gekommen sind, wird jede tatkräftige Unterstützung benötigt. Doch was macht das mit einem gerade einmal 19-Jährigen, mit einem solchen Schicksal konfrontiert zu werden - gerade da es sich bei der großen Mehrheit um tote Schulkinder handelt? Und welche Verbindung hat William zu Allegris "Miserere", das er sich im Radio kaum anhören kann? Darüber berichtet Jo Browning Wroe in ihrem Debütroman "Der Klang der Erinnerung".

"A Terrible Kindness" heißt das Buch im englischen Original und warum man daraus einen deutschen Titel mit zwei Substantiven, die durch den Genitiv miteinander verbunden sind, machte, erschließt sich mir nicht. Zu austauschbar wirkt dieser Titel, zu abgenutzt und beliebig, als dass er hängen bleiben könnte. Dabei ist der Bestseller aus England durchaus erinnerungswürdig.

Browning Wroe erzählt in ihrem Debüt nämlich so souverän und warmherzig und mit einer solch großen Empathie für ihre Figuren, dass sich der "Klang der Erinnerung" fast wie ein warmer Mantel um die Leserschaft legt. Hört man sich dazu die in dem Roman vorkommenden Chorstücke an, die eine zentrale Rolle spielen, können einen die Emotionen schon einmal überwältigen.

So geht es auch William Lavery, liebenswerter Protagonist des Buches. Ausgehend von der historisch belegten Aberfan-Katastrophe, begleiten die Leser:innen diesen William auf dessen Weg zum Erwachsenwerden. Die Autorin springt kunstvoll und gelungen zwischen den Zeiten hin und her. Mal erleben wir William in Aberfan, über eine weite Strecke erkennen wir in ihm einen äußerst begabten Chorknaben in Cambridge, dann erzählt Browning Wroe vom Beginn seiner Einbalsamierer-Ausbildung. William ist dabei der absolute Fixpunkt, keine Szene kommt ohne ihn aus. Das Vertrauen und die Empathie, die Browning Wroe in diese Figur setzt, zahlen sich aus, denn lange habe ich keinen Roman mehr gelesen, in dem ein solch hohes Identifikationspotenzial mit der Hauptfigur besteht. Natürlich macht William auch Fehler - nicht wenige gar - doch als Leser:in ist man immer bereit, ihm zu verzeihen und mit ihm auf einen guten Ausgang zu hoffen.

Ein weiterer Pluspunkt des Romans ist das Setting. Chorknaben- und Internatsromane hat man schon häufiger gelesen, wie zuletzt beispielsweise "Edinburgh" von Alexander Chee, doch durch die Verbindung zum Berufsbild der Einbalsamierer und Bestatter gelingt Browning Wroe eine bemerkenswerte Liaison. Dabei spürt man jederzeit, wie gut die Autorin über dieses Berufsbild informiert ist, stammt sie doch selbst aus einer Bestatterfamilie in Birmingham. Auch sprachlich überzeugt das Buch, denn trotz des recht konventionellen Stils findet Browning Wroe immer wieder passende Vergleiche, die dem Roman einen melancholischen Unterton geben.

Was den Figuren hingegen ein wenig fehlt, sind die Ecken und Kanten. Über weite Strecken des Romans begegnet man eigentlich nur Sympathieträger:innen. Sei es Williams bester Freund Martin auf dem Internat, seine Liebe Gloria oder sein Onkel Robert, der sich seit dem Tod von Williams Vater rührend um den kleinen Jungen kümmert. Ambivalent wirkt lange Zeit nur Mutter Evelyn, die sich mit Williams Bindung zu Robert und dem Bestattungsinstitut nicht abfinden mag und aus ihm unbedingt einen Sänger machen möchte. Erst im letzten Drittel taucht mit Ray Price, Williams Kollegen in der Ausbildung, eine weitere Figur auf, bei der man sich nicht sicher ist, ob man sie mögen soll oder nicht.

Und letztlich überträgt sich diese fehlende Ambivalenz leider auch auf das Finale des Romans. Während ich mich die ganze Zeit fragte, warum William den Kontakt zu seiner Mutter abbrach und ob sich die in die Brüche ge

Bewertung vom 02.09.2022
Dieser Beitrag wurde entfernt
Bervoets, Hanna

Dieser Beitrag wurde entfernt


gut

Für das Subunternehmen Hexa begibt sich Kayleigh in die dunklen Ecken der Sozialen Medien. Sie sichtet verstörende Videos und Bilder und muss in Sekundenschnelle darüber entscheiden, ob diese den Nutzer:innen der Plattform zuzumuten sind oder gelöscht werden müssen. Mit zunehmender Dauer spürt auch sie die Auswirkungen dieser Arbeit auf sich selbst und ihre Kolleg:innen. Was macht es mit einem Menschen, wenn er tagtäglich mit Gewalt, Blut und Tod konfrontiert wird? Wie kann ein solcher Mensch leben? Kann er überhaupt leben? Darüber schreibt Hanna Bervoets in ihrem neuen Roman "Dieser Beitrag wurde entfernt".

