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Benutzername: 
dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 186 Bewertungen
Bewertung vom 28.01.2024
Das kleine Haus am Sonnenhang
Capus, Alex

Das kleine Haus am Sonnenhang


ausgezeichnet

Gleich vorneweg: ich liebe Capus‘ Bücher, allesamt. Er pickt sich einzelne historische Figuren aus der Fülle der Zeit heraus und spürt ihrem Lebenslauf nach, den er dann verdichtet und sprachlich reduziert literarisiert. Diese Figuren sind meistens Randfiguren der Weltgeschichte, es sind Abenteurer, Quertreiber und eher kleine Leute, die aber auf ihre Weise am großen Rad der Geschichte mitdrehen. Immer wieder merkt man die peniblen Recherchen des Autors, seine Figuren haben Leben, und Capus holt die Ereignisse über teilweise Jahrhunderte hinweg an unsere Zeit heran.

In diesem Buch nun erzählt er von sich selber. Als junger Mensch kauft er für „fast kein Geld“ ein kleines Haus im Piemont, an einem Sonnenhang gelegen, gegenüber einem kleinen Dorf. Dieses kleine Haus wird für ihn ein Refugium, er lebt dort mit seiner Freundin und späteren Frau, er lernt die Sprache und er schreibt dort seinen ersten Roman – auf einer altmodischen Schreibmaschine.

Und so erfahren wir viel über sein Leben als Schriftsteller, seine Arbeitsweise und z. B. seine herzerfrischende Art, mit Schreibhemmungen umzugehen. Die machen ihm keine Sorgen: er hackt Holz oder sucht sich sonst eine Arbeit, die auch erledigt werden muss, und irgendwann fließen die Worte wieder. Sehr amüsant sind auch seine Überlegungen zum Ende eines Romans, denn „wenn man zu lange dabeibleibt, sind am Schluss immer alle tot.“

Capus ist ein genügsamer Mensch. Ihn quält keine Suche nach dem noch Schöneren, und so reicht ihm das kleine Glück in dem Haus am Sonnenhang. Er ist zufrieden mit der Bar im nahegelegenen Ort, die er täglich besucht, er ist zufrieden mit den Bar-Gästen, mit denen er sich anfreundet, er ist zufrieden mit dem alten Fahrrad, das ihn täglich in die Bar bringt. Er ist auch zufrieden mit dem Haus und arrangiert sich mit seinen Nachteilen.

Sein stilles Glück bekommt allerdings einen schmerzhaften Kratzer, als ihm sein Kachelofen gestohlen wird und er erkennen muss, dass es nur einer seiner Freunde aus der Bar gewesen sein kann. „Freunde“? Sprachlich sehr schön beschreibt er diese Erkenntnis, und dem Leser wird klar, dass hier ein Bruch erfolgt und Capus sein stilles Glück am Sonnenhang verlassen wird.

Man wünscht ihm, dass er irgendwo anders ein neues, dauerhaftes finden wird!
Lese-Empfehlung!

Bewertung vom 25.01.2024
Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
Murakami, Haruki

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer


ausgezeichnet

„An jenem Sommerabend wanderten wir, den süße Duft von Gräsern atmend, flussaufwärts. ... Das klare kühle Wasser umspülte unsere Knöchel, und unsere Füße sanken tief ein in den feinen Flusssand – wie in weiche Wolken wie in einem Traum. Ich war siebzehn, du ein Jahr jünger.“

So poetisch beginnt Murakamis neuer Roman: mit den Erinnerungen ein eine Jugendliebe, die er zeit seines Lebens nicht vergessen kann. Die Suche nach dieser Jugendliebe ist der Motor des Romans. Das namenlose Mädchen ist es nämlich, die ihm von der „Stadt mit den ungewissen Mauern“ erzählte. In dieser Stadt lebe ihr wahres Ich, hier auf dieser Welt sei sie nur ein Schatten dieses Ichs.

