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StefanieFreigericht

Bewertungen

Insgesamt 90 Bewertungen
Bewertung vom 21.05.2016
Baba Dunjas letzte Liebe
Bronsky, Alina

Baba Dunjas letzte Liebe


sehr gut

Ich habe erst ein wenig gefremdelt mit diesem wundervollen Buch…
"Auf kleinem Raum gelingt ihr [der Autorin Alina Bronsky] eine märchenhafte und zugleich fesselnd gegenwärtige Geschichte." so heißt es auf dem Klappentext des Schutzumschlages zu diesem ganz besonderen Büchlein. Man kann es eigentlich nicht besser zusammenfassen, es passiert gleichzeitig wenig und sehr viel im Leben der Baba Dunja. Im Alter ist die frühere medizinische Hilfsschwester in ihr Dorf zurückgekehrt, das in der sogenannten Todeszone nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl liegt. Außer ihr leben dort noch weitere Alte, manchmal nebeneinander, manchmal mit- oder sogar füreinander. In Ichform berichtet sie über dieses Leben unter mehr oder weniger skurrilen Persönlichkeiten.
So erscheint eines Tages ein Nachbar bei ihr:
„‘Ich werde dir was sagen‘, warnte er mich.
‚Ich bin ganz Ohr.‘
‚Du bist eine Frau.‘
‚Stimmt.‘
‚Und ich ein Mann.‘
‚Wenn du es sagst.‘
‚Lass uns heiraten, Dunja.‘

Ich kann mir genau vorstellen, was ihn auf Hochzeitsgedanken bringt. Er ist ein Mann und wäscht seine Sachen, wenn sie vor Schmutz steif sind, in einer Schüssel mit Haushaltsseife, um sie dann unausgespült im Garten zum Trocknen aufzuhängen. Zum Essen weicht er sich zweimal am Tag Haferflocken ein, mit verdünnter H-Milch, wenn er welche hat, und mit Brunnenwasser, wenn die Milch alle ist. …“ S. 37ff

Baba Dunja verfügt über Lebens- und Altersweisheit, viele Errungenschaften der Neuzeit hingegen interessieren sie nicht („tragbares Telefon mit Bildschirm“) – sie nützen nichts in diesem Dorf ohne fließendes Wasser, in dem alles angebaut oder umständlich herangeholt werden muss.

Der Schreibstil von Alina Bronsky ist wunderbar leicht zu lesen, oft mit leiser Ironie, liebevoll und stets voller Würde für ihre Figuren.
Ich war traurig, als die Geschichte, eher eine Novelle, zu Ende war; ungeachtet dessen habe ich doch ein klein wenig gefremdelt mit der Geschichte, weil mir nach der Lektüre noch etwas fehlte, mehr so ein Gefühl als etwas großartig greifbares: Letztendlich stellte ich fest, dass ich den Entschluss einer so klugen und zutiefst lebensbejahenden Frau, in diese Todeszone zu ziehen, nie ganz nachvollziehen kann – ich muss mich da wirklich zwingen, an ihr hohes Alter zu denken und mit zu bedenken, wie entsetzt sie auf junge, gesunde Neuzugänge im Dorf reagiert: Baba Dunjas Tschernowo ist ein Ort derer, denen die Strahlung keinen Schaden mehr zufügen kann, weil sie so alt sind oder bereits vorher krank waren, und es ist auch der Ort derer, denen die Stadt zu laut ist, zu teuer, zu eng, zu schnell und zu wenig selbstbestimmt. Baba Dunja benötigt keinen Aufbruch mehr. Sie ist angekommen.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.05.2016
Kein Sommer ohne Liebe
Andrews, Mary Kay

