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Bücherbummler

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Insgesamt 110 Bewertungen
Bewertung vom 20.05.2022
Die Winde des Ararat
Zypkin, Leonid

Die Winde des Ararat


sehr gut

Die Sowjetunion in den 1970er Jahren. Boris Lwowitsch, Jurist jüdischer Abstammung aus Moskau, und seine Frau Tanja machen in einer armenischen (und damals zur Sowjetunion gehörenden) Grenzstadt mit Blick auf den in der Türkei liegenden Ararat Urlaub. Die Nähe der unüberwindbaren Grenze und der dahinterliegenden Freiheit ist dem Ehepaar bewusst, aber ein Thema, über das man nicht spricht. Boris und Tanja spulen mit den übrigen Touristen ihr Programm ab, bis ihr Urlaub einen jähen Abbruch findet, als sie wegen des angeblichen Endes ihrer Buchungszeit aus ihrem Hotel ausquartiert werden. Ein Versuch Boris’, sich für diese entwürdigende Behandlung an der Hoteldirektorin zu rächen, bringt kaum Befriedigung. Und dann wartet Zuhause in Moskau noch eine Veränderung, die Boris’ und Tanjas Leben für immer verändern wird.

Leonid Zypkin macht es den Lesern seiner autobiografisch beeinflussten Erzählung „Die Windes des Ararats“ nicht leicht. In einem dahinplätschernden Strom folgen wir Boris durch seine Gedanken, springen mit ihm durch Themen und Zeiten bis hin zur Kreuzigung Jesu und zur Massenvernichtung der Juden während des Zweiten Weltkrieges. Oder zumindest nehmen wir an, dass wir das tun. Denn mit der Nennung von Namen, Orten und Ereignissen ist Boris bzw. Zypkin mehr als sparsam. Als Leser muss man sich entweder auskennen, schlaumachen oder gleichgültig bleiben.

Sparsam ist Zypkin auch mit seiner Punktierung. Als ich einmal eine Lesepause einlegen wollte, habe ich sechs Seiten nach dem nächsten Punkt gesucht. Ohne Erfolg. Ab da habe ich mehr oder weniger wahllos Wörter mitten im Text markiert, wann immer ich eine Unterbrechung gebraucht habe. Ich weiß nicht, ob es an diesem Punktierungsgeiz oder am Stil lag, aber es war mir fast unmöglich, mich auf den Text zu konzentrieren. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal beim Lesen so konsequent abgeschweift bin, wie bei dieser Erzählung.

Eigentlich habe ich keine guten Gründe, „Die Winde des Ararats“ gemocht zu haben. Abgesehen von den oben erwähnten Problemen hat mir die Geschichte auch sonst wenig von dem gegeben, was ich normalerweise in einer von mir als gut bezeichneten Lektüre suche. Die Geschichte war – ich würde nicht sagen, nicht vorhanden, aber definitiv nicht spannend oder auch nur unterhaltend. Eine tiefere Aussage hat sich mir zumindest nicht erschlossen, auch wenn sie bestimmt irgendwo vorhanden war. Es hat sich für mich nur wenig an neuen Perspektiven und Gedanken aufgetan. Und vor allem war alles so in der Schwebe, dass ich keine Aussage machen könnte, ohne mich zu fragen, ob ich einfach nur fleißig hineininterpretiere.

Und trotzdem hat mich etwas im Nachhinein auf positive Weise mit diesem Roman verknüpft. Etwas, was ich schwer benennen kann, hat sich bei mir eingepflanzt und lässt mich mit mehr Begeisterung an dieses Buch zurückdenken, als ich beim Lesen tatsächlich empfunden habe. Vielleicht ist es die Figur des Boris Lwowitsch, seine Menschlichkeit in allen Facetten. Vielleicht die Atmosphäre, die Zypkin zu schaffen weiß. Vielleicht eine tiefere Wahrheit, die nicht genannt, aber empfunden wird.

