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Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 23.02.2021
Aus der Mitte des Sees
Heger, Moritz

Aus der Mitte des Sees


sehr gut

Glaube und Liebe
Lukas ist fast vierzig und lebt als Mönch in einem Kloster. Die meisten seiner Mitbrüder sind schon sehr alt. Der einzig junge neben ihm hat sich gerade für ein Familienleben entschieden somit gegen das Kloster. Lukas ist nun selbst am Zweifeln, erst recht als ihm eine attraktive Frau begegnet.

Beim Lesen begleiten wir Lukas in seinen Gedanken, die hier immer dann eingefangen werden, wenn er im nahen See schwimmen geht. Dort ist er allein, kann sein Denken fließen lassen. Zunächst nahm ich Lukas‘ Neid wahr, auf seinen Freund Andreas, der sich für Frau und Kind entschieden hat. Er blickt auf ihr Glück, kann es ihnen so recht nicht zugestehen. In meiner Wahrnehmung fühlt er sich betrogen. Erst als ihm Sarah begegnet, mischen sich andere Gefühle in seine Gedankenwelt.

In diesem Roman mochte ich den Rückzugsort, den See mit dem Steg, der auch das Cover ziert. Eigentlich hatte ich Stille und Besinnlichkeit in Bezug auf das Klosterleben erwartet. Doch auch hier gab es Stresssituationen, dazu die Unruhe durch die Kurzzeitbewohner des Gastflügels. Was ich vom Kloster erwartet hatte, erfüllte der See. Innerliche Ruhe finden, während der Blick über die Wasseroberfläche schweift. Die innere Mitte finden in der Konzentration auf die Atmung beim Schwimmen. Das war schon sehr glaubwürdig beschrieben. Von einem Gastaufenthalt könnte ich mich sogar überzeugen lassen.

Hegers Schreibstil, der durch seine ungewöhnliche Wortstellung auffällt, hielt mich trotzdem bis zum Schluss in gewisser Distanz zum Klosterleben. Er hatte etwas passend Sakrales an sich, dem ich recht ehrfurchtsvoll gegenüberstand, auch mit Bewunderung, den ich allerdings nicht im Ansatz in eigenen Sprachgebrauch überführen vermag. Gekonnt verschmolzen Sprache und Umgebung regelrecht miteinander.

Die zeitliche Ausdehnung der Reflexionen des Protagonisten wie auch die Reflexionen an sich haben mir gut gefallen. Sie stellen für mich etwas dar, was in unserer schnelllebigen Welt vom Aussterben bedroht zu sein scheint. Gern empfehle ich „Aus der Mitte des Sees“ allen, die auch gern mal abseits des Mainstreams lesen.

Bewertung vom 16.02.2021
Die Mitternachtsbibliothek
Haig, Matt

Die Mitternachtsbibliothek


sehr gut

Zwischen Leben und Tod
Matt Haig hatte mich 2018 mit seinem Roman „Wie man die Zeit anhält“ unendlich begeistert. Seine Betrachtungsweise des Übernatürlichen zog mich magisch an, war sehr faszinierend für mich. Mit einer ähnlichen Erwartung startete ich mein Leseerlebnis mit seinem neuen Werk, „Die Mitternachtsbibliothek“.

Nora Seed macht das Leben überhaupt keinen Spaß mehr. Nachdem die sozialen Kontakte ihrer Schulzeit in alle Welt zerstreut sind, verliert sie ihren Job im Plattenladen. Als dann noch ihre Katze stirbt, empfindet sie nur noch Einsamkeit und Verzweiflung. Ihr Leben scheint lediglich eine Aneinanderreihung von verpassten Chancen und falschen Entscheidungen zu sein, die reinste Qual. Nora beschließt, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Statt ins Jenseits hinüber zu driften, landet Nora Seed in der Mitternachtsbibliothek, wo sämtliche alternative Leben als Bücher in den Regalen stehen.