Kein Sommer ohne Liebe


gut

etwas zu vorhersehbar

Keine gute Ausgangslage für Greer Hennessy, die als Location Scout dafür sorgt, dass im Kino die Schauspieler immer an den passendsten Orten zu sehen sind. Ihre Mutter ist vor kurzem an Krebs gestorben, ihr On-und-Off-Freund ist nur noch „off“ und ihr letztes Projekt ging aber auch so etwas von schief. Dass ihre Freundin, Stylisten CeeJay (Claudia Jean ist nicht cool genug) mit dem Regisseur-Produzenten Bryce Levy zusammenlebt, soll hoffentlich ein Glücksfall sein, auch für Greer: Bryce sucht den perfekten Ort für seinen nächsten Film „Beach Town“ – so heißt „Kein Sommer ohne Liebe“ im Original, was zumindest wesentlich weniger nichtssagend und wesentlich weniger kitschig klingt, nur am Rande. Mit Cypress Key in Florida, einer Kleinstadt, die schon deutlich bessere Tage hatte, trifft sie genau Bryce‘ Vorstellungen – leider tritt sie auch von Anfang an in so einige Fettnäpfchen, vor allem beim wichtigsten Entscheidungsträger des Ortes, Eben „Eb“ Thibideaux, Bürgermeister, Hoteleigner, Immobilienverkäufer, Werftbesitzer und Inhaber des Lebensmittelladen des Ortes (ja, der Ort ist wirklich klein und hat wirklich Geldprobleme).
Positiv überrascht war ich vom sehr amüsanten Schreibstil von Mary Kay Andrews – die Szene, in der Eb klarstellt, was er von überkandideltem Verhalten hält, weil er eine Kakerlake unbedingt entfernen soll, aber auf GAR KEINEN Fall töten darf – herrlich. Ansonsten bot das Buch eher wenige Überraschungen – wie bei Rosamunde Pilcher – Filmen (ja, auch ich habe ältere Verwandte) weiß man von Anfang an, dass diejenigen zwingend zusammenkommen, die sich zu Beginn beharken (ich habe nicht einmal den Hauch des Gefühls, hier zu spoilern). So etwas war selbst meiner Oma zu vorhersehbar... Dazu kommt, dass ich irgendwann ab der Hälfte das Gefühl bekam, die Autorin Mary Kay Andrews wollte zuviel: Greer trifft unfreiwillig auf ihren seit ihrem fünften Lebensjahr entfremdeten Vater, erfährt eine andere Sicht der Familiengeschichte, CeeJay lernt einiges über Bryce, Eben zieht seine Nichte groß, weil deren Vater (noch) im Gefängnis sitzt, Greer hat eine schrullige Omi, Eben eine ähnliche Tante, es gibt eine Intrigantin vor Ort, für die Jugend verknallt sich Ebens 17jährige Nichte am Set in den falschen Mann,…. Das hat zwei Effekte: zum einen zieht sich die Geschichte in der Mitte deutlich, zum anderen ist es einfach „zu viel“, wovon dann einiges auch deutlich in der Schwebe bleibt, während anderes plötzlich furchtbar schnell geht – die für mich zu vielen Nebenhandlungen gegen etwas mehr Tiefe bei den Haupthandlungen zu tauschen hätte nach meiner Meinung der Geschichte besser getan. Bei der gemeinsamen Leserunde teilte sich entsprechend die Leserinnenschaft in zwei grob gleich große Hälften, die einen mochten das Buch, die anderen fanden es je nachdem zu viel (e Nebenhandlungen) oder zu wenig (Romantik, Überraschung).

Bewertung vom 20.04.2016
Schwarzer Lavendel / Leon Ritter Bd.2
Eyssen, Remy

Schwarzer Lavendel / Leon Ritter Bd.2


sehr gut

Krimi mit sympathischem Pathologen und viel Provence-Flair

Eine mumifizierte Leiche, die Provence im Herbst, der Verdacht auf das Wirken eines Serientäters und deutsch-französische Befindlichkeiten sind nur Teile der Zutaten zu diesem Buch, das der zweite Band einer Reihe um den aus Frankfurt stammenden Pathologen Leon Ritter mit französischer Mutter ist. Ich kannte Teil 1 nicht und konnte problemlos „einsteigen“.

Warum Ritter nach Frankreich gegangen ist, wird im Laufe der Lektüre erklärt – er trägt zwar durchaus sein Bündel herum, ist aber angenehm entfernt vom gängigen Klischee des „beschädigten Ermittlers“ – er hat halt eine Vergangenheit mit einem Anteil an Tragik.

