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Bücherbummler

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Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 22.04.2022
Almas Sommer
Koppelstätter, Lenz

Almas Sommer


gut

Toblach in Südtirol im Jahre 1910. Seit acht Jahren sind Alma und Gustav Mahler verheiratet, aber es steht nicht gut um die Ehe. Die unterschiedlichen Charaktereigenschaften und Lebensvorstellungen des Paares machen ein gemeinsames Leben fast unmöglich. Alma auf der einen Seite ist eine umschwärmte junge Frau, die sich am wohlsten in der besseren Gesellschaft in Wien oder New York fühlt. Sie möchte feiern und flirten. An Gustav stellt sie vor allem den Anspruch, dass er weiter Erfolg haben und sie im Rampenlicht strahlen lassen soll. Gustav hingegen braucht die Ruhe und Abgeschiedenheit des Landlebens, um komponieren zu können. Er hat konventionelle Vorstellungen von der Ehe, die so weit führen, dass er Alma das Komponieren verboten hat. Er möchte eine Frau, die ihm den Rücken freihält und die er anbeten kann. Kommunikation scheint zwischen den Beiden, besonders seit dem Tod der älteren Tochter 1907 mit gerade mal vier Jahren, nicht mehr möglich.
Und in diesem Sommer 1910 erreicht die Krise einen nächsten Tiefpunkt in Gestalt von Walter Gropius, der kurz zuvor im Kurort Tobelbad eine Affäre mit Alma hatte und nun unangemeldet in Toblach auftaucht. Die Dorfbewohner haben ihre eigenen Vorstellungen davon, wie man mit solchen Gesellen umgeht, und als sie Gustav dazu drängen wollen, Gropius zu einem Duell herauszufordern, scheint eine Katastrophe unausweichlich.

Alma Mahler, bzw. in dem Fall Alma Mahler-Werfel, ist mir kürzlich in dem Thomas-Mann-Roman „The Magician“ von Colm Tóibín begegnet. Sie hat einen nicht gerade sympathischen, aber doch ausreichend interessanten Eindruck bei mir hinterlassen, um mich neugierig auf „Almas Sommer“ von Lenz Koppelstätter zu machen. Es ist Koppelstätters erster Roman, der sich nicht mit seinem Commissario Grauner, sondern historischen Personen beschäftigt, und damit komme ich ohne Umschweifen zu meinem Problem mit diesem Buch. Es ist eigentlich nicht wirklich sinnvoll, Romane miteinander zu vergleichen, aber da „The Magician“ noch so frisch in meiner Erinnerung ist, haben sich mir die Unterschiede automatisch aufgedrängt. Und der wesentliche lag daran, dass ich Tóibín seinen Thomas Mann von vorne bis hinten abgenommen habe. Natürlich ist ein Roman Fiktion, es ist ja nicht möglich und vielleicht auch nicht gewollt, sich nur an der Wahrheit zu orientieren. Aber bei der Lektüre von Tóibín hat diese Frage keine Rolle gespielt, bei Koppelstätter schon. Alma und Gustav haben mich einfach nicht überzeugt, sie wirkten hölzern in ihren Dialogen und unglaubwürdig in ihren Reaktionen. Und dieses Gefühl wurde stärker, je weiter der Roman fortschritt.

Was mir hingegen gut gefallen hat, war das Alternieren der Kapitel zwischen Almas und Gustavs Sicht. Diese Methode hat, besonders im ersten Teil des Romans, ein gelungenes Grundbild eines Ehepaares ergeben, aus dem nicht nur ersichtlich wurde, wie inkompatibel diese beiden Menschen eigentlich sind, sondern auch, wo sie Übereinstimmungen haben, die, wenn sie denn in der Lage gewesen wären, sie zu kommunizieren, das gemeinsame Leben sehr viel einfacher hätte machen können. Sehr schön ist auch die Fähigkeit Koppelstätters, Umgebung und Menschen zu beschreiben, ohne langatmig abzuschweifen. Er hat damit eines der Bücher geschaffen, bei denen man meint, man wäre selbst vor Ort gewesen.

Trotzdem konnte mich „Almas Sommer“ dann am Ende doch nicht ganz überzeugen. Ich habe die Lektüre mit viel Enthusiasmus begonnen, um das Buch dann doch immer öfter aus der Hand zu legen, obwohl es durchaus eine angenehme Lektüre war. Und vielleicht sogar eine, dessen Bilder mich noch länger begleiten werden. Aber auch eine, die mich wegen der oben genannten Kritikpunkte ein wenig unbefriedigt zurückgelassen hat. Die Basis hat für mich gestimmt, die darauf aufgebaute Geschichte nicht. Doch zum Glück liest ja jeder Leser anders und ich wünsche auch diesem Roman viel Erfolg.