In dieser Ebene zwischen Leben und Tod wartet Matt Haig mit philosophischen Gedanken auf. Was braucht ein Leben, um lebenswert zu sein? Kann es Glück ohne Unglück geben? Welchen Preis sollte man bereit sein zu zahlen, um seine Ziele zu erreichen? Was will man eigentlich wirklich? Tut man das, was man tut, weil es von einem erwartet wird oder weil es tatsächlich dem eigenen Wunsch entspricht? Der Autor verpackt diese Fragen in die potenziellen Leben der Protagonistin. Die Beantwortung überlässt er weitestgehend den Leser*innen. Dennoch gibt er Denkanstöße zur Orientierung in unserem modernen Leben, das uns schier unendliche Möglichkeiten bietet, die aber unmöglich alle nutzbar sind. Man muss sich eben entscheiden, zwischen Alternativen abwägen, Fehler machen.

Was thematisch komplex klingt oder vielleicht ein bisschen nach Selbsthilferatgeber, liest sich trotzdem sehr angenehm, so wie ich es eben von einem Roman erwarte. Die verschiedenen Leben, die Nora Seed durchwandert, knüpfen geschickt an die Informationen, die uns vor ihrem Suizidversuch präsentiert worden sind, an. Der Autor schreibt dicht an der bekannten Realität entlang, wodurch ich auch recht unwahrscheinlichen Alternativen Glaubwürdigkeit zugestehen konnte. Matt Haig bedient sich einer ansprechenden, nicht zu anspruchsvollen Sprache. Dadurch entstand eine Wohlfühlatmosphäre, in der ich mich gern mit seinen Gedanken beschäftigt habe. Besonders mochte ich die Parallelen zum Schachspiel, die vergleichend an einigen Stellen eingeflossen sind, sowie die Einbindung des Gedankenexperiments Schrödingers Katze.

Insgesamt hat mir „Die Mitternachtsbibliothek“, die sich irgendwo zwischen Glaube und Quantenphysik bewegt, sehr gut gefallen. Wieder war das nicht greifbare Übernatürliche, hier die Sphäre zwischen Leben und Tod, überaus interessant für mich. Gern empfehle ich den Roman weiter.

Bewertung vom 13.02.2021
Elchtage
Klingenberg, Malin

Elchtage


ausgezeichnet

Abenteuer und erste schüchterne Liebe in einem
Von dem sehr einladend wirkenden Cover habe ich mich - ähnlich wie ein Elch durch Futter - regelrecht anlocken lassen. Der sich streicheln lassende Elch ist zutraulich und kuschelig, einfach nur schön. Die Sternchen an seinem Hals ein echtes Highlight. Dazu kommt diese wohlige Stimmung durch den Lichteinfall, wo sich der Buchtitel im Wasser spiegelt. So ein wunderbares Buch muss man einfach lesen.

Johanna ist das Mädchen auf dem Bild. Obwohl sie sich über die Sommerferien nicht verändert hat, gehört sie danach irgendwie nicht mehr dazu. Ihre beste Freundin Sandra möchte jetzt lieber ihre Zeit mit den beliebten Mädchen der Klasse verbringen. Johanna sei ihr zu langweilig geworden, behauptet sie. So verbringt die Naturfreundin nun allein ihre Freizeit in der einstmals gemeinsamen Hütte im Wald. Doch wirklich allein bleibt sie nur kurz. Eines Tages spazieren nämlich Elche an ihrer Hütte entlang, sie kommen sogar ganz dicht an sie heran, lassen sich Füttern und Streicheln. Doch diese Zutraulichkeit bringt die Elche in Gefahr. Die Jagdsaison beginnt.

Als merkwürdige Dinge im Wald vorgehen, ist Johanna mittendrin im Abenteuer. Neue Leute treten in ihr Leben ein, darunter auch ein interessanter Junge. In kurzen Kapiteln führt Malin Klingenberg die Leser*innen durch die Geschichte. Sie nimmt die Leser*innen mit in die Wildnis, regt zum Nachdenken hinsichtlich Tierwohl und Umweltschutz an, ohne dabei oberlehrerhaft zu wirken. Darüber hinaus beschreibt die Autorin sehr einfühlsam erste, vielleicht irritierende Gefühle gegenüber jemanden, der nicht zur Familie gehört. Sie erzählt von den allerersten Schritten auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Sprachlich bewegt sie sich auf einem ansprechenden Niveau, das gleichzeitig fordert, aber nicht überfordert. Ich empfinde es für die empfohlene Altersgruppe ab 11 Jahre sehr gut geeignet.