Remy Eyssen versteht es, sowohl spannend zu schreiben – bezüglich des Täters habe ich im Verlauf der Lektüre mehrfach meine Meinung geändert und war letztlich trotzdem überrascht – als auch perfekt die Atmosphäre einzufangen. Sowohl über den Rosé der Region als auch über Pétanque, über die Landschaft und die kulinarischen Genüsse weiß er in einer Art zu berichten, dass ich bei der Lektüre am liebsten sofort losfahren wollte. Dabei wirkt die Schilderung auf mich nie wie eine reine Aufzählung oder gar belehrend, selbst die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, die einen deutschen Leser sonst irritieren würden, vermag er quasi im Nebensatz kurz zu erläutern – so die unterschiedlichen Zuordnungen der verschiedenen Abteilungen der Polizei oder die Besonderheiten beim Grund- und Hausbesitz, die in der Handlung eine Rolle spielen. Es gibt eine anständige Anzahl an skurrilen Nebenfiguren aus dem Ort und sehr sympathische Hauptpersonen. Am besten gefällt mir Lilou, die aufgeweckte pubertierende Tochter der Kommissarin Isabelle Morell, bei der Ritter wohnt und mit der er beruflich oft zusammen arbeitet.

Zu bemängeln hatte ich nur, dass es teilweise beim Lektorat Flüchtigkeitsfehler gegeben zu haben scheint (S. 19 „beide Auge“ statt beide Augen; S. 46 „und schließ nur noch wenige Stunden“ statt schlief usw.), auch gefällt mir nicht, dass bis auf die Kommissarin und Moma die meisten anderen Polizisten eher arrogante aufbrausende Selbstdarsteller sind – diese Häufung wirkt nicht wirklich nachvollziehbar.
Insgesamt aber ein schöner Urlaubs-Krimi.

Bewertung vom 19.04.2016
Vom Ende der Einsamkeit
Wells, Benedict

Vom Ende der Einsamkeit


ausgezeichnet

„Die Einsamkeit in uns können wir nur gemeinsam überwinden.“ (S. 351)

„Vom Ende der Einsamkeit“ liest sich leicht herunter und vermag dabei zu berühren und anzurühren.
Die drei Geschwister Liz, Marty und Jules Moreau verlieren durch einen Unfall ihre Eltern, als sie selbst noch längst nicht erwachsen sind. Benedict Wells schildet aus Sicht des jüngsten, des Ich-Erzählers Jules, das Leben vor und nach dem Unfall, teils fortlaufend, teils in Rückblenden. Die Situation der Geschwister erinnert ein wenig an "Der Plan von der Abschaffung des Dunkels" (ohne dessen Gewalt), besonders die distanzierte, analysierende Position von Jules: Die Geschwister leben fortan in einem Internat, sie haben keine Freunde (mit Ausnahme des langjährigen Freunds Toni, selbst ein Außenseiter) „Weil wir nicht gelernt hatten, Freunde zu haben, weil wir immer uns drei hatten.“ (S. 125)

Jeder der drei geht unterschiedlich mit dem Verlust um: Liz, die älteste, antwortet mit einem wahren Hunger, auf das Leben, Männer, Experimente mit Drogen und Jobs, Marty mit Zwangsneurosen und Ängsten. Jules hat sein früheres Selbstbewusstsein verloren. Einzig der Mitschülerin Alva fühlt er sich verbunden – ohne nach deren eigenen Leid zu fragen. "Wir blieben an der Schwelle des jeweils anderen stehen und stellten keine Fragen." (S. 59) Beide haben einen Verlust erlitten und erfahren, dass das, was andere dazu sagen, oft nicht ankommt. Leider verharrt gerade Jules dadurch im Vermeiden: „Nie den Mut gehabt, sie zu gewinnen, immer nur die Angst gehabt, sie zu verlieren.“ (S. 121)
Wells wirft Fragen auf zum Thema Verlust und Liebe, dazu, was uns ausmacht, wonach wir unser Leben ausrichten anhand des inneren Monologs von Jules. „Ich stoße ins Innere vor und sehe ein Bild klar vor mir: wie unser Leben beim Tod unserer Eltern an einer Weiche ankommt, falsch abbiegt und wir seitdem ein anderes, falsches Leben führen.“ (S. 133). Erst in seinem Dialog mit Alva kommt er weiter. „Ich: ‘Dieses ständige Alleinsein bringt mich um.’ Alva: ‚Ja, aber das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit‘.“ (S. 171)