Bewertung vom 21.04.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


ausgezeichnet

Mélanie Diore ist da, wo sie immer sein wollte. Ihr YouTube-Kanal, in dem sie vor allem Sohn Sammy und Tochter Kimmy beim Unboxing, Einkaufen und generell in jeder Lebenslage zeigt, ist der beliebteste seiner Art in Frankreich. Werbeverträge rollen rein, Geld auch, viel Geld. Aber vor allem erfährt Mélanie durch ihre Fan-Gemeinde die Liebe und Aufmerksamkeit, die sie sich seit ihrer Kindheit, in der Darsteller aus Reality-Shows ihre großen Vorbilder waren, erträumt hat. Dass ihre Kinder, besonders Kimmy, immer verschlossener, lustloser und stiller werden, merkt sie nicht, schiebt sie auf eine schwere Phase. Doch dann verschwindet Kimmy eines Tages beim Spielen vor dem Haus spurlos …

Vor einigen Monaten sah ich auf YouTube eine kurze Dokumentation über das Phänomen, wie manche Eltern ihre Kinder im Internet inszenieren. Mich hat dabei nicht nur erstaunt, auf was für Ideen diese Väter und Mütter kommen und wie viel Geld sie damit verdienen, sondern auch, dass diese Kanäle so viele Follower haben. Offensichtlich entgeht mir der Charme kleiner Mädchen und Jungen, die 40 Spielzeugkartons auf einmal auspacken und dazu 5 Liter Eis verputzen. Interessant wird das Thema natürlich vor allem durch die Frage, was der frühe Ruhm, aber auch die Arbeit, die hinter diesen Videos steckt, mit den Kleinen macht, die kaum noch Privatsphäre haben, dafür aber Kommentaren aller Couleur ausgesetzt sind. Was macht das psychisch? Und wie kann man sie gesetzlich schützen?

Delphine de Vigan greift genau diese wichtigen Themen in ihrem Roman „Die Kinder sind Könige“ auf, und da ich schon länger etwas von dieser Autorin lesen wollte, kam dieses Buch wie gerufen. Und es las sich hervorragend, die Mischung aus Krimi und Sozialkritik ist durchaus aufgegangen.

Was den Roman auch interessant macht, ist seine Gliederung in drei Perspektiven. Zum einen haben wir den Blick auf Mélanie, die ruhmsüchtige Mutter mit der festen Überzeugung, das Richtige für ihre Kinder zu tun. Eine Art Gegenpol bietet Clara, ein Mitglied des polizeilichen Ermittlungsteams, durch die de Vigan die Möglichkeit hat, Hintergrundfakten zum Thema Youtube-Kinder einfließen zu lassen (und die sind erstaunlich, ich habe mir einiges durch das Internet bestätigen lassen, weil ich es nicht glauben konnte). Und die dritte Ebene bilden die Protokolle der von der Polizei durchgeführten Verhöre und Untersuchungsergebnisse, die, kurz und knapp, den Spannungsbogen noch mal etwas straffer spannen.

Was mich etwas verwundert hat, war de Vigans Schreibstil. Nicht, dass er schlecht gewesen wäre, aber er war auch nichts Besonderes. Da hatte ich mehr erwartet, eine eigene, unverkennbare Stimme. Allerdings habe ich gelesen, dass ihre vorherigen Werke ganz anders sein sollen. Vielleicht gilt das auch für die Sprache. Ich habe den einfachen, eher durchschnittlichen Stil auch nicht als störend empfunden, ich war viel zu sehr von Geschichte und Thema gefesselt.

Ob ich ein de Vigan-Fan werde, kann ich nicht sagen. Aber ich habe schon länger kein Buch mehr so wenig aus der Hand legen können, wie „Die Kinder sind Könige“, und werde mir auf jeden Fall noch andere Romane der Autorin ins Haus holen. Und diesen hier weiterempfehlen.

Bewertung vom 15.04.2022
Wo die Wölfe sind
McConaghy, Charlotte

Wo die Wölfe sind


gut

Inti und ihre Zwillingsschwester Aggie wachsen teilweise bei ihrer Mutter, einer Anwältin, in der Stadt auf, teilweise bei ihrem Vater, der als Selbstversorger in der Wildnis lebt, und seinen Töchtern die Liebe zur und den Respekt vor der Natur nahebringt.
Als Erwachsene verschlägt es die beiden nach Schottland, wo Inti Leiterin eines Wiederansiedlungsprojekts für Wölfe wird. Zu ihren Aufgaben gehört es nicht nur, die Tiere zu überwachen, sondern auch, die zu erwartenden Konflikte mit den Bewohnern der Gegend zu klären. Und die lassen nicht lange auf sich warten. Die Begeisterung für die neuen wilden Nachbarn ist von Anfang an nicht sonderlich groß und der Missmut verstärkt sich, als die ersten Nutztiere gerissen werden. Aber als schließlich ein Mensch spurlos verschwindet, kippt die Stimmung und die Situation droht für alle beteiligten Seiten gefährlich zu werden.