Die Sehnsucht nach dem Mädchen und der geheimnisvollen Stadt macht den Protagonisten zu einem einsamen und ständig suchenden Menschen. Die Stadt wird bewacht von einem mächtigen Wächter – man denkt an Kafka. Sie wird beherrscht von einer großen Bibliothek, kann nur von goldenen Einhörnern und von Menschen ohne Schatten betreten werden. Auch das Motiv ist bekannt, z. B. aus Volksmärchen und Adalbert v. Chamissos „Peter Schlemihl“: der Menschen verkauft seinen Schatten an eine übernatürliche Macht, um Vorteile – Geld, ewiges Leben – zu erlangen. Der Vorteil in diesem Roman besteht darin, in eine andere Realität zu gelangen und eine andere Identität zu leben.

Mit diesen Realitäten beginnt der Autor ein fein konstruiertes Spiel. Beide Realitäten bestehen nebeneinander. Die eine ist geprägt von der Zeit, die andere nicht; in ihr hat der Uhrturm keine Zeiger und das Ablaufen der Zeit ist aufgehoben. Eine weitere Realität erschafft er mit dem Inventar der Bibliothek: hier werden Träume gesammelt, und das Traumlesen wird zur Lebensaufgabe des Protagonisten. Der Inhalt der Träume? Das lässt der Autor offen.

Mit den Realitäten verbunden sind die verschiedenen Bewusstseinsebenen, die Frage nach dem Ich und dem zweiten Ich, dem Schatten-Ich, Verschwinden und Materialisieren, Geister und reale Menschen, und alle diese Ebenen vermischt der Autor mit leichter Hand. Dadurch erhält der Roman eine merkwürdig schwebende Konsistenz, wie Seifenblasen, die in der Luft schweben und nicht eindeutig zu fassen sind. Die vielen Wiederholungen, v. a. bei den Erinnerungen an das junge Mädchen seiner Jugend, tragen zu diesem Eindruck bei; sie wirken wie ein Singsang, der den Leser einlullt. Etwas weniger Wiederholungen hätten dem Roman aber durchaus gutgetan.

Ausgesprochen witzig fand ich daher, wie der Autor einen Kontrapunkt schafft und die uns bekannte Realität in den Roman hineinholt: der Protagonist kauft ein, er wäscht und bügelt seine Hemden und gibt sich allen möglichen Haushalts-Tätigkeiten hin – und zwar immer montags. Sein Alltag ist also streng geordnet und der Zeit unterworfen, und umso schwebender werden die anderen Realitäten.

Das Hörbuch wurde eingelesen von David Nathan. Sein Vorlesen erleichtert den Zugang zum Roman. Seine Art, sehr oft am Satzende die Stimmkurve nach oben zu führen, verleiht dem jeweiligen Satz etwas Offenes und Fragendes. Das kann einen stören. Man kann diese schwebenden Satzenden aber auch als Interpretation sehen, passend zum schwebenden Inhalt.

Fazit: ein langatmig komponierter Roman mit großer Sogkraft!

4,5*

Bewertung vom 23.01.2024
Der Pakt / Schatten Bd.1
Parvela, Timo

Der Pakt / Schatten Bd.1


sehr gut

Pete, 13 Jahre alt, hat nur einen einzigen Weihnachtswunsch: seine Freundin Sara soll wieder gesund werden. Sara leidet an einer rätselhaften Krankheit und wird zusehends kränker, alle rechnen mit ihrem Tod. Für ihre Gesundung gibt er gerne seinen Schatten her.