Mir hat ganz besonders das Einfühlungsvermögen der Autorin gefallen. Etwas märchenhaft verpackt, spricht Malin Klingenberg Themen an, die die angesprochene Altersgruppe eigentlich zum Wegrennen findet. Durch das Setting entsteht eine gewisse Wohlfühlatmosphäre, die öffnet und aushalten lässt. Elchtage ist ein sehr schöner Jugendroman, den ich gern weiterempfehle.

Bewertung vom 31.01.2021
Wo wir Kinder waren
Naumann, Kati

Wo wir Kinder waren


ausgezeichnet

Das Leben mit und in der Spielzeugmanufaktur
Der in zwei Zeitebenen erzählte Roman beginnt mit der Internet-Auktion zu einer historischen Puppe von 1910, die von Albert Langbein selbst bemalt wurde. Er, der 1898 die Spielzeugmanufaktur Langbein gegründet hatte. Nun konkurrieren die Cousinen Eva und Iris im Bieterwettstreit um die Puppe, treiben den Preis sinnlos in die Höhe. Die beiden zerstrittenen Nachfahren der Langbeins sind von Neid und Missgunst geprägt, keine guten Voraussetzungen, um das alte Stammhaus ihrer Familie gemeinsam mit ihrem Cousin Jan zu entrümpeln.

So beginnt die Aktion zunächst als Tortur aus gegeneinander gerichteten Spitzen und Lästereien, weil jeder nur die Schwächen der Anderen sieht. Trotzdem nehmen sich die drei Raum für Raum vor, räumen alles aus. Dabei stolpern sie immer wieder über Erinnerungsstücke. Während der Verhandlungen darüber, was weggeworfen, verkauft oder aufgehoben werden soll, tauchen sie in die Vergangenheit ein.

Ganz automatisch nehmen die Drei die Leser*innen mit auf ihre Erinnerungsreise. Gern habe ich die Sonneberger Spielzeugmacher bei ihren Vorbereitungen für die Weltausstellung beobachtet, habe mit Erstaunen und Bewunderung die Heimarbeiter*innen und ihre Kinder bis spät am Abend an Puppenteilen werkeln sehen. Dann kamen die beiden großen Kriege und schließlich die schrittweise Zwangsenteignung. Jedes Ereignis brachte den Langbeins neue Herausforderungen, die Kati Naumann in berührender Weise schildert. Der ganze Roman unterliegt somit einer gewissen Melancholie, der jedoch stets auch ein Fünkchen Hoffnung innewohnt.

Am besten gefallen hat mir die Erinnerung an sich. Die Gute Stube mit der schweren dunklen Kredenz darin kenne ich noch, auch ein Küchensofa und die unglaubliche Sparsamkeit, als es den Leuten eigentlich schon wieder viel besser ging. Die Botengänge, wo einfach die Kinder geschickt worden, hatte ich schon fast vergessen. Darüberhinaus zauberten mir die Spontanbesuche der Nachbarn, die dann zum Unzeitpunkt Sitzefleisch entwickeln konnten, ein Lächeln ins Gesicht.

Zudem mochte ich die Ausarbeitung der Charaktere sowie deren Beziehungen untereinander. Von jedem hatte ich eine bildliche Vorstellung zu Statur, Kleidungsstil und Gesichtszügen. Ich hatte den Eindruck, sämtliche Gefühlsregungen der Protagonist*innen direkt vor mir zu sehen. Angetan war ich von der nie abreißenden Zuneigung, die lange Zeit das Zusammenleben bestimmt hatte. Selbst in den widrigsten Zeiten hatten sie sich wenigstens gegenseitig.