Ob Julia von Lucadou, Berit Glanz oder Delphine de Vigan: Der Umgang mit den Sozialen Medien und seine Folgen finden immer stärker Einzug in die Gegenwartsliteratur. Folgerichtig, denn niemals zuvor wurde das gesellschaftliche Leben so stark geprägt durch Digitalisierung und durch virtuelle Kontakte.

Hanna Bervoets' Roman besticht zunächst einmal durch seine Knappheit von gerade einmal gut 100 Seiten. Trotz dieser Kürze gelingt es ihr durchaus, vor allem auf den ersten Seiten Intensität bei der Leserschaft zu erzeugen. Denn natürlich möchte man auch als Leser:in die Frage beantwortet bekommen, die der erste Satz mit großer Unmittelbarkeit stellt: "Und was hast du alles so gesehen?"

Die Konstruktion des Textes wirkt dabei zunächst wie eine Stärke des Romans, entpuppt sich letztlich aber als Schwäche. Denn Protagonistin Kayleigh erzählt ihre Geschichte einem Anwalt, der das Unternehmen Hexa im Namen von ehemaligen Mitarbeiter:innen wegen der prekären Arbeitsbedingungen verklagen möchte. Kayleigh erklärt in ihrer Antwort auf den Anwalt, warum sie sich der Klage nicht anschließen möchte. Dieser auf den ersten Blick aufregend wirkende Kunstgriff wird seiner inhaltlichen Ausführung aber nicht gerecht, denn am Ende bleibt man verwundert zurück und fragt sich, warum ausgerechnet dieser Mensch Kayleighs Geschichte erfahren sollte.

Dennoch ist vor allem das erste Drittel des Buches gelungen. Die Leser:innen erhalten einen unverstellten und - wie man anhand der Literaturliste am Ende des Romans erkennen kann - sehr gut recherchierten Blick in die völlig fremde Arbeitswelt einer Social Media-Moderatorin. Man spürt den psychologischen und den zeitlichen Druck, schüttelt den Kopf über die verknappten Arbeitspausen und über die unsäglichen Regularien, nach denen die Menschen entscheiden müssen, was der Gesellschaft noch zuzumuten ist.

Mit Voranschreiten des Romans wird aus dieser Arbeitswelt-Geschichte aber zunehmend ein queeres Liebesdrama. Hier verschenkt Bervoets in meinen Augen das große Potenzial der Geschichte, denn es wird viel zu viel masturbiert, getrunken, gefeiert und gekifft. Mutig daran ist, wie selbstverständlich die Autorin dabei über weibliche Sexualität schreibt, wie offenherzig auch über den Umgang mit Pornographie fabuliert wird. Dennoch hat mich das Buch in diesen Abschnitten verloren, da ich in dieser Ausführlichkeit nicht das Bedürfnis hatte, die intimen Geständnisse so zu erfahren.

Ein weiterer Nachteil ist, dass die Figuren mit Ausnahme von Ich-Erzählerin Kayleigh recht blass bleiben. Aufgrund von Kayleighs Schilderungen erfährt man zwar zahlreiche Details über ihre toxischen Liebesbeziehungen und Freundschaften, doch letztlich fehlte mir durch diese einseitige Darstellung die Tiefe der Charaktere.

Im Finale findet Hanna Bervoets glücklicherweise zur Stärke des Beginns zurück. Sie baut einen wahrlich überraschenden Twist ein, der einen fast dazu verleitet, den Roman noch einmal von Beginn an lesen zu wollen - unter neuen Aspekten.

Insgesamt ist "Dieser Beitrag wurde entfernt" ein recht lesenswerter knapper und äußerst moderner Roman, dessen großes Potenzial aber nur in den seltensten Momenten vollends ausgeschöpft wird. Eine große Aufmerksamkeit sollte ihm durch seine Aktualität und das bewusste Polarisieren aber dennoch gewiss sein.