Leonid Zypkin, der nach der Ausreise seiner Frau und seines Sohnes in die Staaten seinen Doktortitel aberkannt bekam und in seinem Beruf als Mediziner herabgestuft wurde, schrieb zu seinen Lebzeiten fast ausschließlich für die Schublade. Kein sowjetischer Verlag war bereit, etwas von ihm zu veröffentlichen, so dass er seinen bekanntesten Roman „Ein Sommer in Baden-Baden“ außer Landes schmuggeln musste, der nur eine Woche vor seinem Tod in einer Emigranten-Zeitung in New York veröffentlicht wurde. Vielleicht ist dieses für sich schreiben, für seine Zeit schreiben, für seine Situation schreiben der Grund, dass mir das Lesen so schwergefallen ist. Trotzdem bin ich mir sicher, dass es für die literarische Welt ein Segen ist, dass sein Werk letztendlich doch seinen Weg an die Öffentlichkeit gefunden hat und in Deutschland zu den neu aufgelegten Wiederen

Bewertung vom 10.05.2022
Eine Laune Gottes
Laurence, Margaret

Eine Laune Gottes


ausgezeichnet

Kanada in den 1960ern. Rachel Cameron ist Anfang 30, Lehrerin und lebt mit ihrer Mutter über dem Bestattungsinstitut, das ihrem Vater gehört hat, nach dessen Tod aber verkauft wurde. Rachel hat sich in ihrem Leben eingerichtet. Ihre Tage bestehen in erster Linie aus ihrer Arbeit und Fernsehabenden oder Kinobesuchen mit der Mutter, die sich Rachels Aufmerksamkeit durch emotionale Erpressung sichert. Bridg-Abende, an denen Rachel die Aufgabe zukommt, die Freundinnen ihrer Mutter zu bedienen, und gelegentliche Einladungen bei ihrem Chef oder einer Kollegin – viel mehr Abwechslung gibt es nicht und scheint Rachel auch nicht zu wollen. Das ändert sich, als sie zufällig ihrem alten Schulkameraden Nick begegnet, ein Treffen, das ihr Leben auf viele Weisen umkrempeln kann.

„Eine Laune Gottes“ ist der zweite von Margaret Laurences fünf Romanen, die in dem fiktiven Manawaka spielen, einer Kleinstadt, die von Laurences Heimatstadt Neepawa inspieriert wurde. Was mir als Erstes auffiel, war, wie erfrischend sie ihre Protagonistin gezeichnet hat. In letzter Zeit habe ich öfter Bücher über „alte Jungfern“ gelesen – ich denke da an Eleanor Oliphant aus „Eleanor Oliphant ist completely fine“ von Gail Honeyman oder Molly Gray aus „The Maid“ von Nita Prose – in denen die Heldinnen sehr liebenswert, aber auch immer etwas verschroben und extrem naiv waren. Rachel ist das nicht. Nach außen benimmt sie sich, wie es die Gesellschaft von ihr erwartet, höflich und wohlerzogen, aber sie beobachtet ihre Umwelt sehr genau und urteilt scharf bis zur Bösartigkeit. Sie hat Ecken und Kanten, ist vielschichtig und tiefgründig auf einer sehr bewussten Ebene. Und vor allem geraten ihre charakterlichen Stärken auch mal ins Wanken, zeigen deutlich die Spannung zwischen inneren Wünschen und äußeren Erwartungen, denen Frauen in den 1960ern noch um einiges mehr ausgesetzt waren, als heute.

Ein interessanter Kniff der Autorin ist, dass sie Rachels Wunschträume so in den Text einfließen lässt, dass man oft nicht sofort erkennen kann, ob das Geschilderte Realität oder eben reine Traumvorstellung ist. Sehr schön verdeutlicht fand ich auch den Kampf der Protagonistin zwischen ihren Hoffnungen und dem Wissen, dass diese keine reelle Existenzberechtigung haben.

Ich erwähne Übersetzer oder Übersetzerinnen viel zu selten, vor allem, weil ich meistens das Gefühl habe, dass ich nicht beurteilen kann, wie gelungen die Übertragung ist, wenn ich nicht das Original kenne. Aber dieses Mal möchte ich Monika Baark hervorheben, die „Eine Laune Gottes“ so frisch übersetzt hat, dass das Buch ungemein an Aktualität gewinnt und einen nicht in den Glauben verfallen lässt, als moderne Frau wäre man vor Geschichten wie der Rachels gefeit.