Ich hatte hohe Erwartungen an „Wo die Wölfe sind“ von Charlotte McConaghy. Das lag zum einen daran, dass das Buch mir immer wieder begegnete und viel Begeisterung auszulösen schien, zum anderen an dem wichtigen Thema. Die Renaturierung durch Wiederansiedlung von Raubtieren ist zum einen so essenziell für das Überleben unseres Planeten, und zum anderen mit so vielen Ängsten verbunden, dass ich es großartig fand, dass ein Roman sich dieses Themas annimmt und so nicht nur den Fokus darauf lenkt, sondern auch zu einem tieferen Verständnis beitragen kann.

Man ahnt es vermutlich schon, meine Erwartungen haben sich – ich würde nicht sagen gar nicht, aber nur zu einem geringen Teil erfüllt. Das lag zum einen daran, dass McConaghy den Ehrgeiz aufbringt, eine Vielzahl von Themen in ihrem Buch unterzubringen. Im Prinzip nimmt sie das Naturthema, mixt es mit einem Kriminalroman und behandelt das ganze wie eine YA Romanze. Dazu eine sehr ordentliche Portion häusliche Gewalt und zusätzlich leidet Inti noch unter Mirror-Touch-Synesthesie (heißt, sie fühlt körperliche Sensationen anderer am eigenen Leib, wenn sie Augenzeugin ist). Ein ehrgeiziges Unterfangen, das nicht aufgeht. Außerdem häuft die Autorin so viel (Melo-)Drama an, dass das ganze einfach nicht mehr glaubwürdig ist. Und wenn es dann noch so offensichtlich, dass sie dem Leser (manchmal, zugegebenermaßen, mit Erfolg) seine stärksten Gefühlsregungen abringen will, kann man nur noch die Augen verdrehen.

Die Hörbuchversion wird von Eva Meckbach gelesen. Und diese trifft den Stil der Autorin sehr gut. Ob man das jetzt positiv findet, oder nicht, ist dann wieder eine andere Frage, aber treffend ist es durchaus. Mir war ihre Stimme allerdings etwas zu jung. Die Inti, die mit Vater und Schwester durch die Wälder streift, habe ich ihr noch abgenommen, die Erwachsene nicht mehr.

Ich habe öfters gesehen, dass Rezensenten für dieses Buch Trigger-Warnungen gefordert haben. Für mich ist das Konzept von Trigger-Warnungen bei Büchern noch ganz neu und ich frage mich, wie man sie umsetzen kann, ohne zu viel über den Inhalt zu verraten. Aus diesem Grund würde ich hier auch keine aufzählen wollen, aber es soll doch gesagt sein, dass der Roman einige schwere Themen und sehr harte Szenen beinhaltet, die man, wenn man nur den Text auf dem Cover kennt, nicht erwarten würde.

Aber kommen wir zum versöhnlichen Fazit: Der aufmerksame Leser hat es vielleicht gemerkt, „Wo die Wölfe sind“ war nicht das, was ich mir erhofft hatte, und ja, das nehme ich ihm ein wenig übel. Trotzdem gibt es viele begeisterte Stimmen zu diesem Buch, und diejenigen, die die von mir gemachten Einwände nicht stören, können sich auch einfach fallen lassen und das ganze genießen. Und ein wenig über diese großartigen Tiere nachdenken, die sich ja erfreulicherweise auch bei uns langsam wieder ansiedeln.

Bewertung vom 13.04.2022
Leo und Dora
Krup, Agnes

Leo und Dora


gut

In den 1920ern war Leo Perlstein ein bekannter und gefragter Schriftsteller. Doch diese Zeiten sind vorbei. Seine Bücher wurden von den Nazis verbrannt, er selbst lebt seit 10 Jahren im Exil in Tel Aviv und leidet unter einer Schreibblockade. Um ihm zu helfen, bietet ihm seine Agentin Alma während ihrer Abwesenheit ihr Landhaus in Connecticut an. Leo stimmt zu, aber als er in den Staaten eintrifft, ist Almas Haus abgebrannt und das Gasthaus „Roxy“, das ihm als Notunterkunft besorgt wurde, stellt sich von vorne bis hinten als Ärgernis heraus. Und spuken tut es dort auch noch. Aber nach und nach arrangiert Leo sich mit der Situation und findet neue Freunde. Zu denen auch Wirtin Dora gehört.

„Leo und Dora“ – ein wenig ist es mir ein Rätsel, was mit diesem Roman passiert ist. Agnes Krup hat ein Talent dafür, originelle, lebensnahe Figuren zu erschaffen, das sieht man ganz deutlich an ihren Nebenfiguren. Ottonie Kniffel, die schwäbische Köchin aus „Plo-chin-ge [] Mit N hinte“, mit ihren fragwürdigen Kochkünsten, Hotelgast Flottie, die keinerlei Gespür für Zurückhaltung und peinliche Situationen hat, Telefonistin Ellie und Mitbenutzerin der Gemeinschaftsleitung Maisy, die nicht nur anderer Leute Gespräche mit anhören, sondern auch gerne ihre Meinung einbringen, das Ehepaar Geringer, die Dorfbewohner… Sie alles sind Charaktere, die an jene einer Strout oder eines Harufs erinnern. Aber ausgerechnet Protagonist Leo bleibt sehr unförmig, schwer greifbar, und, ich muss es leider so sagen, langweilig. Dora mag da ein wenig mehr zu bieten haben, aber auch nicht genug, um das ganze zu retten.