„Wo wir Kinder waren“ war für mich insgesamt noch bedrückender als „Was uns erinnern lässt“. Dieser erste Erinnerungsroman hatte in meiner Wahrnehmung mehr Leichtigkeit. Das habe ich hier ein wenig vermisst. Letztlich hat die etwas düstere Atmosphäre mein Lesevergnügen aber nicht eingeschränkt. Schön fand ich die Verbindung zwischen beiden über den Ausflug in die Sommerfrische ins Hotel Waldeshöh am Rennsteig.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.01.2021
Rubys Entscheidung / Pferdeflüsterer-Mädchen Bd.1
Mayer, Gina

Rubys Entscheidung / Pferdeflüsterer-Mädchen Bd.1


sehr gut

Schönes Pferdeabenteuer
Ruby zieht vom turbulenten Berlin in das ruhige Cornwall. Dabei lässt sie nicht nur ihre Freunde zurück, sondern auch ihren Reiterhof mitsamt ihrer strengen Reitlehrerin und ihrem Lieblingspferd. In Berlin wäre Ruby fast ihr erstes Turnier geritten, doch diesen Traum muss sie wohl erstmal aufgeben.

Doch auch in Cornwall ist es aufregend. Das kleine Haus, das ihre Mutter gekauft hat, ist noch eine Baustelle, am ersten Tag in der neuen Schule kommt Ruby zu spät. Obwohl Ruby schon Englisch spricht ist es doch recht anstrengend, dem Unterricht zu folgen. Zwei wichtige Fragen beschäftigen unsere Protagonistin: Wann kann ich endlich wieder reiten? und Wie finde ich schnellstmöglich neue Freunde?

Letztlich geht alles ganz schnell. In der großen Pause lernt sie sofort ein paar Klassenkameraden kennen. Die verraten ihr, dass es gleich zwei Reiterhöfe in der Nähe gibt, die Ocean Ranch und Hegarty‘s. Welchen Ruby wählt und was sie dort erlebt, ist sehr spannend.

Mit großer Schrift und recht einfacher Sprache führt uns Gina Mayer durch diesen Mädchenroman. Die Handlung ist in ihrer Komplexität angemessen für ein Lesealter von 8 Jahren. Aus meiner Sicht ist dieses Buch perfekt dafür geeignet, Erstleserinnen an das Lesen von umfangreicheren Texten heranzuführen.

Ganz toll finde ich das Miniglossar am Ende des Buches, wo den Pferdebegeisterten etwas über die Körpersprache der Pferde erklärt wird.

Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

Bewertung vom 28.01.2021
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
Schröder, Alena

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid


ausgezeichnet

Jüdische Wurzeln
Der Titel des Romans „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ mit seinen vielen Kommata hat mich gleichermaßen verwirrt und fasziniert. Mit einem „Was soll das denn sein?“ auf den Lippen las ich den Klappentext und mein Interesse war geweckt.

Es handelt sich um einen Familienroman über vier Generationen, der sich vornehmlich den Damen der Familie widmet und mit viel Feingefühl die scheinbar erbliche Problematik des beschwerlichen Mutterdaseins seiner starken Frauenfiguren beleuchtet. Das Ganze ist eingebettet in eine Hintergrundgeschichte zu verschollener Raubkunst. Den Leser*innen wird die Komplexität und die Herausforderungen im Rahmen von Nachforschungen zu jüdischer Raubkunst transparent gemacht. Dabei wechselt die Autorin beginnend im Jahr 1922 zwischen einem historischen und einem aktuellen Handlungsstrang. Dadurch entsteht ein abwechslungsreiches Leseerlebnis sowie ein schöner Spannungsbogen.

Von den Figuren mochte ich Evelyn am meisten. Sie ist die die Zeiten verbindende Figur. Dabei war mir ihr gealtertes, stures und durchsetzungsstarkes Wesen als Oma noch lieber als das kindliche bzw. jungendliche Evchen. Sie hat ihre Erlebnisse und ihre Denke dazu, möchte alles am liebsten mit ins Grab nehmen. Evelyn trägt aber auch ihr ganzes Leben eine große Last mit sich rum. Trotzdem hat sie konzentriert ihren Wunsch-Lebensweg beschritten wider aller Hindernisse.