Alles in allem ein gelungenes Buch, dass ich nicht direkt verschlungen, aber sehr gerne gelesen habe und ebenso gerne weiterempfehle. Es wird bestimmt nicht meine letzte Lektüre von Margaret Laurence gewesen sein.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.05.2022
Die Lüge
Franko, Mikita

Die Lüge


ausgezeichnet

Miki ist erst drei, als seine Mutter an Krebs stirbt. Ab da lebt er bei seinem homosexuellen Onkel Slawa und dessen Partner Lew. Am Anfang ergeben sich wenig Probleme, aber als er in die Schule kommt, muss er lernen, um sich herum eine Scheinwelt aufzubauen, in der es nur einen alleinerziehenden Vater gibt. Niemand darf die Wahrheit wissen, nicht nur wegen der Vorurteile, sondern weil die reelle Gefahr besteht, dass Slawa dann seine Erziehungsberechtigung verliert. Für Miki wird es immer belastender, diesen Lügenpalast aufrechterhalten zu müssen, und als er ins Teenageralter kommt, entwickelt er Depressionen, Angstzustände und den Drang zu Selbstverletzungen. Komplett aus dem Gleichgewicht gerät er, als er merkt, dass er sich von Jungen angezogen fühlt. Dem Vorurteil, homosexuelle Eltern würden homosexuelle Kinder großziehen, in die Hand gespielt zu haben, ist für ihn Versagen und nah einem Verrat an seinen Vätern.

Ich habe „Die Lüge“ von Mikita Franko geliebt. Punkt.

Dieses Buch ist so vielseitig, liebenswert, schrecklich, bewegend, wütend machend, amüsant, rührend, intelligent… Und dabei immer überzeugend, nie ins Kitschige driftend, nicht konstruiert oder manipulierend. Er fühlt sich einfach real und wahrhaftig an.

Franko selbst soll gesagt haben, dass er sich bewusst sei, dass sein Roman nicht perfekt ist. Ich habe das zu keinem Zeitpunkt so empfunden. Davon abgesehen, dass perfekt ein extrem dehnbarer und nicht wirklich erreichbarer Begriff ist, war für mich einfach alles rund und stimmig. Wird die Geschichte Homophobie umstimmen? Sicher nicht, aber ich glaube auch nicht, dass das das Anliegen des Autors war. Meiner Meinung nach ist es auch nicht nur ein Buch über Homosexualität, sondern vor allem die Erzählung eines jungen Menschen über seine Suche nach seiner Individualität und deren Akzeptanz. Ein ungeschönter Coming-of-Age-Roman, der auch Themen aufgreift, die ich so in anderen Büchern des Genres so noch nicht gefunden habe.

Ich bin mir bewusst, dass nicht jeder den gleichen Enthusiasmus für „Die Lüge“ aufbringen wird, wie ich. Vielleicht wird der Roman sogar polarisieren. Aber auch das würde mich nur noch mehr von ihm überzeugen, weil nicht nur das Thema an sich schon für hitzige Gemüter sorgt, sondern auch die Frage, wie man es präsentieren und aufarbeiten sollte. Und meiner Meinung hat Franko da einen guten Weg gewählt, indem er einfach authentisch und ehrlich bleibt, und das bis zu einem Punkt, der auch mal weh tut. Ich bin jedenfalls ziemlich sicher, einen meiner Top Ten Romane des Jahres 2022 gefunden zu haben. Ein mutiges Buch und eine riesige Leseempfehlung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.04.2022
Butter (MP3-Download)
Yuzuki, Asako

Butter (MP3-Download)


weniger gut

Rika ist eine junge Journalistin, die den Ehrgeiz hat, von der wegen mehrfachem Mordes an ihren Verehrern angeklagten Manako Kajii ein Interview zu bekommen. Manako stimmt einem Treffen schließlich zu, aber nur unter der Voraussetzung, dass nur über ihre Kochkunst, nicht über den Fall gesprochen wird. Während der Treffen im Gefängnis gerät Rika immer mehr in den Bann der charismatischen Frau, fängt an, ihr nachzueifern und Aufgaben zu erfüllen, die Manako ihr stellt. Erst als Rika durch ihre Recherchen beginnt, hinter die Fassade Manakos zu blicken, hat sie eine Chance, sich aus deren Bann zu lösen. Und sich selbst neu zu definieren.

Asako Yuzuki ist in Japan nicht unbekannt. Einige ihrer Romane wurden verfilmt und sie wurde mehrfach für literarische Preise nominiert. Alleine für den Naoki-Preis war sie fünfmal gelistet. Was das qualitativ über sie aussagt, ist mir allerdings unklar. Wikipedia erklärt den Naoki-Preis zum populär-unterhaltsamen Gegenstück des Akutagawa-Preises, der wiederum der Prix Goncourt Japans sein soll. Ihr Roman „Butter“, der lose auf der wahren Geschichte einer Frau namens Kanae Kijima basiert, erhielt jedenfalls eine solche Nominierung.