Bewertung vom 31.08.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


gut

In der Familie Mohn trauert jeder anders um die verstorbene Mutter Johanne. Der älteste Sohn Steve rauscht auf seinem Skateboard durch die Straßen, den kleineren Micha überfällt eine große Leere und Schwester Linne lässt ihrem Zorn durch Gewalt auf dem Schulhof freien Lauf. Familienvater Adam scheint überfordert, denn auch sein Herz ist seit dem Tode seiner Frau zerbrochen. Auf Unterstützung durch die Umgebung kann die Familie dabei nicht hoffen, denn diese reagiert zunehmend mit Unverständnis und Verärgerung. Als der Trauerbeamte Ginster sich der Familie annimmt, scheint deren Leben vollends aus den Fugen zu geraten...

Vor gerade einmal einem Jahr überraschte Stefanie vor Schulte mit ihrem wunderbaren Debütroman "Junge mit schwarzem Hahn", führte die Leser:innen darin in eine düstere Märchenwelt und erhielt folgerichtig den Mara-Cassens-Preis für das beste deutschsprachige Debüt. So seltsam, so anders klang das im Vergleich zu anderen Werken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Nun findet man diese Andersartigkeit zwar auch in ihrem jüngst erschienenen Nachfolgewerk "Schlangen im Garten", doch letztlich ist dieser Roman im Vergleich zum Debüt eine Enttäuschung. Dabei ist der Schreibstil durchaus ähnlich und auch thematisch lassen sich Parallelen zum "Jungen" finden. In beiden Werken setzt vor Schulte auf kurze, prägnante Sätze, auf Satzfragmente. In beiden Romanen geht es vorrangig um trauernde Kinder, die zu gesellschaftlichen Außenseitern werden. Und in beiden Büchern spielt die Tiersymbolik eine entscheidende Rolle. Was im Debüt noch der schwarze Hahn als treuer Begleiter des Protagonisten war, sind hier Schlangen, die die Familie abstrakt und konkret bedrohen. Eine weitere Gemeinsamkeit sind die fantastischen Elemente, die das Debüt durchweg durchziehen und in "Schlangen im Garten" erst nach und nach zum Einsatz kommen.

Doch anders als im Vorgänger gelingt es Stefanie vor Schulte diesmal nur in Ansätzen, mit dieser dunklen Geschichte zu berühren. Der Hauptgrund ist die Figurenkonstruktion. Die Familie Mohn bleibt vage und versteckt sich hinter zahlreichen poetischen Vergleichen, die mir keinen Zugang zu ihr gewährten. Die Protagonist:innen lassen sich gar den Rang ablaufen von einigen der zahlreich auftretenden äußerst skurrilen Nebenfiguren. Die gelungenste unter ihnen ist wohl Bille, eine Obdachlose, die mit ihrem Einkaufswagen und einem fiktiven Hund durch die Straßen spaziert und sich ganz nebenbei als Retterin oder Schutzengel des Familienvaters Adam präsentiert.

Nicht gefallen haben mir zudem die deutlich überzogenen Reaktionen aus dem Umfeld der Mohns. Wohl keiner von ihnen hat das Buch "Im Grunde gut" von Rutger Bregman gelesen, denn sie allesamt repräsentieren fast ausschließlich das Schlechte im Menschen. Zusammen mit den immer fantastischer und unrealistischer werdenden Handlungen sorgten sie dafür, dass ich im letzten Drittel des Romans das Gefühl bekam, die eigentliche Geschichte der Familie mit einhergehender Gesellschaftskritik entgleite der Autorin. Wenn von "Blutegelfrauen", "Beinfriedhöfen" und "Drachenausgrabungen" gesprochen wird, bleibt leider kaum noch Raum für Familie Mohn. Ihre Trauer schien nur noch ein Begriff zu sein, wurde nur noch behauptet, stand aber gar nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses.

Auch sprachlich bleibt das Werk deutlich hinter dem "Jungen" zurück, die Dialoge sind zum Teil ärgerlich. "Seit wann hast du denn Schnurrbart, Steve!", fragt Nebenfigur Marlene in einer besonders schwachen Szene. "Angespannt und verklemmt wie zu Termin", heißt es an einer anderen Stelle. Da die Autorin in ihrem poetischen Stil ansonsten jedes Wort auf die Goldwaage legt, hätte ich hier doch etwas mehr Anspruch erwartet.