Timo Parvela spielt hier mit einem altbekannten Motiv: dem Verkauf des Schattens an eine übernatürliche Macht. Und folgerichtig setzt sich die Handlung im nächsteh Kapitel nun auf einer übernatürlichen Ebene fort. Der Leser lernt die Schattenflickerin Uudit kennen und taucht ein in die Welt der Trolle, der Wichtel und der Gnome. Diese Anderwelt bereichert der Autor noch um den Mythos des Weihnachtsmannes, der hier recht ungewohnt auftritt.
Die Geschichte lebt von diesen beiden Erzählebenen: der realen und der fiktiven. Beide Erzählebenen werden behutsam und ausgesprochen phantasievoll miteinander verschränkt und durchdringen sich gegenseitig.

Petes Suche nach seinem Schatten wird eine spannende Geschichte, die er nur mit Hilfe von Freunden bewältigt. Dabei erlebt Pete auch die selbstlose Freundschaft eines Jungen, dem er zunächst eher ablehnend gegenüberstand. Auch in der Anderwelt – z. B. bei der Schattenflickerin Uudit - gibt es diesen Wunsch, der den jugendlichen Lesern aus der Seele sprechen wird: der Wunsch dazuzugehören und Teil einer Gemeinschaft zu sein.

Das Buch spielt mit leichten Grusel-Effekten, wie man sie auch bei der Anderwelt erwartet, aber mit seinem Humor wird jeder Gruselschreck abgemildert, sodass vermutlich kein Kind um seinen Schlaf gebracht wird. Zur Abmilderung tragen auch die einfach nur wunderschönen Illustrationen bei, die gleichzeitig den Eindruck der Unwirklichkeit verstärken.

Die Handlung lässt viele Fragen offen. Das Buch ist offensichtlich so konzipiert, dass man den Folgeband lesen muss. Vermutlich wird sich dann auch die Bedeutung des eindrucksvollen Covers erklären.

Bewertung vom 22.01.2024
Was es braucht, das Leben zu lieben
Diome, Fatou

Was es braucht, das Leben zu lieben


ausgezeichnet

Fatou Diome legt in diesem kleinen Band 8 kleine Erzählungen vor, die alle eines gemeinsam haben: die große Empathie, mit der sich die Autorin ihrem Gegenstand widmet. Es sind nicht immer Menschen, die sie in den Mittelpunkt stellt. In einer der Geschichten ist es das sog. „kleine Schwarze“, das sich an unzählige glanzvolle Auftritte und aufregende Begegnungen erinnert und voller Trauer seine momentane Situation beleuchtet: vergessen an einem Kleiderbügel hängend, achtlos betrachtet, lieblos hin- und hergeschoben.

Von dieser Geschichte abgesehen, lässt die Autorin einen bunten Figurenreigen auftreten. Alle Figuren leben sichtlich aus dem Erfahrungsschatz der Autorin, die sich als frankophone Afrikanerin zwischen zwei Kontinenten und zwei Kulturen bewegt. In einer Geschichte erzählt sie z. B. von ihrem senegalesischen Großvater, dem sie sich nach wie vor verbunden fühlt, und setzt ihm schreibend ein zärtliches Denkmal.
Zwei andere Geschichten erzählen von einem körperbehinderten Nachbarn, von dem sie sich beobachtet fühlt. Daher stuft sie ihn empört als Spanner ein, und seine etwas lockeren Sprüche bestätigen sie in ihrem Urteil. Schließlich aber wird ihr klar, dass er lediglich „als Gentleman ... das Geplänkel“ genoss. Sie erkennt, dass er ihr nicht nur seine Freundschaft, sondern auch seinen Schutz anbietet.

Die Autorin liebt es offensichtlich, die Perspektiven zu wechseln. Zwei weitere Geschichten gehen von einer eher alltäglichen Unfreundlichkeit aus, und die Autorin beleuchtet nun die beiden Beteiligten. Mit großer Empathie zeichnet sie das Psychogramm eines Mannes, der sich auf dem absteigenden Ast seines Lebens befindet und seine Mutter wegen ihrer Illoyalität anklagt – und auf der anderen Seite vertieft sie sich genauso akribisch in das Opfer seiner Unfreundlichkeit.