Kritisch stehe ich Trude gegenüber, deren Charakter und Entwicklung von der Autorin sehr gut ausgearbeitet wurde. Es erscheint nur logisch, dass sich Trude dem Nationalsozialismus zugewandt hat und darin aufgegangen ist. Das erste Mal wird sie als Person überhaupt wahrgenommen. Achtung erfährt sie nur hier. Trude ist ein gutes Beispiel für unsere Verpflichtung uns zu erinnern, damit die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden.

Obwohl der Teufelskreis aus aufkommenden Nationalsozialismus, Ächtung von allem Jüdischen, Denunziantentum, Enteignung und Deportation sowie der Krieg an sich eine bedrückende Stimmung mit sich bringen, schafft es Alena Schröder mit einem schwungvollen Stil und der Abwechslung zwischen den Zeiten, dass man ihren Roman gern liest, sich regelrecht in ihm verliert. Nur einmal musste ich ihn tatsächlich kurz zur Seite legen, um das beschriebene Unheil zu verdauen.

Insgesamt ist der Roman historisch interessant und gesellschaftspolitisch hoch aktuell. Ich kann ihn nur empfehlen.

Bewertung vom 14.12.2020
Die Krone der Schöpfung
Randl, Lola

Die Krone der Schöpfung


ausgezeichnet

Habemus Virus
Lola Randl nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit, mit ins Frühjahr 2020 als sich ein neuartiger Virus unsere Welt eroberte. Ihr Roman spiegelt die Unsicherheit im Umgang mit dem Unbekannten und die damit einhergehende Gefühlslage der Menschen perfekt wider. Verlustängste, Geldsorgen und gehemmte Motivation sind die Folgen. Ich erinnere mich noch sehr genau an den Moment als sich meine Einstufung der Sachlage von „sehr weit weg“ in Gefahr umwandelte.

Vor diesem Hintergrund platziert Lola Randl ihre Protagonistin mit latent wackligem Arbeitsplatz und überlässt sie im Homeoffice sich selbst und ihren Gedanken. Mehr als einmal kam es mir so vor, als wären Protagonistin und Autorin ein und dieselbe Person. Neben dem Dasein der Protagonistin werden verschiedene Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Medien betrachtet. Dabei werden lediglich Titel genannt, der Name wird verschwiegen. Trotzdem sind die Handelnden vom aufmerksamen Leser sehr leicht zu identifizieren. Dieses Pseudo-Unbekannte hat für mich seinen ganz eigenen Charme.

Es entsteht eine verrückte Geschichte, die man in 30 oder 50 Jahren vielleicht albern findet, der aktuell jedoch ein gewisser Ernst innewohnt. Erklärungsversuche werden gemacht. Vergleiche aus dem ländlichen Garten und der Küche dienen dem Verstehen des Virus, seiner Geduld sowie seiner Kreativität. Gedankenanstöße werden beim Leser provoziert, dessen Selbstreflexion angetriggert.

Die Krone wird dem ganzen Zinnober durch eine trashige Zombie-Geschichte aufgesetzt. Stellvertretend für den „medialen Müll“, den wir aufgrund übermäßiger, unfreiwillig zu nutzender, gleichzeitig unfreier Freizeit konsumieren, ist diese am Ende noch locker mit der echten Handlung auf dem Lande, fernab von allem, verknüpft.

Der Roman liefert kein sprachliches Höchstniveau. Aus meiner Sicht ist dies in dieser witzig rasanten Darstellung auch nicht erforderlich, wäre sogar kontraproduktiv. Da der Mensch schnell verdrängt bzw. vergisst war diese Erinnerungslektüre sehr wertvoll für mich. Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

Bewertung vom 22.11.2020
Die Hornisse / Tom Babylon Bd.3
Raabe, Marc

Die Hornisse / Tom Babylon Bd.3


ausgezeichnet

Auch nach dem Abgrund weitere Geheimnisse
Nachdem bereits Schlüssel 17 und Zimmer 19, die ersten beiden Fälle von Tom Babylon, unglaublich fesselnd für mich waren, wollte ich natürlich auch unbedingt seinen neuesten Fall verfolgen. Obwohl der Titel „Die Hornisse“ aus der Reihe tanzt - ich hatte etwas mit einer 21 erwartet - passt doch der Inhalt weiterhin perfekt zur Serie. Ein Fall des Ermittlers Tom Babylon, hier die brutale und perfekt inszenierte Ermordung des Rockstars Brad Galloway, wird geschickt mit Ereignissen aus dessen Kindheit verknüpft.