Dennoch bietet auch "Schlangen im Garten" wirklich gute Momente, in denen die bekannten Fähigkeiten vor Schultes aufblitzen. So kramt Familienvater Adam in der wohl stärksten Szene des gesamten Romans in den Erinnerungen fremder Menschen, indem er die Habseligk

Bewertung vom 08.08.2022
Tristania
Kurtto, Marianna

Tristania


sehr gut

Oktober, 1961: Als auf der kleinen südatlantischen Insel Tristan da Cunha der Vulkan ausbricht, geht es für die Menschen dort nicht nur um die Rettung ihrer eigenen Leben. Denn zusammen mit der Lava brechen Geheimnisse und Gefühle hervor, die fast genauso lange unter der Oberfläche brodelten wie das bedrohliche Magma. Im Epizentrum des Ausbruchs: Lehrerin Martha, ihre Nachbarin Lise und deren nach England geflohener Mann Lars sowie Jon, Lises und Lars' Sohn.

Wer den Namen "Tristania" liest, erinnert sich zunächst vielleicht an die gleichnamige norwegische Gothic Metal-Band, die um die Jahrtausendwende in der Szene mit einigen gutklassigen Alben durchaus Beachtung fand. Was den Debütroman der finnischen Autorin Marianna Kurtto mit dieser Band verbindet, ist der traurige Grundton, der sich wie ein glühender Lavastrom durch die 300 Seiten bewegt. Die zweite Auffälligkeit betrifft den Übersetzer Stefan Moster, der sich in für ihn nicht unbekannten Gefilden bewegt. Denn schon im letzten Jahr reiste Moster für den mare-Verlag literarisch auf eine Insel des Südatlantiks und begleitete in Olli Jalonens herausragendem Roman "Die Himmelskugel" den kleinen Angus auf St. Helena.

Gleich zu Beginn fällt den Leser:innen die poetische Sprache auf, die Kurtto im Prolog genial einsetzt, um die Wellen vor Tristan auf die Suche nach menschlichem Leben nach dem - übrigens historisch belegten - Vulkanausbruch zu schicken. Diese Poesie behält sie für den Rest des Romans bei, wobei der Einsatz nicht immer gleichermaßen gelungen ist. Schöne und treffende Bilder wechseln sich mit bemüht wirkenden Vergleichen ab. Zudem verhindert die etwas artifiziell wirkende Sprache eine nähere Verbindung zu den Figuren.

Meisterlich ist hingegen die Komposition des Romans. Insbesondere bei der Figurenentwicklung gelingt es Kurtto, mit den Erwartungen der Leserschaft zu spielen und ihr immer wieder den Spiegel vorzuhalten, um festgelegte Vorurteile zu hinterfragen und wieder über den Haufen zu werfen. Dies gelingt ihr durch die verschiedenen Perspektiven der Charaktere. Wir folgen den Ich-Erzählern Jon und Lars und lassen uns von einem personalen Erzähler durch die Gedankenwelten von Martha und Lise begleiten. Doch Kurtto belässt es nicht bei den Protagonist:innen, sondern spielt dieses Spiel bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein. So entpuppt sich eine eigentlich schwache Figur als eigentliche Heldin, während ein vermeintlich rechtschaffener Charakter das vielleicht dunkelste Geheimnis hütet.

Sehr gut hat mir zudem die Empathie der Autorin für ihre Figuren gefallen. Zwar schickt sie sie auf eine melancholische und traurige Reise, schenkt ihnen aber immer auch Hoffnung und zarte Momente des Glücks. Ganz erstaunlich ist auch, wie es Kurtto gelingt, trotz des durchweg ruhigen Erzähltempos gerade in der zweiten Hälfte des Romans eine intensive und hochdramatische Spannung zu erzeugen.

Nun ist es schwer, diese Rezension zu verfassen, ohne auf das Finale einzugehen. In der Tat ist es am besten, sich auf dieses einzulassen und vorher so wenig wie möglich darüber zu wissen. Nur so viel sei gesagt: Es gibt einen wahrlich dramatischen Wendepunkt in der Geschichte, der die Leserschaft spalten und ungläubig zurücklassen wird. In der jüngeren Literatur hat zuletzt vielleicht Alex Schulman mit "Die Überlebenden" für einen ähnlichen Effekt gesorgt.

Insgesamt ist "Tristania" ein lesenswerter und gelungener Roman mit bemerkenswerter Figurenkonzeption und einem traurig-leisen und dennoch hochspannenden Plot, der allerdings sprachlich manchmal zu viel will und im Finale aufgrund eines Überraschungseffekts ein wenig an Glaubwürdigkeit einbüßt. Um in eine passende melancholische Stimmung zu kommen, lesen Sie zur Einstimmung auf den Roman am besten den wunderbaren Prolog - und hören ganz nebenbei einmal "Beyond The Veil", das wohl beste Album von Tristania aus dem Jahre 1999.