Was macht das Leben liebenswert? „Mit ein paar Löffeln Zuneigung machten wir es ein bisschen warmherziger“, auch wenn das Leben seinen „unangenehmen Beigeschmack der Realität“ dadurch nicht verliert.

Alle Geschichten leben von der menschenfreundlichen Haltung der Autorin und ihrer überbordenden Sprachlust, mit der sie lebhafte und originelle Bilder erschafft. So schreibt sie z. B. nicht einfach: „Ich erzählte ihm von meiner Reise“, sondern sie gestaltet den Satz üppiger: „Meine Zunge peitschte die Minuten wie die Paddel der Niominka den Rücken des ungeheuerlichen Atlantik“. Das farbenprächtige Cover passt zu den Erzählungen.

Bewertung vom 19.01.2024
Hans Grünauer
Senn, Jakob

Hans Grünauer


ausgezeichnet

Jakob Senn ist ein Schriftsteller, der im Schweizer Oberland und Zürich als Volksschriftsteller sicherlich eher bekannt ist als im übrigen deutschsprachigen Raum. Umso schöner ist es, dass der Limmat-Verlag zum 200. Geburtstag Jakob Senns sein Hauptwerk neu herausgibt.

Der Roman erinnert schon im Titel an ein berühmtes Werk eines weitaus berühmteren Kollegen: an den Entwicklungsroman „Der Grüne Heinrich“ von Gottfried Keller. Auch Senns Roman trägt deutliche autobiografische Züge. Der Leser wird versetzt in die Mitte des 19. Jahrhunderts, in ein kleines Dorf im Töss-Tal in der Nähe von Zürich. Hier wird Hans Grünauer, das Alter Ego Senns, in eine Kleinbauernfamilie hineingeboren, darf fünf Jahre lang zur Schule gehen und muss dann am Webstuhl und mit harter Arbeit in der Landwirtschaft zum Unterhalt der Familie beitragen. Trotz seiner entbehrungsreichen Kindheit gibt er seine Liebe zu Büchern und zur Dichtkunst nicht auf. Er liest, was ihm in die Hände fällt, und das ist überwiegend fromme Erbauungsliteratur. Seine Eltern, vor allem seine Stiefmutter, machen ihm als Nichtsnutz das Leben schwer, aber in seinem Bruder Jakob findet er eine gleichgestimmte Seele und einen lebenslangen treuen Freund.

Die Krisen der Zeit wie das Aufeinanderprallen von protestantischen Liberalen und katholischen Demokraten, die schlimme Hungersnot Mitte der 40er Jahre und die Gründung des Bundesstaates fließen nur am Rande in den Roman ein. Der Autor konzentriert sich auf die literarische Entwicklung seines Helden. Im Lauf der Zeit findet Hans Förderer für sein autodidaktisches Lernen, und recht launig beschreibt er z. B. den geldgierigen Dorfapotheker oder den schrulligen Volksdichter Zellberger, der als Eremit lebt und einen Kreis von ergebenen Jüngern um sich schart. Ausgesprochen burlesk ist auch die Geschichte seiner erzwungenen Brautschau, und von seinem Freigeist zeugt z. B. seine Beobachtung, dass die meisten medizinischen Werke zur Frauenheilkunde von Priestern geordert werden.

Was den Roman so lesenswert macht, ist nicht nur diese besondere Biografie, sondern auch der Blick in die Zeit. Das harte Leben der Kleinbauern, die langen Fußwege bei Wind und Wetter, die bigotte Frömmigkeit und das pietistische Frömmlertum, Entbehrungen, das unzureichende Schulwesen, dörfliche Bräuche und vieles mehr lässt Senn vor seinem Leser auferstehen. Trotz der Härte des Lebens – „keine Blumenpfade“- findet der Autor einen humorvollen und immer versöhnlichen Ton.

Das Nachwort liefert hilfreiche Informationen zu Jakob Senn.