Auch der Schreibstil hatte für meinen Geschmack nicht viel zu bieten, er war ebenso farblos, wie Leo selbst, fast schon ein wenig hausbacken. Und wenn man dann noch hinzunimmt, dass auch die Geschichte an sich eher beschaulich vor sich hindümpelt, dann bleibt bedauerlicherweise für ein Leseerlebnis nicht mehr viel übrig. Und auch das ist merkwürdig, denn vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und den oft harten Schicksalen der Figuren wäre eigentlich genug Material für Tiefe gegeben gewesen.

Trotz all der Kritik liest sich „Leo und Dora“ nicht schlecht. Über allem liegt ein kleiner Zauber von Sympathie, wie ein Sommerurlaub, an den man sich gerne zurückerinnert. Eine Wohlfühlatmosphäre, die man in den Alltag mitnehmen kann. Letztendlich ist also die Frage entscheidend, was der Leser in einem Buch sucht. Ich bin nicht fündig geworden, aber das wird sicherlich nicht jedem so gehen.

Bewertung vom 11.04.2022
Zukunftsmusik (MP3-Download)
Poladjan, Katerina

Zukunftsmusik (MP3-Download)


sehr gut

Es ist der 11. August 1985. Aus dem Radio schallt Chopins Trauermarsch, ein Zeichen, dass im fernen Moskau ein wichtiger Funktionär gestorben sein muss. Wer und welche Bedeutung das für die Zukunft haben wird, kann zu dem Zeitpunkt niemand wissen, am Rande wird spekuliert, aber im Großen und Ganzen geht das Leben seinen gewohnten Gang.

Auch in der Kommunalka, in die uns Katerina Poladjan in ihrem Roman „Zukunftsmusik“ entführt. Sechs Einheiten teilen sich hier eine Wohnung, ein Raum steht jeder Familie oder Einzelperson zu, Bad und Küche müssen geteilt werden. Beengend ist das, auch für Maria, die sich mit ihrer Mutter Warwara, erwachsenen Tochter Janka und Enkelin Kroschka (=Krümel) ein Zimmer teilen muss. Weitestgehend hat sie sich mit ihrem Los abgefunden, aber ein wenig Hoffnung und Sehnsucht nach einem anderen Leben bleibt. Viel größer sind da noch die Pläne ihrer Tochter Janka, die Musikerin werden, und für diesen Abend ein Konzert mit selbstgeschriebenen Liedern in der Küche geben will. Lieder, die vielleicht die titelgebende Zukunftsmusik sein könnten. Oder ist es doch Chopins Trauermarsch?

Poladjan zeichnet ihre Figuren wunderbar nah und liebenswert, mit all ihren Schrullen und Eigenheiten. Ich habe mich oft an die alten sowjetischen Spielfilme erinnert gefühlt, so bildlich stand mir alles vor Augen. Und ich hätte mir gewünscht, dass der Roman noch einige Seiten mehr hätte, mich weiter am Leben der Charaktere teilhaben lässt, als mir nur den Blick auf diesen einen Tag zu gönnen.

Erinnert gefühlt habe ich mich auch an die Figuren aus den Theaterstücken Tschechows. Diese ganz eigene Grundstimmung aus Langeweile, Resignation, Bewegungslosigkeit auf der einen Seite und Hoffnung, Plänen und Träumen auf der anderen strahlt „Zukunftsmusik“ ebenfalls aus.

Was für mich persönlich nicht gut funktioniert hat, war der Windstoß an Surrealem, der spät im Roman recht unvermittelt auftaucht. Ich vermute, er steht sinnbildlich für ein sich auftun von Möglichkeiten, die man vorher nicht für möglich gehalten hat, aber ich gehöre eher zu den Lesern, die alles vorbuchstabiert bekommen möchten. Mit Surrealismus kann ich nur selten etwas anfangen und das war keiner dieser Momente.

Gelesen wird die Hörbuchversion von Ulrich Noethen, dessen Stimme ich sehr mag. Er gehört allerdings zu den Vorlesern, die die einzelnen Charaktere nicht extrem ausmodellieren, wogegen in der Regel nichts spricht. Aber in diesem speziellen Fall wusste ich tatsächlich ein oder zwei Mal nicht, welche der Figuren gerade das Wort hatte. Doch das ist klagen auf hohem Niveau, auf jeden Fall ist es eine gelungene Einspielung geworden.

Fazit: ein lesenswerter Roman, sowohl sprachlich, als auch inhaltlich, dessen Einschränkungen alleine dem persönlichen Geschmack der Rezensentin geschuldet sind. Ich bin sicher, dass er seine Leser finden wird. Verdient.