Diesen halbherzigen Ausflug über Yuzukis Bekanntheitsgrad und Anerkennung mache ich nur, weil mir sonst nicht viel Positives zu diesem Roman einfällt. Als leidenschaftliche Nicht-Köchin war ich wohl von Anfang an nicht die passendste Leserin für dieses Buch.

Schon bei der Thematik ist mir nicht wirklich klar, was die Autorin im Sinn hatte. Eine Gesellschaftskritik zur Rolle der Frau in Japan? Einen Krimi? Einen Selbstfindungsroman? Ein Kochbuch? Es spricht ja überhaupt nichts dagegen, mehrere Themen in einen Roman zu packen, aber dann muss es auch funktionieren. Bei Yuzuki ertrinkt alles im wahrsten Sinne des Wortes in Butter. Die Geschichte dümpelt wenig aussagekräftig vor sich hin, etwa zur Hälfte denkt man, jetzt kommt Fahrt rein, jetzt wird es spannender, aber schon plätschert es weiter mit unbekanntem Ziel. Auch die Figuren bleiben, vielleicht mit Ausnahme von Manako Kajii, farblos und langweilig. Ohne Namen hätte ich sie vermutlich nicht auseinanderhalten können. Und schließlich die Verknüpfung des Ganzen mit kulinarischen Aspekten, das hat für mich gar nicht funktioniert. Es hat die Geschichte nur noch mehr verwässert, andere Themen, die für sich durchaus interessant, wenn nicht sogar spannend hätten sein können, verdrängt.

Die Hörbuchversion wurde von Madiha Kelling Bergner eingelesen. Und auch hier kann ich leider nicht aufhören, zu kritisieren. Abgesehen davon, dass die Stimme viel zu jung war, fand ich das Vorgelesene auch eintönig und den Tonfall merkwürdig gequetscht. Amüsanter Weise wurde dadurch meine Einstellung zum Buch durchaus unterstrichen. Also doch irgendwie passend.

„Butter“ und ich haben sich also nicht gesucht und gefunden. Und ich bedaure das wirklich, weil ich fand, dass Yuzuki sehr spannende Ansätze bietet. Die Manipulation Rikas durch Manako, der Druck auf Frauen, für die die Wahl zwischen schlank sein oder genießen und einsam bleiben zu liegen scheint, die vielen Schichten der Figur Manakos, bei der nicht immer klar ist, was Realität und was ihre Erfindung ist, ihre Härte und gleichzeitige Verletzbarkeit... Das alles hätte wirklich fesseln können. Und tut es andere Leser vielleicht auch. Aber bei mir reicht es bedauerlicherweise nicht für eine Lese- bzw. Hörempfehlung.

Bewertung vom 28.04.2022
Der Tag des Opritschniks
Sorokin, Vladimir

Der Tag des Opritschniks


sehr gut

2027. Russland hat eine riesige Mauer um sein Gebiet gezogen und unterhält nur mit China noch zwischenstaatliche Beziehungen. So von dem Rest der Welt abgeschottet macht sich der Alleinherrscher, der Gossudar, daran, seine Feinde innerhalb der Mauer auszurotten. Die Intelligenzija, Journalisten, Künstler, Aufständische… Kurz, jeder mit einer abweichenden Meinung wird unschädlich gemacht. Während die Technik sich weiterentwickelt hat, sind die Methoden der Regierung ins Mittelalter zurückgefallen. Folter, Vergewaltigungen und Morde sind an der Tagesordnung. Während gleichzeitig Religion und Gleichheit aller Menschen propagiert wird. Der Staat ist streng nach Hierarchie aufgebaut, eine Hierarchie, in der Frauen praktisch nicht vorkommen.

In seinem 2006 in Russland erschienenen Roman „Der Tag des Opritschniks“ lässt Vladimir Sorokin Andrej Danilowitsch Komjaga, ein ranghohes Mitglied der Opritschnina, einen anscheinend normalen Tag seines Lebens im unbeschwerten Plauderton beschreiben. Die Opritschnina, das ist die Organisation, die dem Gossudaren direkt unterstellt ist und seine Probleme aus dem Weg räumt. Stolz sind sie, die Opritschniks. Sie haben Macht, sie haben Einfluss, sie haben Privilegien… Und Sonderrechte, die die Doppelmoral des Staates mehr als deutlich machen. Wir Leser folgen also Komjaga durch einen seiner Tage, der damit beginnt, seinen Dienstwagen mit dem täglich frischen Hundekopf zu schmücken. Ein Tag, an dem er foltern, morden und vergewaltigen wird, zum Wohle des Staates selbstverständlich. An dem er aber auch an Drogenexzessen und Orgien teilnimmt, die allem widersprechen, was dem Volk an Werten und Regeln aufgezwungen wird. Auch das auf Befehl der Vorgesetzten.