Es ist Alva, an der und an deren Erkenntnissen Jules wächst: „Um sein wahres Ich zu finden, ist es notwendig, alles in Frage zu stellen, was man bei der Geburt vorgefunden hat. Manches davon auch zu verlieren, denn oft lernt man nur im Schmerz, was wirklich zu einem gehört…Es sind die Brüche, in denen man sich erkennt.“ (S. 276)
Der Autor schafft es, mit Sätzen, die in ihrer Sperrigkeit, die die Sperrigkeit gegenüber Gefühlen von Marty ist, Rührung auszulösen, ohne kitschig zu werden: „Es ist… Wir sind von Geburt an auf der Titanic.“ Mein Bruder schüttelt den Kopf, er fühlt sich bei solchen Reden unwohl. „Was ich sagen will: Wir gehen unter, wir werden das hier nicht überleben, das ist bereits entschieden. Aber wir können wählen, ob wir schreiend und panisch umherlaufen oder ob wir wie die Musiker sind, die tapfer und in Würde weiterspielen, obwohl das Schiff versinkt. So wie…“ Er sieht nach unten. „So wie Alva das getan hat.“ Mein Bruder will noch etwas hinzufügen, dann schüttelt er wieder den Kopf. „Tut mir leid, ich bin einfach nicht gut in so was.“ (S. 339)

So bleibt für Jules am Ende die Erkenntnis: „Noch stärker als meine Geschwister habe ich mich gefragt, wie sehr mich die Ereignisse aus meiner Kindheit und Jugend bestimmt haben, und erst spät habe ich verstanden, dass in Wahrheit nur ich selbst der Architekt meiner Existenz bin.“ (S. 337)

Ich habe spätabends nach der Lektüre in einem Rutsch noch dieses Buch mehrfach weiter empfohlen – ich denke, es ist einfach perfekt auch für diejenigen, die sonst alles meiden, was mit „anspruchsvoller Roman“ im Zusammenhang steht. Weniger ist "Vom Ende der Einsamkeit" ein künftiger „Meilenstein der Literaturgeschichte“ als vielmehr ein wunderschönes, gut geschriebenes Wohlfühl-Buch und fantastisch geeignet zum Genießen und Verschenken.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.04.2016
Der Ort, an dem die Reise endet
Owuor, Yvonne Adhiambo

Der Ort, an dem die Reise endet


ausgezeichnet

Sprachgewaltig und überrollend, teils fast überfordernd

„Ein kurzes Ratata.
Odidis anderes Knie gibt nach.
Er bricht zusammen.
Atmet gurgelnd aus.
Es heißt.
Dass, wenn ein Mensch stirbt, er sein gesamtes Leben in einer raumlosen Zeit, einem zeitlosen Raum an sich vorbeiziehen sieht und alles erneut durchleben kann, was er je gefühlt hat, nur in rasender Geschwindigkeit und in eine sonnengleiches Licht getaucht.“ (S. 16)

Die mir vorher völlig unbekannte Yvonne Adhiambo Owuor, die bisher „nur“ Kurzgeschichten veröffentlich hatte, empfinde ich sprachlich wirklich geradezu als genial, in ihrem Debütroman finde ich einen Gebrauch von Sätzen und selbst Zeilenumbrüchen, wie ich es vorher so noch nie gelesen habe, sie kann tatsächlich sogar Zeit so darstellen!

Der Roman ist ein Parforceritt durch die Geschichte Kenias, aber auch der britischen Kolonialherren dort – ich benötigte zwischendurch Rückgriff auf die Wikipedia-Artikel zu Kenia und zur Geschichte Kenias (besonders Volksgruppen, Korruptions-Skandale, die Zeit ab dem Zweiten Weltkrieg – erschreckend, wie wenig ich wusste).