Bewertung vom 04.04.2022
Nachtbeeren
Penner, Elina

Nachtbeeren


ausgezeichnet

Die Neufelds sind mennonitische Aussiedler aus Russland, die ihre neue Heimat in Minden gefunden haben. Dort leben sie weitestgehend unter sich, pflegen ihre Werte und Traditionen, kochen nach den alten Rezepten und reden Plautdietsch, einen deutschen Dialekt mit Einsprengseln besonders aus dem Russischen. Zu den Traditionen gehört das sonntägliche Treffen, bei dem man stundenlang zusammensitzt, isst und Neuigkeiten austauscht. Teil der Familie Neufeld ist auch Nelli, die als Kind in den 1990ern nach Minden kam und mittlerweile selbst verheiratet und Mutter eines 15-jährigen Sohns ist. Nelli ist eine Bekehrte, was heißt, dass sie streng nach den Glaubensregeln lebt. Die Familie, die Zugehörigkeit, sind ihr wichtig. Doch an diesem Sonntag ist sie nicht bei der Sache. Immer wieder schweifen ihre Gedanken zu ihrem Mann Kornelius, der ihr am Donnerstag eröffnet hatte, dass er sie wegen einer anderen verlassen will. Seitdem ist er verschwunden. Wo ist er? Lebt er noch? Und wenn nicht, hat Nelli etwas damit zu tun?

„Nachtbeeren“, das Debüt von Elina Penner, ist kein Krimi. Aber was ist es dann? Eine Familiengeschichte? Ein Roman über Mennoniten? Über Aussiedler? Über die Suche nach Heimat und Zugehörigkeit? Über Integration? Über prägende Erlebnisse der Kindheit? Über Selbstfindung? Abgrenzung? Er ist alles das, aber vor allem eins: gelungen.

Penner schreibt mit leichter, oft amüsanter Hand, karikiert und konterkariert in einem Streich. Als Leserin musste ich öfter innehalten, weil mir erst mit Verzögerung klar geworden ist, was mir gerade im lockeren Tonfall mitgeteilt wurde. Welche prägenden Erfahrungen ihre Figuren gemacht haben, wie tief die Verletzungen gehen. Und dabei entwickelt sie einen Spannungsboden, den man durchaus mit „Suspense“ bezeichnen kann. Ich habe schon länger nicht mehr mit so viel Ungeduld Seiten umgeblättert.

Was man aus „Nachtbeeren“ mitnimmt, ist vielfältig. Es war ungemein interessant, mehr über Mennoniten zu erfahren, über ihr Leben in Deutschland, über das ich überhaupt nichts wusste. Aber die eigentliche Geschichte ging nicht darin unter. Penner hat eine sehr gute Balance zwischen ihren Themen gefunden, sie verflochten, ohne dass eine zwangsläufige Verkettung entstanden wäre, die sich auf einen „Kulturkreis“ beschränkt hätte.

„Nachtbeeren“ war eine Zufallsentdeckung, über die ich sehr froh bin. Es war zwar kein Buch, das einem den Atem raubt und völlig erschlagen oder beseelt zurücklässt. Aber es war eins, dessen Lektüre viel Spaß gemacht hat, eins, von dem ich erwarte, dass es einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Und Elina Penner werde ich ab sofort im Auge behalten.

Bewertung vom 01.04.2022
Serge
Reza, Yasmina

Serge


ausgezeichnet

Die Geschwister Popper in der Gedenkstätte Auschwitz/Birkenau. Mit eher gemäßigtem Enthusiasmus. Serge, der Älteste, ist eigentlich nur da, weil er dazu verdonnert wurde, seine erwachsene Tochter Joséphine zu begleiten, die sich nach dem Tod ihrer Großmutter für ihre jüdischen Wurzeln und den Ort, an dem Vorfahren von ihr umgebracht wurden, interessiert – ein Thema, das die Popper-Geschwister nie weiter beschäftigt hat. Weswegen Nana, die jüngste, beschließt, dass sie auch mitfahren sollte, jetzt, wo es zu spät ist, die Mutter zu befragen. Und wo Serge und Nana zusammen sind, da ist es besser, wenn auch Jean, der Ich-Erzähler, dabei ist, ein ausgleichender Puffer zwischen den beiden. Aber die Reise entwickelt sich schnell zu einem Desaster. Vor der Kulisse Auschwitz’ wo eine der schlimmsten Tragödien der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat, kollidieren die ungleichen Wesen der Drei derart, dass eine Kluft entsteht, die nur von einem Ereignis wieder überbrückt werden kann, das auf gewisse Weise den Kreis zu Auschwitz schließt.