„Der Tag des Opritschniks“ ist eine verwirrende Lektüre. Was natürlich durch die aktuelle politische Lage verstärkt wird, in der man sich noch mehr versucht fühlt, das Szenarium des Buches mit der Realität und möglichen Entwicklungen zu vergleichen. Letztendlich hat sich mein Innerstes geweigert, Sorokins düstere Dystopie als vorstellbar zu akzeptieren. Aber ein kleiner nagender Zweifel ist spürbar geblieben, und das hat das Buch so besonders für mich gemacht. Nach dem Lesen fühlt man sich überrollt, entsetzt, angewidert. Und muss sich doch dem Wahrheitsgehalt stellen. Es ist mir aber wichtig, festzuhalten, dass der Roman für mich keine pure Russland-Kritik war. Die Themen, die Sorokin anspricht, sind viel zu universal, um ein Blame-Game daraus zu machen.

Ein großes Lob auch an den Übersetzer Andreas Tretner, der einige von Sorokins Büchern ins Deutsche übersetzt hat. Ich bin leider nicht in der Lage, sie im Original zu lesen, aber sie zu übersetzen kann nicht einfach gewesen sein. Chapeau!

Trotzdem ich das Buch sehr gut fand, zögere ich, eine komplett uneingeschränkte Leseempfehlung auszusprechen. Die Geschichte ist brutal, zermürbend sinnfrei, absurd… Und dann doch im Rahmen dessen wozu Menschen fähig sind. Wenn man sich dem stellen möchte, ist Sorokin wohl das Beste, was einem passieren kann.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.04.2022
Almas Sommer
Koppelstätter, Lenz

Almas Sommer


gut

Toblach in Südtirol im Jahre 1910. Seit acht Jahren sind Alma und Gustav Mahler verheiratet, aber es steht nicht gut um die Ehe. Die unterschiedlichen Charaktereigenschaften und Lebensvorstellungen des Paares machen ein gemeinsames Leben fast unmöglich. Alma auf der einen Seite ist eine umschwärmte junge Frau, die sich am wohlsten in der besseren Gesellschaft in Wien oder New York fühlt. Sie möchte feiern und flirten. An Gustav stellt sie vor allem den Anspruch, dass er weiter Erfolg haben und sie im Rampenlicht strahlen lassen soll. Gustav hingegen braucht die Ruhe und Abgeschiedenheit des Landlebens, um komponieren zu können. Er hat konventionelle Vorstellungen von der Ehe, die so weit führen, dass er Alma das Komponieren verboten hat. Er möchte eine Frau, die ihm den Rücken freihält und die er anbeten kann. Kommunikation scheint zwischen den Beiden, besonders seit dem Tod der älteren Tochter 1907 mit gerade mal vier Jahren, nicht mehr möglich.
Und in diesem Sommer 1910 erreicht die Krise einen nächsten Tiefpunkt in Gestalt von Walter Gropius, der kurz zuvor im Kurort Tobelbad eine Affäre mit Alma hatte und nun unangemeldet in Toblach auftaucht. Die Dorfbewohner haben ihre eigenen Vorstellungen davon, wie man mit solchen Gesellen umgeht, und als sie Gustav dazu drängen wollen, Gropius zu einem Duell herauszufordern, scheint eine Katastrophe unausweichlich.

Alma Mahler, bzw. in dem Fall Alma Mahler-Werfel, ist mir kürzlich in dem Thomas-Mann-Roman „The Magician“ von Colm Tóibín begegnet. Sie hat einen nicht gerade sympathischen, aber doch ausreichend interessanten Eindruck bei mir hinterlassen, um mich neugierig auf „Almas Sommer“ von Lenz Koppelstätter zu machen. Es ist Koppelstätters erster Roman, der sich nicht mit seinem Commissario Grauner, sondern historischen Personen beschäftigt, und damit komme ich ohne Umschweifen zu meinem Problem mit diesem Buch. Es ist eigentlich nicht wirklich sinnvoll, Romane miteinander zu vergleichen, aber da „The Magician“ noch so frisch in meiner Erinnerung ist, haben sich mir die Unterschiede automatisch aufgedrängt. Und der wesentliche lag daran, dass ich Tóibín seinen Thomas Mann von vorne bis hinten abgenommen habe. Natürlich ist ein Roman Fiktion, es ist ja nicht möglich und vielleicht auch nicht gewollt, sich nur an der Wahrheit zu orientieren. Aber bei der Lektüre von Tóibín hat diese Frage keine Rolle gespielt, bei Koppelstätter schon. Alma und Gustav haben mich einfach nicht überzeugt, sie wirkten hölzern in ihren Dialogen und unglaubwürdig in ihren Reaktionen. Und dieses Gefühl wurde stärker, je weiter der Roman fortschritt.