Moses Ebewesit Odidi „Didi“ Oganda wird zu Beginn der Erzählung verfolgt und dann erschossen – seine Schwester Arabel Ajany „Jany“ Oganda kehrt (nicht nur) deshalb aus Brasilien zurück in ihre Heimat Kenia, zu den Eltern Aggrey Nyipir Oganda (Baba) und Akai Lokorijom „Akai-ma“. Keine, wirklich keine der vielen weiteren Personen im Buch ist nur bloße Randfigur, die meisten haben letztendlich mehrere Rollen, oft mehrere Namen.

Owuor schafft es, die Geschichte Kenias anhand ihrer Personen aufzuspannen, und dabei noch voller Sprachzauber die jeweilige Atmosphäre zu vermitteln: sie berichtet über die Zeit des kenianischen Freiheitskampfes gegen die britischen Kolonialherren, mit Verhaftungen, Folter, Massenhinrichtungen, und kooperierender „Tribal Police“ aus Kenianern. Sie erzählt über die Beteiligung afrikanischer Soldaten (King’s African Rifles) in den Kriegen der Briten, über alte Seilschaften aus alten Zeiten. Sie vermittelt den Enthusiasmus der Unabhängigkeit, die Hoffnung aus den Bildungsinitiativen des Mboya-Kennedy-Airlifts – und die Ernüchterung durch Korruption, Uneinigkeit der verschiedenen Volksgruppen und wirtschaftliche Probleme.
„Mboya? Argwings? J.M.? Pio? Ouko? Ward? Goldenberg? Anglo-Leasing? Dieser Artur-Abschaum?“ (S. 355) – das sind die Probleme. Die Lösung? „Meine Amnesie, deine Amnestie – oder umgekehrt.“ (S. 358), üblicherweise mit Gegenleistung. So wurden „Kenias offizielle Sprachen: Englisch, Swahili und Schweigen.“ (S. 372), so hüten alle Protagonisten ihre Geheimnisse, verharren in dem Schmerz über das, worüber sie nicht reden.

Das alles ist nicht eine Sekunde langweilige trockene Geschichte, sondern mitreißend dargebracht. Ich wusste nie, ob ich gerade näher an der Hoffnung der Protagonisten war, die trotz allem immer weitermachten, oder an ihrer Hoffnungslosigkeit – es war teilweise einfach „sehr viel“ von diesem mir sehr fremden Land. Die Handlungen sind oft so weit außerhalb meiner Welt, dass ich sie häufiger nicht nachvollziehen kann. Dann wiederum folgen Szenen von Zartheit, Liebe, Verzweiflung, Loyalität, die universell sind. Täter wird Opfer wird Täter. Die Handlung springt sehr stark, zwischen mehreren Personen, die dazu noch an verschiedenen Orten beschrieben werden, und mit häufigen zeitlichen Rückgriffen, darüber hinaus werden häufig muttersprachliche Begriffe, Namen, Sätze, Textfetzen eingestreut, zwar jeweils übersetzt, aber doch als „Stolperstellen“ für das deutsche Lesen. Personen tauchen viele Seiten später wieder auf, Andeutungen werden klar, Handlungsstränge werden meisterhaft verwoben und weit verstreut weitergeführt. Nein, kein einfaches Buch – kein einfaches Thema. Ein Buch, bei dem es sich lohnt, dabei zu bleiben, auch wenn das zu Anfang des letzten Drittels schon anstrengend war, bis zur Erkenntnis: Auch der Tod, auch ein Ende kann ein Anfang sein.