Ich kannte Yasmina Reza bisher nur durch zwei oder drei ihrer Theaterstücke, allem voran „Kunst“ (unvergessen die großartige Inszenierung mit Ulrich Tukur, Christian Redl und Dominique Horwitz), in dem drei Freunde über den Kauf eines weißen Bildes existentiell aneinander geraten. „Serge“ ist in gewisser Weise eine Variation von „Kunst“ auf einer fortgeschritteneren Ebene. Denn es ist nun mal ein Unterschied, ob sich eine Krise an einem Bild oder an einem Vernichtungslager entzündet. Die Absurdität der Situation ist eine ganz andere, denn über ein Gemälde können wir lachen, über Gaskammern nicht. Und so sind wir als Leser/Zuhörer bei „Serge“ in der Klemme. Wo wir uns bei „Kunst“ über den Streit der Freunde und den Spiegel, den sie uns vorhalten, ungeniert amüsieren können, sind wir bei „Serge“ der Unangemessenheit der Situation ausgeliefert. Die ständige Ambivalenz des Menschen zwischen den eigenen Sorgen und Nöten in der Relation zu all dem, was viel schlimmer und grausamer ist, wird hier auf die Spitze getrieben. Und das ist genial.

Genial ist auch Rezas Stil. Besonders die Dialoge sind einfach nur eine Freude, sie kann nicht verheimlichen, dass sie vom Schauspiel kommt. Was ich auch sehr an ihr schätze ist, dass sie nie vorhersehbar ist. Mann kann die Reaktion ihrer Figuren nicht vorhersagen, wird immer wieder von der Absurdität überrascht.

Gelesen wird die Hörbuchversion von „Serge“ von Peter Jordan. Er macht seine Sache sehr gut, gibt den Charakteren Form und Individualismus, jedem seine ganz klare, eigene Stimme, die viel vom Wesen offen legt. Aber er tut das - und deswegen kommt mein Lob ein wenig zögerlich - eben in seiner Auslegung. Und das liegt ja auch in der Natur der Sache, ein guter Vorleser bringt seine eigene Lesart immer mit ein. Nur war für mich seine Interpretation nicht immer stimmig. Besonders bei Nana, die Jordan sehr weinerlich anlegt, habe ich in meinem Kopf die Sätze öfter in einem anderen Tonfall wiederholt, weil es dann für mich passender wurde. Jordans Serge habe ich nicht richtig zu fassen bekommen, immer wieder hat sich mein Bild von ihm umgeformt. Doch trotz dieser Kritik ist Jordan ein Vorleser, zu dessen Einspielungen ich immer wieder greifen würde.

Die Bewertungen für „Serge“, die ich mir angesehen habe, waren nicht durchgehend positiv und ich kann einige der Kritiken durchaus nachvollziehen. Wer erwartet, dass der Roman tief in die Problematik des Jüdischseins eintaucht und sich ein ausgefeiltes Psychogramm der Protagonisten wünscht, wird nicht auf seine Kosten kommen. Für mich war das Buch weniger eine Geschichte über Nachfahren von Holocaustüberlebenden, als eine Reflexion des Lesers/Zuhörers in seiner ewigen Unfähigkeit zu kommunizieren, und nicht immer in erster Linie um sich selbst zu kreisen. Über den Menschen an sich in der Balance zwischen dem Recht, eigene Sorgen und Nöte auch als solche zu erleben, und der moralischen Forderung, die Relati

Bewertung vom 23.03.2022
Gesichter
Ditlevsen, Tove

Gesichter


ausgezeichnet

Lise Mundus ist eine erfolgreiche preisgekrönte Kinderbuchautorin mit drei Kindern, einem Mann, einem Haus, einer Haushaltshilfe, die bei ihnen lebt – also einer von den Menschen, über die man gerne sagt, dass sie alles haben. Aber wie so oft sieht es hinter der Fassade anders aus, die Ehe läuft nicht gut, ihr Mann geht fremd und Lise verliert nicht nur die Motivation, zu schreiben, sondern auch den Bezug zur Realität. Die Gesichter der Menschen um sie herum verformen und vertauschen sich, sie hört Stimmen, fühlt sich von ihrer eigenen Familie bedroht. Der beste Ausweg, so scheint ihr, ist, sich in eine Klinik einweisen zu lassen, wo sie sich vor den bösartigen Absichten ihrer Familie sicher fühlt.
Aber die Stimmen und Halluzinationen verfolgen sie auch dort, schallen aus Luftschächten, Rohren und Kopfkissen und verwandeln die Pfleger und Ärzte in Feinde, die ihr nach dem Leben trachten. Doch im Laufe des Aufenthalts in der Psychiatrie muss sich Lise auch der Frage stellen, inwieweit nicht gerade ihre Krankheit ihr auch die Zuflucht und Sicherheit bietet, die ihr im Leben draußen zu fehlen scheint.