Der Rockstar Brad Galloway wird also tot im Gästehaus der Polizei aufgefunden, in erniedrigender Pose und übel zugerichtet. Seine Brust ist mit einer Botschaft versehen. Auf der Suche nach den letzten Kontakten Galloway‘s gerät plötzlich Tom‘s Familie in den Fokus der Ermittlungen. Von den Ereignissen überrollt, von den Ermittlungen ausgeschlossen, versteht Tom seine eigene Welt nicht mehr.

Im zweiten Handlungsstrang präsentiert uns Marc Raabe einen Ausschnitt der Machenschaften der Staatssicherheit der DDR. Es ist schwer zu ertragen, wie manipulativ Menschen vorgehen und welcher Methoden sie sich bedienen, um Andere in eine bestimmte Richtung zu drängen, um sie zu unverzeihlichen Handlungen zu zwingen. Um jeden Preis will die Stasi unbescholtene Bürger für die eigene Sache gewinnen. Was im echten Leben unerträglich erscheint, ist für die Spannung des Thrillers durchaus zuträglich.

Marc Raabe wechselt wie auch schon in den ersten beiden Fällen geschickt zwischen den beiden Strängen hin und her. Immer kurz vor dem Höhepunkt der Spannung lässt er uns Leser mit einem Cliffhanger sitzen, steigt tiefer in den jeweils anderen Strang ein. Der dadurch entstehende Suchteffekt und die Geschwindigkeit beim Lesen lassen einen die Zeit vergessen. Wenn ich mich wie hier regelrecht zwingen muss, nachts auch mal ins Bett zu gehen, dann ist ein Thriller perfekt.

Besonders gut fand ich dieses Mal das Zusammenspiel zwischen Sita Johanns und Tom Babylon. Man merkt richtig, wie die beiden sich von Fall zu Fall besser kennen, das gegenseitige Vertrauen wächst, sich beide aufeinander verlassen können. Auch habe ich das Gefühl, Tom nach diesem Band noch ein bisschen besser zu kennen. So langsam ahne ich, woher sein psychologischer Knacks, der ihn so sympathisch macht, herrührt. Daher kam es mir auch gelegen, dass seine „telepathische“ Verbindung zu seiner Schwester Viola weiterhin verfolgt wird, auch wenn diese im aktuellen Fall nicht so sehr im Vordergrund stand.

Am Ende geht es um nichts weniger als um Leben und Tod. Es wäre auch nicht Tom Babylon, wenn es nicht richtig brenzlig werden würde. Nach Abschluss eines abermals megaspannenden Thrillers bleiben einige Fragen offen, die mich auf einen weiteren Band hoffen lassen.

Fazit: Ganz klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 08.11.2020
Das Buch eines Sommers
Kast, Bas

Das Buch eines Sommers


sehr gut

Stiller Selbstfindungsroman
Nicolas verbringt nach dem Abi den Sommer bei seinem Onkel Valentin. Dort überwindet er den Liebeskummer, den ihm seine damalige Freundin bereitet hatte, nur weil sie unbedingt am anderen Ende der Welt studieren wollte. Während des Studiums folgen weitere Sommer. Nicolas träumt davon, Schriftsteller zu werden wie sein Onkel. Doch dann überrumpelt ihn das Leben und er wählt den für ihn vom Vater vorgedachten Weg. Nicolas begibt sich in ein Hamsterrad aus Verantwortung, Terminen und lauter Zwängen.

Als nach Jahren mitten im größten Stress auch noch sein Onkel Valentin stirbt, wird Nicolas plötzlich bewusst, wie endlich sein eigenes Leben und die gemeinsame Zeit in der Familie ist. Er fühlt sich zunächst völlig verloren. Zurück am Ort seiner Jugend kommen die Erinnerungen an schöne Momente und an seinen ursprünglichen Lebensentwurf.