Bewertung vom 23.02.2016
Endgültig / Jenny Aaron Bd.1
Pflüger, Andreas

Endgültig / Jenny Aaron Bd.1


ausgezeichnet

Absolute Kaufempfehlung! Fesselt bis übers Ende, top Sprache, Stil, Charaktere

10 Gründe, warum man dieses Buch lesen sollte (für – auch zukünftige - Eingeweihte)
1. Aaron
2. Marlowe, die Katze
3. Windungen, Gründe und Ursachen, an die ich nie gedacht hätte
4. Nur das Ende des Buches zu lesen nützt (leider) gar nichts, um die Spannung besser auszuhalten
5. Aarons Sichtweise
6. Den Beschreibungen von komplexen Bewegungsabläufen kann ich oft nicht einmal folgen, gerade dadurch sind so passend
7. Jeder von uns will solche Freunde, solche Kollegen haben.
8. Niemand von uns will wirklich solche Freunde, solche Kollegen haben
9. Andreas Pflüger „kann“ nicht nur spannend, er kann auch verschachtelte Handlung, knapper Sprachstil, ausführliche Beschreibung, Stilwechsel je nach Person, Ort, Handlung, zart, drastisch,…
10. Ich kann mit den Listen nicht mehr aufhören – und scheitere daran kläglich im Vergleich zu Aaron

Ich durfte dieses Buch als Vorab-Rezensionsexemplar lesen und kannte vorher den Autor Andreas Pflüger noch nicht, ich kannte nur eine Leseprobe, die mich in den Bann zog. Mir gefiel der Sprachstil, die Grundidee der erblindeten Ermittlerin, die Erzählweise: ich hatte die Selbstreflexion in „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ vor langer Zeit zufällig in einer Vorstellung mit Lesung im Autoradio kennengelernt und der Rezensent meinte damals, er höre nach eine Weile nur noch ihre (Smillas) Stimme. Aaron geht ähnlich ins Ohr, und das beim Lesen! Ich mag sonst Hörbücher, wenn es KEINE Krimis/Thriller sind – ich kann das Tempo des Fortschritts nicht beeinflussen. Hier werde ich wohl noch das Hörbuch haben müssen.

Für Bücher habe ich zwei bevorzugte Genres, Krimis/Thriller und anspruchsvolle Literatur – in unterschiedlichen Situationen, mit wechselnden Anteilen an meiner Gesamt-Lektüre und mit je unterschiedlicher Erwartungshaltung.
Bereits die Leseprobe deutete an, dass „Endgültig“ aus dem Spannungs-Genre insofern heraus sticht, als dass es sprachlich und stilistisch deutlich am oberen Ende angesiedelt ist. Viele Krimi/Thriller-Autoren beherrschen Spannungsaufbau, Handlung – Andreas Pflüger beherrscht auch ganz klassisch literarische Stilmittel (ohne dass das lästig wird, wohlgemerkt!).
Außerdem bedient die Handlung zwar das Klischee des „beschädigten Ermittlers“ durch die Hauptfigur einer aufgrund eines Einsatzes erblindeten Ermittlerin – aber diese will so gar nicht der Opferrolle entsprechen. Die Protagonistin wirkt gleichzeitig anziehend als auch auf Distanz haltend – ich musste mich sogar über fast die ersten 100 Seiten immer wieder anstupsen, dass mit „Aaron“ eine Frau gemeint ist, wenn sich im Team fast alle nur mit den Nachnamen anreden und auch der Autor in dieser Sichtweise schreibt. Nicht, dass das hier wichtig wäre – und auch das ist eine Besonderheit dieses Buches. Höchstens Aarons neue Chefin bringt einmal das Thema der Männerseilschaften zur Sprache; für Aaron ist das wohl irrelevant, wiewohl sie in der Lage ist, darüber zu reflektieren. Die Distanz zu Aaron – und auch Aarons eigene Distanziertheit – werden im Laufe der Handlung aufgeweicht, ja aufgebrochen, wenn sie denn je wirklich eine Chance hatten, zu existieren. Und auch das ist eine Stärke des Romans: die Handlung wirkt über das Ende hinaus. Bei Sebastian Fitzek oder Arno Strobel oder Stephen King geschieht das häufig über einen Handlungsfaden, der noch offen bleibt, eine Option, die noch nicht ausgeschlossen wurde, einen Täter, der es eventuell doch nicht oder eventuell zusätzlich zum Festgenommenen war. Am Ende dieses Buches ist alles gesagt, aber damit ist es genau das, „Endgültig“. Für jeden – inklusive des Lesers - der danach übrig bleibt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.02.2016
Wer Wind sät / Oliver von Bodenstein Bd.5
Neuhaus, Nele