Bewertung vom 16.01.2024
Eine Jugend in Deutschland (MP3-Download)
Toller, Ernst

Eine Jugend in Deutschland (MP3-Download)


ausgezeichnet

Tollers Aufzeichnungen umfassen die Jahre 1893 bis 1939, und schon in den ersten Sätzen macht er klar, um was es ihm geht: seine persönliche Geschichte ist für ihn typisch für seine Generation in dieser Zeit.

Aufgewachsen in wohlhabenden Verhältnissen, genießt er eine unbeschwerte Kinderzeit. Allerdings erhält er durch seinen Kinderfreund Einblick in andere, kargere wirtschaftliche Verhältnisse, und die ungleiche Verteilung von Geld und Wohlstand beschäftigt ihn. Die Antwort seiner Mutter „Gott will das so“ beruhigt ihn zunächst, aber nicht auf Dauer, und die Beseitigung dieser und anderer Ungleichheiten wird zu seiner Lebensaufgabe werden.

Toller erzählt von der großen Kriegsbegeisterung, mit der seine Generation in den I. Weltkrieg gezogen ist. Im Feld aber kommt die große Ernüchterung er entwickelt sich zum leidenschaftlichen Pazifisten. Weil er als Kriegsursache das Streben der Hochfinanz nach Bodenschätzen und Gewinn erkennt, wendet er sich dem Sozialismus zu.

Sehr lebhaft beschreibt er in der Folge die Revolution, die Bildung der Arbeiter- und Soldatenräte und er bedauert das Zaudern der Revolutionäre vor institutionalisierten Machtstrukturen, die eine gründliche Umwälzung verhindern und das Erstarken der Konterrevolution begünstigen. Das Scheitern der Räterepublik, der Wirrwarr der Revolution, die blutigen Kämpfe zwischen Weiß- und Rotgardisten – Tollers Erzählungen und die eingefügten Augenzeugenberichte lassen diese unruhige Zeit lebendig werden. Ebenso lebendig in ihrer Grausamkeit und ihrer Menschenverachtung wird die Zeit der 5jährigen Festungshaft.

Toller ist ein außergewöhnlicher Mensch, ein leidenschaftlicher und dabei hoch moralischer Mann. Er weiß inzwischen, dass die Aussage seiner Mutter „Gott will es so“ nicht stimmt, und er setzt seine ganze Energie und Wortgewalt ein für eine Zukunft frei von Ungleichheiten, frei von Kriegen und Nationalismus, und für eine Zukunft, in der das Recht unparteiisch ist und nicht, wie er es erlebt hatte, ein Instrument der Macht. Sehr scharfsichtig erkennt er Hitler als einen üblen nationalistischen Agitatoren, der einer solchen Zukunft im Wege steht.

Seine Erinnerungen sind zugleich ein Memento Mori für seine ermordeten Weggefährten, allen voran Eisner, Landauer, Leviné und Erich Mühsam.
Tollers Leidenschaft wird vom Sprecher Richard Barenberg äußerst wirkungsvoll in Sprache umgewandelt.
Hörempfehlung!!

Bewertung vom 16.01.2024
Grace
Lynch, Paul

Grace


ausgezeichnet

Der Roman versetzt uns in das Irland der Großen Hungersnot in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Über fünf Jahre hinweg fielen die Kartoffelernten aufgrund der sog. Kartoffelfäule aus und führten zu einer katastrophalen Hungersnot, die durch die englischen Exporte und fehlende Hilfsmaßnahmen noch verschärft wurde.
Grace, gerade 14 Jahre alt, wird von ihrer Mutter als Junge verkleidet auf den Weg gebracht: sie soll sich Arbeit suchen und für sich selber sorgen. Grace liebt ihre kleinen Brüder und trennt sich schwer von ihnen, aber Colly, einer der Brüder, begleitet sie heimlich.