Mit ganz stiller Stimme taucht Bas Kast in Nicolas’ Gefühlschaos ein, stellt dar, wie es sich langsam wieder ordnet. Gleichzeitig, ein wenig im Verborgenen, bearbeitet der Autor die Frage nach der Sinnhaftigkeit der ewigen Jugend. Der Protagonist stellt sich selbst und indirekt auch uns Lesern die ganz großen Fragen des Lebens. Wer will ich sein? Was ist mir wichtig? Wieviel Zeit investiere ich wofür? Was habe ich davon? Wie werde ich glücklich?

Bas Kast regt zum Nachdenken an, zur Selbstreflexion. Man kann sich wieder erkennen, seine eigenen Schlüsse ziehen. Auf Manches wird man gestoßen, zum Beispiel wie wichtig es ist, seinen Liebsten Aufmerksamkeit zu schenken und Anerkennung zukommen zu lassen. Andres bleibt interpretierbar.

Der Romanansatz hat mir gut gefallen, da die Thematik dadurch ihren belehrenden Charakter verliert. Es lohnt sich, das eigene Ich zu hinterfragen. Daher empfehle ich die Lektüre gern weiter.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.11.2020
Ada
Berkel, Christian

Ada


ausgezeichnet

Entwurzeltes Leben
Der Sprung in die Geschichte gelingt mit Ada‘s Entscheidung für psychologische Hilfe. Zunächst war mir die Notwendigkeit eines Psychiaters ein Rätsel. Mit dem Lesen wurde dieses anfänglich fehlende Verständnis dann sukzessive aufgelöst. Wir folgen Ada in ihre Vergangenheit und lernen eine innerlich zerrissene Frau kennen. Bereits aus „Der Apfelbaum“ waren mir die Flucht nach Argentinien und die Lebensumstände für Ada und ihre Mutter dort bekannt. Schön war hier der Perspektivwechsel, da wir nun Ada als Ich-Erzählerin haben und ihre Sicht aufs Geschehen lesen können.

Mit diesem Wechsel der erzählenden Figur ändert sich auch der Sprachgebrauch. Während im Apfelbaum doch eher die gehobene Sprache der aus einer intellektuellen jüdischen Familie stammenden Sala zum tragen kommt, ist es nun Ada‘s lockere von Berliner Schnodderigkeit beeinflusste Ausdrucksweise, die uns entgegen schlägt. Dadurch wird für mein Empfinden Ada‘s rebellierender Charakter perfekt herausgearbeitet.

Ada hat es nicht leicht in ihrem Leben. Die ersten Jahre wächst sie in Argentinien ohne Vaterfigur auf, bei einer Mutter, die sie eigentlich nicht haben wollte. Viel Aufmerksamkeit bekommt Ada nicht, ist doch die Mutter voll damit beschäftigt, für den Lebensunterhalt zu sorgen. So beschränkt sich ihr Kümmern um Ada auf Kritik. Nach der Rückkehr nach Berlin und dem Wiedereintritt von Otto als Vater in die Familie tritt für Ada auch keine emotionale Verbesserung ein. Schnell wird ein neues Kind „Sputnik“ geboren, das nun im Mittelpunkt steht. Zudem ist das Leben vom großen Schweigen gekennzeichnet. Über die Vergangenheit wird nicht gesprochen, an/in den Erinnerungen der Erwachsenen wird nicht (herum)gerührt, erklärt wird der nachfolgenden Generation nichts. Ada‘s Gefühl, ein Unfall und damit unerwünscht zu sein, bleibt, nimmt sogar noch zu.

So begleiten wir Ada im West-Berlin der Zeit des Wirtschaftswunders, Mauerbaus und durch die 68er-Bewegung. Als weiteres historisches Ereignis wird der Mauerfall 1989 thematisiert. Die Lücke dazwischen ist recht groß, lässt Fragen in Ada‘s Leben offen. So hoffe ich auf einen dritten Roman, der genau diese Lücke schließt.

Mir hat Ada sehr gut gefallen. Wie auch schon beim Vorgänger kann ich das Lesen nur empfehlen.