Was mir hingegen gut gefallen hat, war das Alternieren der Kapitel zwischen Almas und Gustavs Sicht. Diese Methode hat, besonders im ersten Teil des Romans, ein gelungenes Grundbild eines Ehepaares ergeben, aus dem nicht nur ersichtlich wurde, wie inkompatibel diese beiden Menschen eigentlich sind, sondern auch, wo sie Übereinstimmungen haben, die, wenn sie denn in der Lage gewesen wären, sie zu kommunizieren, das gemeinsame Leben sehr viel einfacher hätte machen können. Sehr schön ist auch die Fähigkeit Koppelstätters, Umgebung und Menschen zu beschreiben, ohne langatmig abzuschweifen. Er hat damit eines der Bücher geschaffen, bei denen man meint, man wäre selbst vor Ort gewesen.

Trotzdem konnte mich „Almas Sommer“ dann am Ende doch nicht ganz überzeugen. Ich habe die Lektüre mit viel Enthusiasmus begonnen, um das Buch dann doch immer öfter aus der Hand zu legen, obwohl es durchaus eine angenehme Lektüre war. Und vielleicht sogar eine, dessen Bilder mich noch länger begleiten werden. Aber auch eine, die mich wegen der oben genannten Kritikpunkte ein wenig unbefriedigt zurückgelassen hat. Die Basis hat für mich gestimmt, die darauf aufgebaute Geschichte nicht. Doch zum Glück liest ja jeder Leser anders und ich wünsche auch diesem Roman viel Erfolg.

Bewertung vom 21.04.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


ausgezeichnet

Mélanie Diore ist da, wo sie immer sein wollte. Ihr YouTube-Kanal, in dem sie vor allem Sohn Sammy und Tochter Kimmy beim Unboxing, Einkaufen und generell in jeder Lebenslage zeigt, ist der beliebteste seiner Art in Frankreich. Werbeverträge rollen rein, Geld auch, viel Geld. Aber vor allem erfährt Mélanie durch ihre Fan-Gemeinde die Liebe und Aufmerksamkeit, die sie sich seit ihrer Kindheit, in der Darsteller aus Reality-Shows ihre großen Vorbilder waren, erträumt hat. Dass ihre Kinder, besonders Kimmy, immer verschlossener, lustloser und stiller werden, merkt sie nicht, schiebt sie auf eine schwere Phase. Doch dann verschwindet Kimmy eines Tages beim Spielen vor dem Haus spurlos …

Vor einigen Monaten sah ich auf YouTube eine kurze Dokumentation über das Phänomen, wie manche Eltern ihre Kinder im Internet inszenieren. Mich hat dabei nicht nur erstaunt, auf was für Ideen diese Väter und Mütter kommen und wie viel Geld sie damit verdienen, sondern auch, dass diese Kanäle so viele Follower haben. Offensichtlich entgeht mir der Charme kleiner Mädchen und Jungen, die 40 Spielzeugkartons auf einmal auspacken und dazu 5 Liter Eis verputzen. Interessant wird das Thema natürlich vor allem durch die Frage, was der frühe Ruhm, aber auch die Arbeit, die hinter diesen Videos steckt, mit den Kleinen macht, die kaum noch Privatsphäre haben, dafür aber Kommentaren aller Couleur ausgesetzt sind. Was macht das psychisch? Und wie kann man sie gesetzlich schützen?

Delphine de Vigan greift genau diese wichtigen Themen in ihrem Roman „Die Kinder sind Könige“ auf, und da ich schon länger etwas von dieser Autorin lesen wollte, kam dieses Buch wie gerufen. Und es las sich hervorragend, die Mischung aus Krimi und Sozialkritik ist durchaus aufgegangen.