Wer Wind sät / Oliver von Bodenstein Bd.5


ausgezeichnet

Fünfter Band um Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff

Oh, wie schön, so gewinnt eine Erzählung an Tempo – der Krimi beginnt mit dahingeworfenen Bröckchen an Handlung: da flieht eine Frau, eine tödliche Gefahr wird geschildert – bis es eine etwas andere Wendung gibt. Dann wehrt sich das anscheinend wandelnde Klischee eines wackeren Waidmannes gegen Rodungen im Wald.
Und jetzt darf man ins Buch einsteigen mit einer neuen Leiche für die Ermittler Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff im fünften Band der Reihe – und versuchen, die Eingangs-Bröckchen mit der Handlung – und weiteren Bröckchen - in Einklang zu bringen. Die offenen Handlungsbrocken sind in diesem Band sehr zahlreich und vielfältig, so dass der Einstieg in das Buch zwar vorangetrieben wird, aber durchaus zuerst nicht ganz leicht gerät – die ersten rund 100 Seiten sollte man schon am Stück lesen können.

Warum beschäftigte der Leiter eines Windkraftanlagen-Bauers einen Nachtwächter mit Alkoholproblemen? Was haben die drei Kinder eines Bauern, der in einer Bürgerinitiative gegen eine der Windkraftanlagen aktiv ist, und ein Tiergeschäft mit dem Fall zu tun? Was ist hier wirklich passiert?
Bald gibt es einen ersten vagen Hinweis – eine Person verbindet alle Handlungsstränge. Aber ist das schon die Lösung? Für Hauptkommissar von Bodenstein wird der Fall unerwartet persönlich – nicht nur, weil sich auch sein Vater in der erwähnten Bürgerinitiative engagiert. Und dann gibt es eine weitere Leiche und den Verdacht, dass in der Vorgeschichte der Ereignisse Vetternwirtschaft und Korruption eine Rolle gespielt haben dürften. Doch es kommt noch viel schlimmer.

Der Einstieg ist hier zwar etwas anstrengend und auch bei Fülle der Personen sollte man sich für den Beginn des Buches Zeit nehmen – am Stück gelesen war das kein Problem. Geschickt wechselt Neuhaus zwischen den verschiedenen Sichtweisen der Handelnden, passt sich stilistisch z.B. sowohl an den verbockten Jugendlichen als auch an den um Haltung bemühten Hauptkommissar an. Ohne Mühe spielt sie auf der ganzen Klaviatur des Genres zwischen Ermittlungsarbeit, Routinefall, persönlichen Problemen der Ermittler bis hin zu der Frage, welche von zwei Darstellungen hier denn die richtige sei, mündend in Verschwörungstheorien. Definitiv einer der stärksten Bände der Reihe

Bewertung vom 10.02.2016
Böser Wolf / Oliver von Bodenstein Bd.6
Neuhaus, Nele

Böser Wolf / Oliver von Bodenstein Bd.6


ausgezeichnet

Nele Neuhaus liefert mit „Böser Wolf“ den sechsten Band ihrer Serie um die Ermittler Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff.

Geschickt baut Neuhaus ein Geflecht aus zunächst scheinbar parallel verlaufenden Handlungssträngen auf, kontrastiert den Leichenfund eines über Jahre missbrauchten und misshandelten jungen Mädchens mit der Suche einer Fernsehmoderatorin nach einer neuen Story. Die Geschichte beschreibt auch das Leben eines in der Gesellschaft ins Aus geratenen mit anscheinend fragwürdigen Kontakten mit einem sehr jungen Mädchen ebenso verstörend wie die immer undurchschaubarer werdenden Vorgänge innerhalb einer Großfamilie der besten Gesellschaft.