Was nun beginnt, ist eine Odyssee durch das hungernde Land. Immer durch Graces Augen sieht der Leser die Not der Menschen: Bettelnde und heruntergekommene Menschen, die ihren Besitz und sich selbst verkaufen für einen Penny oder ein Stück Brot; verwahrloste und halb erfrorene Kinder, verhungerte Menschen in Straßengräben, gespenstische Kolonnen von Hungernden, die durchs Land ziehen, verwahrloste Kinderbanden. Gras, Vogelmiere, Kräuter – alles wird gegessen, Haustiere sowieso, und die Vögel werden vom Himmel geholt. Und immer gegenwärtig die Angst vor den Constablern und die Angst, als Diebin am Galgen zu enden.

Der Hunger lässt die Menschen verrohen, niemand ist sicher vor seinem Mitmenschen, und Grace muss mit ihrem Messer ständig auf der Hut sein vor Diebstahl und Übergriffen. Die seltenen milden Gaben von wohltätigen Reichen sind nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sondern sie rufen bei Grace auch einen unbändigen Hass hervor auf die Nutznießer der Hungersnot. Der Hass wird gesteigert, wenn sie sieht, wie die reichen Bauern ihren Besitz sichern. Sie schrecken dabei vor Mord und Totschlag nicht zurück und lynchen auch halbverhungerte Kinder. Der Wolf ist des Menschen Wolf geworden.

Auch Grace verroht, der Hunger macht sie mitleidlos und hart. Sie stiehlt, sie schlägt, sie setzt ihr Messer ein, sie schüttelt bettelnde Kinder von ihrem Arm. Aber sie leidet unter ihren Taten, und die Toten kommen als Hungerhalluzinationen zu ihr, sodass sie schließlich Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten kann.
Der Autor wahrt streng die Perspektive des jungen Mädchens, und damit macht er es dem Leser nicht immer leicht. Grace ist noch ein Kind, sie versteht einiges nicht, und so bleibt es dem Leser überlassen, sich das Geschehen zusammenzureimen. Mit diesen Leerstellen gelingen dem Autor aber auch äußerst anrührende Stellen, z. B. im Zusammenhang mit dem geliebten kleinen Bruder, mit dem sie ständige Zwiesprache führt.

Ein sprachlich dichter Roman, düster, lyrisch und poetisch, allerdings mit Längen.

Bewertung vom 15.01.2024
Abenteuer & Wissen, Ernest Shackleton - Gefangen im Packeis (MP3-Download)
Hempel, Berit

Abenteuer & Wissen, Ernest Shackleton - Gefangen im Packeis (MP3-Download)


ausgezeichnet

Das „Heroic Age“, wie die Briten das Zeitalter der Polarforscher bezeichnen, ist vorbei, aber die Faszination hält an, die von diesen Abenteurern ausgeht. Einer davon ist Ernest Shackleton, dem kein Erfolg und zu Lebzeiten auch kein Ruhm zugedacht war. Eine schöne Idee, zu seinem 150. Geburtstag am 15. Februar dieses Hörspiel herauszugeben!

Mit seinem Schiff Endurance und 28 Männern versuchte Shackleton, den antarktischen Kontinent über den Südpol hinweg zu durchqueren. Das Unternehmen scheiterte, die Endurance wurde vom Packeis festgesetzt, schließlich zermalmt und unter Wasser gezogen, wo sie erst 2022 in über 3000 m Tiefe gesichtet werden konnte. Die Besatzung zog über neun Monate unter Shackletons Führung unter schlimmsten äußeren Umständen durch die Antarktis, bis sich Shackleton zu einer riskanten Rettungsaktion entschloss Und diese Rettungsaktion ist es, die in die Geschichte eingeht und ihm den ersehnten Ruhm brachte.