Was den Roman auch interessant macht, ist seine Gliederung in drei Perspektiven. Zum einen haben wir den Blick auf Mélanie, die ruhmsüchtige Mutter mit der festen Überzeugung, das Richtige für ihre Kinder zu tun. Eine Art Gegenpol bietet Clara, ein Mitglied des polizeilichen Ermittlungsteams, durch die de Vigan die Möglichkeit hat, Hintergrundfakten zum Thema Youtube-Kinder einfließen zu lassen (und die sind erstaunlich, ich habe mir einiges durch das Internet bestätigen lassen, weil ich es nicht glauben konnte). Und die dritte Ebene bilden die Protokolle der von der Polizei durchgeführten Verhöre und Untersuchungsergebnisse, die, kurz und knapp, den Spannungsbogen noch mal etwas straffer spannen.

Was mich etwas verwundert hat, war de Vigans Schreibstil. Nicht, dass er schlecht gewesen wäre, aber er war auch nichts Besonderes. Da hatte ich mehr erwartet, eine eigene, unverkennbare Stimme. Allerdings habe ich gelesen, dass ihre vorherigen Werke ganz anders sein sollen. Vielleicht gilt das auch für die Sprache. Ich habe den einfachen, eher durchschnittlichen Stil auch nicht als störend empfunden, ich war viel zu sehr von Geschichte und Thema gefesselt.

Ob ich ein de Vigan-Fan werde, kann ich nicht sagen. Aber ich habe schon länger kein Buch mehr so wenig aus der Hand legen können, wie „Die Kinder sind Könige“, und werde mir auf jeden Fall noch andere Romane der Autorin ins Haus holen. Und diesen hier weiterempfehlen.

Bewertung vom 15.04.2022
Wo die Wölfe sind
McConaghy, Charlotte

Wo die Wölfe sind


gut

Inti und ihre Zwillingsschwester Aggie wachsen teilweise bei ihrer Mutter, einer Anwältin, in der Stadt auf, teilweise bei ihrem Vater, der als Selbstversorger in der Wildnis lebt, und seinen Töchtern die Liebe zur und den Respekt vor der Natur nahebringt.
Als Erwachsene verschlägt es die beiden nach Schottland, wo Inti Leiterin eines Wiederansiedlungsprojekts für Wölfe wird. Zu ihren Aufgaben gehört es nicht nur, die Tiere zu überwachen, sondern auch, die zu erwartenden Konflikte mit den Bewohnern der Gegend zu klären. Und die lassen nicht lange auf sich warten. Die Begeisterung für die neuen wilden Nachbarn ist von Anfang an nicht sonderlich groß und der Missmut verstärkt sich, als die ersten Nutztiere gerissen werden. Aber als schließlich ein Mensch spurlos verschwindet, kippt die Stimmung und die Situation droht für alle beteiligten Seiten gefährlich zu werden.

Ich hatte hohe Erwartungen an „Wo die Wölfe sind“ von Charlotte McConaghy. Das lag zum einen daran, dass das Buch mir immer wieder begegnete und viel Begeisterung auszulösen schien, zum anderen an dem wichtigen Thema. Die Renaturierung durch Wiederansiedlung von Raubtieren ist zum einen so essenziell für das Überleben unseres Planeten, und zum anderen mit so vielen Ängsten verbunden, dass ich es großartig fand, dass ein Roman sich dieses Themas annimmt und so nicht nur den Fokus darauf lenkt, sondern auch zu einem tieferen Verständnis beitragen kann.

Man ahnt es vermutlich schon, meine Erwartungen haben sich – ich würde nicht sagen gar nicht, aber nur zu einem geringen Teil erfüllt. Das lag zum einen daran, dass McConaghy den Ehrgeiz aufbringt, eine Vielzahl von Themen in ihrem Buch unterzubringen. Im Prinzip nimmt sie das Naturthema, mixt es mit einem Kriminalroman und behandelt das ganze wie eine YA Romanze. Dazu eine sehr ordentliche Portion häusliche Gewalt und zusätzlich leidet Inti noch unter Mirror-Touch-Synesthesie (heißt, sie fühlt körperliche Sensationen anderer am eigenen Leib, wenn sie Augenzeugin ist). Ein ehrgeiziges Unterfangen, das nicht aufgeht. Außerdem häuft die Autorin so viel (Melo-)Drama an, dass das ganze einfach nicht mehr glaubwürdig ist. Und wenn es dann noch so offensichtlich, dass sie dem Leser (manchmal, zugegebenermaßen, mit Erfolg) seine stärksten Gefühlsregungen abringen will, kann man nur noch die Augen verdrehen.

Die Hörbuchversion wird von Eva Meckbach gelesen. Und diese trifft den Stil der Autorin sehr gut. Ob man das jetzt positiv findet, oder nicht, ist dann wieder eine andere Frage, aber treffend ist es durchaus. Mir war ihre Stimme allerdings etwas zu jung. Die Inti, die mit Vater und Schwester durch die Wälder streift, habe ich ihr noch abgenommen, die Erwachsene nicht mehr.