„Gesichter“ war mein erster Roman von Tove Ditlevsen. Die „Kopenhagen-Trilogie“ war mir zwar ein Begriff, aber gewusst habe ich weder über die Autorin noch über ihr Werk irgendetwas, auch nicht, dass die Geschichte auf ihren eigenen Erfahrungen beruht. Und so habe ich mich anfangs ein wenig schwergetan, nicht gewusst, womit ich gerade konfrontiert werde, kafkaeskem Surrealismus, Metaphern, einem Alptraum? Mitten rein wird man als Leser geworfen in die psychotische Welt der Lise Mundus und bei mir hat es eine Weile gedauert, bis ich das verstanden habe. Trotzdem war der Sog von Anfang an unglaublich stark, schnell sind die Grenzen zwischen Realität und Wahn auch für mich als Leser verschwommen, wurde ich unsicher, was ich glauben kann und soll, und was nicht. Die Atmosphäre, die Ditlevesen dabei schafft, ist dicht und erdrückend, macht einem das Atmen schwer und das Grauen, das Lise empfinden muss, spürbar. Und paradoxerweise ist es genau dieses Unwohlsein, dass einen in und durch den Roman trägt. Es ist kein ganz passender Vergleich, weil beide Werke so unterschiedlich sind, aber ich habe mich an „Ein wenig Leben“ von Hanna Yanagihara erinnert gefühlt, den einzigen anderen Roman, der mir einfällt, der mich auf ähnliche Weise gefesselt hat, obwohl er teilweise auf eine mir unerklärlich großartige Weise schwer zu ertragen war.

Es ist schwer, diesem Buch in einer Rezension gerecht zu werden. Die Lektüre ist ein geradezu physisches Erlebnis, das man erfahren, aber schlecht beschreiben kann. Ein Buch, das sicher nicht für jeden geeignet ist, fast möchte ich eine der derzeit so beliebten Trigger-Warnungen aussprechen. Aber noch lieber eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 18.03.2022
Tage in Sorrent
Liesemer, Andrea;Liesemer, Dirk

Tage in Sorrent


sehr gut

1876. Nietzsche hat eine Professur an der Universität in Basel inne, aber seine Gesundheit macht ihm schwer zu schaffen. Immer wieder quälen ihn starke Migräneanfälle, bei denen er tagelang das Bett hüten muss, und seine Sehkraft hat bereits in einem Maß nachgelassen, das ihm das Lesen immer unmöglicher macht. Wie ein Segen erreicht ihn da die Einladung seiner mütterlichen Freundin Malwida von Meysenbug, die ihm anbietet, mit ihr auf unbestimmte Zeit ein Haus im italienischen Sorrent zu beziehen. Nietzsches Assistent Alfred Brenner, der an Schwindsucht leidet, und sein guter Freund Paul Rée erhalten ebenfalls eine Einladung, und darüber hinaus soll sich noch Richard Wagner mit seiner Frau Cosima in der Bucht von Neapel aufhalten.Wagner, den Nietzsche vor einigen Jahren schon kennen lernte und sehr verehrt.
Aber die Reise beginnt alles andere als vielversprechend. Nietzsche hat unterwegs einen schweren Migräneanfall und auch das Treffen mit Meister Wagner ist eine Enttäuschung, die schließlich zum Bruch der Freundschaft und Wagners Abreise führt.
Ohne die Gegenwart des Komponisten kann Nietzsche endlich frei durchatmen. Er fühlt, wie gut ihm der Ortswechsel und die südliche Sonne tut, hat sogar das Gefühl, den Flecken Erde gefunden zu haben, an dem er glücklich und gesund leben und arbeiten könnte. Pläne entstehen, gemeinsam mit Brenner, Rée und von Meysenbug eine Schule für freiheitliches Denken zu gründen. Aber werden die Zukunftsträume der Realität standhalten?

„Tage in Sorrent“ von Andrea und Dirk Liesemer ist eine Fiktion, aber eine Fiktion, die sich auf die erhaltenen Erinnerungen und Briefe seiner Protagonisten stützt und damit ein hohes Niveau an Authentizität erreichen dürfte. Nah dran habe ich mich jedenfalls gefühlt bei der Lektüre, besonders was die italienische Umgebung betraf. Licht, Duft, Klima, Konsistenzen... das alles verstehen die Autoren ohne große Ausschweifungen heraufzubeschwören, bringen einem das südliche Italien so nah, dass man die Sonne auf der Haut zu spüren meint.

Für die Protagonisten gilt dieses Lob der gelungenen Skizzierung weniger. Es ist mir durchaus passiert, dass ich, wenn ich kurz unaufmerksam war, nicht mehr wusste, von wem gerade die Rede ist, zu ähnlich blieben sich die Figuren in den Schilderungen ihrer Gedanken und Handlungen. Das mag teilweise auch am Stil des Buches gelegen haben, der auf mich hölzern und angestaubt wirkte und dem Buch viel seiner möglichen Wirkung genommen hat. Vielleicht haben die Autoren, bewusst oder unbewusst, zu sehr den Ton der Briefe und Lebenserinnerungen zu kopieren versucht.