Das Hörspiel stellt von Beginn an Shackletons charismatische Führungspersönlichkeit heraus, die geprägt ist von Teamgeist, Weitsicht, Ausdauer und Fürsorge für seine Leute. Der Untergang der Endurance, die ständige Bedrohung durch das Packeis, die mörderische Kälte und Nässe - all das stellt das Hörspiel in kurzen, sehr plastischen Szenen vor. Erzählende Passagen wechseln mit Tagebucheinträgen und informierenden Hinweisen ab. Als Clou kommt auch der Polarforscher Arved Fuchs zu Wort, der Shackletons spektakuläre Rettungsaktion wiederholte und von der Antarktis bis nach Südgeorgien segelte. Wörter wie „homogen“, „bagatellisieren“ u. a. übersteigen den Wortschatz der Zielgruppe, aber die Bedeutung ergibt sich aus dem Zusammenhang.

Das dazugehörige Booklet bietet Karten, weiterführende Informationen z. B. zum Walfang, zum geomagnetischen und magnetischen Südpol u. a. und zum Polarforscher Arved Fuchs.

Eine sehr gelungene Mischung aus Abenteuer und Wissen, für Kinder und Erwachsene gleichermaßen geeignet.

Bewertung vom 08.01.2024
Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt / Die Mordclub-Serie Bd.4 (2 MP3-CDs)
Osman, Richard

Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt / Die Mordclub-Serie Bd.4 (2 MP3-CDs)


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:

Die Seniorenresidenz „Coopers Chase“ im ländlichen Kent: ein idyllischer Schauplatz für ganz und gar nicht idyllische Handlungen!

Richard Osman legt hier den 4. Band seiner Reihe „Donnerstagsmordclub“ vor, und auch wenn man wie ich die vorhergehenden Bände nicht gelesen/gehört hat, hat man keinerlei Verständnisschwierigkeiten.

Vier recht robuste, teilweise recht skurrile Senioren vertreiben sich ihre Zeit mit Mördersuche und bilden ein sehr originelles Ermittlerteam, das mit der örtlichen Polizei mehr oder weniger vertrauensvoll zusammenarbeitet. In dieser Folge wollen sie dafür sorgen, dass der Mörder eines befreundeten Antiquitätenhändlers gefunden wird. Dabei geraten sie in einen Strudel von Kunstfälschungen, Heroinschmuggel, Drogendeal, Antiquitätenschmuggel, polizeilichen Zuständigkeitskollisionen, und – last, but not least – auch Heiratsschwindel. Dieser Strudel bringt es mit sich, dass recht viele, zu viele Leichen den Gang der Handlung pflastern, was aber der guten Stimmung der vier Senioren keinen Abbruch tut.

Der Roman lebt von dem sprichwörtlichen unterkühlten britischen Humor. Er rutscht aber niemals ins Banale oder Flapsige ab. Dafür sorgt der Autor, wenn er seine Ermittler auch die schweren Seiten des Altwerdens erleben lässt. Die zunehmende Demenz ihres Ehemannes bürdet Elizabeth, einer der Vier, eine schwere Verantwortung auf, die sie schließlich nur mit Hilfe ihrer Freunde tragen kann. Und auch die anderen leiden unter der Einsamkeit nach dem Tod ihrer Partner, dem sie sich immer noch verbunden fühlen. Diese tiefe Verbundenheit hat nichts Kitschiges an sich; sie stellt einen behutsamen Kontrapunkt zu den Liebesirrungen und -wirrungen der jüngeren Handlungsträger dar. So wie der Autor seinen Humor niemals ins Flapsige abrutschen lässt, genauso wahrt er hier den Spagat zwischen Ernst und Heiterkeit.

Das Hörbuch lebt von seinen beiden Sprechern, und hier vor allem von Johannes Steck. Die Wandlungsfähigkeit seiner Stimme ist einfach nur phänomenal. Jede Person hat ihre Stimme, ohne dass sich die Sprecher-Stimme verzerrt oder peinlich unnatürlich wird. Ein Vergnügen!