Ich habe öfters gesehen, dass Rezensenten für dieses Buch Trigger-Warnungen gefordert haben. Für mich ist das Konzept von Trigger-Warnungen bei Büchern noch ganz neu und ich frage mich, wie man sie umsetzen kann, ohne zu viel über den Inhalt zu verraten. Aus diesem Grund würde ich hier auch keine aufzählen wollen, aber es soll doch gesagt sein, dass der Roman einige schwere Themen und sehr harte Szenen beinhaltet, die man, wenn man nur den Text auf dem Cover kennt, nicht erwarten würde.

Aber kommen wir zum versöhnlichen Fazit: Der aufmerksame Leser hat es vielleicht gemerkt, „Wo die Wölfe sind“ war nicht das, was ich mir erhofft hatte, und ja, das nehme ich ihm ein wenig übel. Trotzdem gibt es viele begeisterte Stimmen zu diesem Buch, und diejenigen, die die von mir gemachten Einwände nicht stören, können sich auch einfach fallen lassen und das ganze genießen. Und ein wenig über diese großartigen Tiere nachdenken, die sich ja erfreulicherweise auch bei uns langsam wieder ansiedeln.

Bewertung vom 13.04.2022
Leo und Dora
Krup, Agnes

Leo und Dora


gut

In den 1920ern war Leo Perlstein ein bekannter und gefragter Schriftsteller. Doch diese Zeiten sind vorbei. Seine Bücher wurden von den Nazis verbrannt, er selbst lebt seit 10 Jahren im Exil in Tel Aviv und leidet unter einer Schreibblockade. Um ihm zu helfen, bietet ihm seine Agentin Alma während ihrer Abwesenheit ihr Landhaus in Connecticut an. Leo stimmt zu, aber als er in den Staaten eintrifft, ist Almas Haus abgebrannt und das Gasthaus „Roxy“, das ihm als Notunterkunft besorgt wurde, stellt sich von vorne bis hinten als Ärgernis heraus. Und spuken tut es dort auch noch. Aber nach und nach arrangiert Leo sich mit der Situation und findet neue Freunde. Zu denen auch Wirtin Dora gehört.

„Leo und Dora“ – ein wenig ist es mir ein Rätsel, was mit diesem Roman passiert ist. Agnes Krup hat ein Talent dafür, originelle, lebensnahe Figuren zu erschaffen, das sieht man ganz deutlich an ihren Nebenfiguren. Ottonie Kniffel, die schwäbische Köchin aus „Plo-chin-ge [] Mit N hinte“, mit ihren fragwürdigen Kochkünsten, Hotelgast Flottie, die keinerlei Gespür für Zurückhaltung und peinliche Situationen hat, Telefonistin Ellie und Mitbenutzerin der Gemeinschaftsleitung Maisy, die nicht nur anderer Leute Gespräche mit anhören, sondern auch gerne ihre Meinung einbringen, das Ehepaar Geringer, die Dorfbewohner… Sie alles sind Charaktere, die an jene einer Strout oder eines Harufs erinnern. Aber ausgerechnet Protagonist Leo bleibt sehr unförmig, schwer greifbar, und, ich muss es leider so sagen, langweilig. Dora mag da ein wenig mehr zu bieten haben, aber auch nicht genug, um das ganze zu retten.

Auch der Schreibstil hatte für meinen Geschmack nicht viel zu bieten, er war ebenso farblos, wie Leo selbst, fast schon ein wenig hausbacken. Und wenn man dann noch hinzunimmt, dass auch die Geschichte an sich eher beschaulich vor sich hindümpelt, dann bleibt bedauerlicherweise für ein Leseerlebnis nicht mehr viel übrig. Und auch das ist merkwürdig, denn vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und den oft harten Schicksalen der Figuren wäre eigentlich genug Material für Tiefe gegeben gewesen.

Trotz all der Kritik liest sich „Leo und Dora“ nicht schlecht. Über allem liegt ein kleiner Zauber von Sympathie, wie ein Sommerurlaub, an den man sich gerne zurückerinnert. Eine Wohlfühlatmosphäre, die man in den Alltag mitnehmen kann. Letztendlich ist also die Frage entscheidend, was der Leser in einem Buch sucht. Ich bin nicht fündig geworden, aber das wird sicherlich nicht jedem so gehen.