Neuhaus nimmt den Leser mit hinein in die Ermittlungsarbeit, bringt die Ermittler persönlich in Bedrängnis und legt falsche und richtige Fähren – und löst letztendlich in einem fulminanten Finale auf, welch perfide Pädophilen-Maschinerie bis in die höchsten Kreise hier jahrelang ihr Unwesen trieb. Die Autorin schont den Leser nicht, sie stellt klar und überaus plastisch dar, wie stark die Körper und Seelen der Opfer hier geschädigt werden. Sie zeigt auf, wie diejenigen, die dagegen vorzugehen versuchen, von dem mafiösen Geflecht bis auf härteste und brutalste bekämpft werden. Wahrlich kein Buch für ein zartbesaitetes Publikum – aber ein durchweg spannender und fesselnder Krimi, der der Autorin spürbar am Herzen liegt. Ein „Böser Wolf“ ist hier nicht nur ein Märchen, sondern bittere Realität.

Die Reihe wird teils vermarket mit dem Untertitel „Taunuskrimi“ aufgrund der Lokation, hat jedoch wenig mit jenen der seit einigen Jahren grassierenden Regionalkrimis zu tun, bei denen es primär um die Kombination von Lokalkolorit bis Folklore mit der Krimihandlung geht. Ja, die Handlung spielt im Taunus – die Region ist aber kein eigenständiger Handlungsträger, sondern schlicht der gewählte Standort. Die Handlung steht im Vordergrund. Das nur als Anmerkung, die „Regionalkrimi-Manie“ reicht mir als Kaufargument nun wirklich nicht, die solide Arbeit von Nele Neuhaus hingegen schon. Definitiv

Bewertung vom 04.02.2016
Hinten sind Rezepte drin
Bauerfeind, Katrin

Hinten sind Rezepte drin


sehr gut

Hinten sind Rezepte drin ist der nur ironisch gemeinte Titel von Katrin Bauerfeinds neuestem Buch – der Untertitel „Geschichten, die Männern nie passieren würden“ kommt näher.
Bauerfeind schreibt im Stil der Ansammlung von Kolumnen, was es heutzutage heißt, eine Frau zu sein – mal lustig, mal sarkastisch, mal sehr direkt (bis hin zu Verbalinjurien), aber auch nachdenklich.

Zielgruppe dürfte am ehesten ihre eigene Altersgruppe sein – sie ist im Moment 33 Jahre alt – da sich in einer Leserunde deutlich jüngere Frauen anscheinend recht wenig mit einigen ihrer Themen identifizieren konnten (speziell Druck von außen, Kinder zu bekommen, Perfektionsmusdruck, das Gefühl, nicht mehr hip zu sein,…), wobei hingegen auch 40+ Teilnehmer/-innen sich laut der Meldungen teils weiter angesprochen fühlten. Seltsamerweise fanden die meisten von uns das Buch in Buchläden quer durch Deutschland in der Abteilung Ratgeber oder Psychologie, ordnen es jedoch – wie ich – eher dem Humor zu.

Das Buch ist locker-launig geschrieben und lässt sich auch gut nebenbei oder kapitelweise lesen – einzelne Kapitel brachten mich sehr zum Lachen (z.B. der wunderbare Teil über Weihnachten – solche Familiengeschichten bei anderen beruhigen mich immer), mit einigen wurde ich nicht warm (das Kapitel über die Frauenreligion). Insgesamt jedoch gab es sehr viel zum Schmunzeln, einiges zum Lachen und wirklich etliches zum Nachdenken, vor allem das tolle Kapitel zur Oma.

Was mir gleich klar war: Ein perfektes Buch für Urlaub oder zum Verschenken, wenn man nicht weiß, ob ein Liebesroman oder anspruchsvollere Literatur besser ankommen dürfte. Was mir im Laufe der Leserunde klar wurde: sicherlich auch ein prima Buch, um ein Gespräch in Gang zu bringen – unter Frauen aber auch zwischen Frauen und Männern (ähnlich ging das zuletzt mit Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken). Unter den Humor-Bücher bislang ziemlich das beste, das ich gelesen habe, allerdings passt auch der Untertitel nicht ganz, da es ja in einigen Kapiteln direkt um Männer geht. Mir war teils die Wortwahl zu deftig, aber wegen des tollen Oma-Kapitels und dank des unerwarteten tieferen Nachdenkens, gerade auch im Generationenvergleich, komme ich insgesamt auf 4 Sterne!