Bewertung vom 05.08.2022
Der Schrank
Sailer, Simon

Der Schrank


sehr gut

Als die Möbelpackerin Lena Kovac gemeinsam mit ihren Kollegen Yilmaz und Korni einen antiken Schrank innerhalb Wiens transportieren muss, ahnt sie noch nicht, dass dieser Auftrag ihrem Leben eine entscheidende Wendung geben wird. Erst als in ihrer Umgebung immer mehr Tiere und immer weniger Menschen auftauchen, beginnt sie, an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln. Was will bloß dieser Schwan von ihr, der sich kaum aus ihrem Lieferwagen vertreiben lässt? Und was hat es mit der rätselhaften Perle auf sich, die Lena in einem der vier Schrankfüße findet?

Nach "Die Schrift" (2020) und "Das Salzfass" (2021) bringt der österreichische Schriftsteller Simon Sailer seine "Essiggassen-Trilogie" zu einem würdigen Finale. Dabei erhält er mehr denn je die kongeniale Unterstützung des Illustratoren Jorghi Poll, dessen Bilder die drei Bände aus dem Hause der "Edition Atelier" längst zu bibliophilen Perlen im Bücherregal haben werden lassen.

Den Menschen, die sich aus unerklärlichen Gründen bisher noch nicht auf den literarischen Spuren der Wiener Essiggasse bewegt haben, sei gesagt, dass sich alle drei Bücher völlig unabhängig voneinander lesen lassen, da sie nur lose durch den Spielort miteinander verbunden sind. Auch Neueinsteiger:innen können Lena und ihren Kollegen also völlig problemlos beim Transport des Schranks behilflich sein.

Während die eigentliche Handlung der Erzählung am Anfang ein wenig Zeit benötigt, um in Fahrt zu kommen, funktioniert die Figurenkonzeption gleich von Beginn an. Nach Leo Buri und Maurice Demel gibt es mit Lena Kovac im finalen Teil der Trilogie erstmals eine weibliche Hauptfigur. Lena ist eine starke Protagonistin, die die Sympathien der Leserschaft sogleich auf sich ziehen sollte. Sie überzeugt nicht nur als resolute Frau in einem Männerberuf, sondern scheint auch ihre Beziehung mit ihrem Freund Hakan jenseits von Geschlechterklischees zu führen.

Spätestens mit dem Auftauchen des Schranks beginnt die Erzählung, sich in die Sphären der Phantastik zu begeben, so wie wir es auch schon von der "Schrift" und dem "Salzfass" kannten. Simon Sailer findet die Balance zwischen Komik und Tragik, zwischen Blade Runner-Origami und Endzeit-Dystopie. Eine große Rolle spielen dabei zahlreiche Tiere, an deren seltsamen Verhaltensweisen wohl auch Bernhard Grzimek seine Freude gehabt hätte. Seien es Tauben, die eine verlassene Straßenbahn bevölkern, kuschelnde Dachse in einem Wohnzimmer oder ein Schwan, der sich partout nicht aus Lenas Lieferwagen verdrängen lassen will.

In diesen Momenten erinnert "Der Schrank" nicht von ungefähr an Kafkas "Verwandlung" und zeigt zudem, wie ein Roman wie "Die Verwandelten" von Thomas Brussig hätte funktionieren können, wenn ein Autor seine Figuren ernst nimmt.

Das eigentlich Überraschende an dem Buch ist aber, wie politisch und sozialkritisch es geworden ist. Denn letztlich sind es die prekären Arbeitsbedingungen von Lena und ihrem Team, die ebenso im Mittelpunkt des Geschehens stehen, wie ein übergreifender Blick auf den Umgang mit Tieren und Tierrechten allgemein. Wenn sich Pferde aus den Wiener Fiakern befreien und eine Frau, die durch ihren Trab an ein Pferd erinnert, zu Lena sagt: "Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus", benötigt es kaum noch das schief an der Wand hängende Bild namens "Tierrechte"in der Mitte des Bandes, um in dem Buch auch einen Kommentar zur aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation zu erkennen. Zwar standen auch schon in den ersten beiden Bänden Themen wie "soziale Isolation" oder "Streben nach Besitz" im Fokus, doch so deutlich wie "Der Schrank" setzte wohl keiner der anderen diese Signale.

Dass ich das Finale der Essiggassen-Trilogie dennoch nicht ganz so intensiv empfunden habe wie die beiden Vorgänger, liegt vor allem daran, dass mich diese noch mehr überraschen konnten. Gerade "Das Salzfass" konnte mich in seiner Mischung aus wirklich gelungenen Figuren und seiner grotesk-gruseligen und unheimlich komischen Handlung noch ein Stück