Am Ende war „Tage in Sorrent“ ein Roman, der mir nach der Lektüre mehr Freude gemacht hat, als währenddessen. Besonders im mittleren Teil habe ich mich öfters gefragt, warum diese Zeit Nietzsches in Sorrent ein ganzes Buch wert sein soll. Vieles schien nicht der Erwähnung wert, brachte keinen Fortschritt in die dramaturgische Entwicklung oder ließ an der Existenz einer solchen zweifeln. Erst nachdem es einige Tage auf mich gewirkt hatte, setzte sich für mich ein Gesamtbild zusammen, das Sinn ergab, eine tiefer gehende Schilderung unseres Lebens zwischen Hoffnung und Rückschlägen, die Fähigkeit des Menschen, immer wieder Auswege und Ziele zu suchen, erneut aufzustehen und weiter zu machen.

Bewertung vom 09.03.2022
Die Überlebenskünstler
Yaffa, Joshua

Die Überlebenskünstler


ausgezeichnet

Russland ist dieser Tage aus traurigem Anlass auf allen Kanälen rund um die Uhr präsent. Der schreckliche Krieg gegen die Ukraine hat bei den meisten die Gefühle und Ansichten über Putin und seinen Staat geändert oder gefestigt. Ich habe „Die Überlebenskünstler“ gelesen, bevor von einem Angriff überhaupt die Rede war, und bin froh darüber, denn sicher hätte dieses Wissen meinen Blickwinkel verändert. Heute würde ich es bestimmt mit anderen Augen lesen, aber die Rezension soll weitestgehend das wiedergeben, was ich mir damals in Friedenszeiten in Stichwörtern notiert habe.

Ich sage es gleich, ich bin gewöhnlich kein Leser von Sachliteratur. Meine Leidenschaft gehört der Belletristik. Wenn ich mich über ein Thema tiefer informieren möchte, schaue ich mir eine Dokumentation an. Das liegt zum einen daran, dass mir die lebendigen Bilder helfen, genauer zu verstehen, zum anderen aber auch, dass Sachbücher früher in der Regel entweder knochentrocken oder wenig hilfreich und oberflächlich waren. Der Markt hat sich geändert, mein Vorurteil noch nicht ganz. Aber als ich „Die Überlebenskünstler – Menschen in Putins Russland zwischen Wahrheit, Selbstbetrug und Kompromissen“ von Joshua Yaffa sah, konnte ich nicht widerstehen. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für dieses riesige Land, dass sich mit seiner Vielzahl an Kulturen und Jahrtausenden an bewegter Geschichte so gar nicht greifen lässt. Darum freue ich mich über jedes neue Puzzleteil, das mir begegnet.

Und Yaffa hat mit seinem Buch ein Puzzleteil vorgelegt, dass mir so noch ganz neu war. Er thematisiert den Spagat zwischen eigenen Ambitionen und ausreichender Konformität mit dem Putin-Regime. Die (nicht nur Russland betreffende) spannende Frage, was bin ich bereit zu zahlen, um meine Vorstellungen umzusetzen? Wie viele Kompromisse kann ich eingehen, ohne mein Gewissen zu verkaufen? Wie viel Kooperation rechtfertigt das höhere Ziel? Oder auch andersrum, ist es richtig, sein höheres Ziel aufzugeben, um seine Ideale nicht verraten zu müssen?

Yaffa deckt ein weites Gebiet ab, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, behandelt in jedem Kapitel einen anderen Bereich von Kultur, Religion oder Wirtschaft mit je einem wichtigen Vertreter dieses Bereiches im Mittelpunkt. So begegnen wir einem Leiter eines regierungsfreundlichen großen Fernsehkanals, einer Menschenrechtlerin in Tschteschenien, einem Priester, einem Tierparkbesitzer auf der Krim, dem Leiter der Gedenkstätte bzw. des Museeums Perm-36, einem ehemaligen Arbeitslager unter Stalin, einer Ärztin, die sich um Sterbende und Obdachlose kümmert, und kranke Kinder aus Kriegsgebieten holt und schließlich einem Regisseur, der die Balance auf dem schmalen Grat zwischen regimekonform und freier künstlerischen Entfaltung kaum halten kann. Und jedem dieser Szenarien nährt sich Yaffa mit viel Respekt und Offenheit, beleuchtet verschiedene Perspektiven, tritt weit zurück, um den geschichtlichen Kontext verständlich zu machen, und kommt ganz nah an die Menschen heran, schafft ein Bild aus diversen Hintergründen.

Es lässt sich schwer sagen, ob das Interesse an Büchern über Russland in diesen Zeiten eher wachsen oder abnehmen wird. Ich denke jedenfalls, dass es seine Leser gerade jetzt verdient. Natürlich erklärt „Die Überlebenskünstler“ nicht den Krieg, aber wir kriegen einen Einblick, wie der Staat und seine Einwohner durch Manipulationen und Repressionen beeinflusst und gelenkt werden. Ein kleiner Schritt zu mehr Verständnis, und Verständnis ist immer ein wichtiger Bestandteil von Frieden.