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Sophie

Bewertungen

Insgesamt 153 Bewertungen
Bewertung vom 28.02.2022
Die dritte Hälfte eines Lebens
Herzig, Anna

Die dritte Hälfte eines Lebens


gut

Interessanter Ansatz mit zu wenig Ausarbeitung

„Die dritte Hälfte eines Lebens“ ist mit seinen rund 130 kurzen Seiten eher eine Novelle als ein Roman, beschäftigt sich aber in ungewöhnlicher, fragmentarischer Erzählweise mit einem spannenden Thema: der Bedeutung von Gerüchten in einer sehr kleinen, eng verwobenen Gemeinschaft. Ein vielversprechender Ansatz, der leider in seiner Ausführung etwas zu wenig Fleisch auf den Rippen hat.

Im kleinen Dorf Krimmwing spielt sich das Leben ab, wie auch überall sonst: Es gibt Menschen, die von der Norm abweichen, deren Verhaltensweisen nicht ins streng moralische Korsett der kleinen Dorfgemeinschaft passen und die dafür an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Da sind Rosa, die ein Kind mit einem Schwarzen Mann gezeugt hat, der den Druck aus dem verbohrten Dorf nicht aushält und sich davonmacht, Lorenz, der sich in seinem männlichen Körper nicht wohlfühlt, und Liesl, die von den Frauen des Dorfes misstrauisch beäugt wird. Sie alle wollen ein selbstbestimmtes Leben führen, aber die engen Grenzen von Krimmwing lassen das nicht zu. Gerüchte über sie verbreiten sich wie ein Lauffeuer, und Gerüchte sind auch das zentrale Thema des Romans.

Eine Stärke von „Die dritte Hälfte eines Lebens“ ist der freie Umgang mit Fakt und Gerücht, der uns Lesende in einer ständigen Spannung zwischen „So ist es“ und „Das sagen die Leute“ hält. So interessant dieses Konzept ist, so banal erscheint es aber leider in der Umsetzung. Zu fragmentarisch stehen die einzelnen Episoden nebeneinander, zu wenig Tiefe bekommt das Geschehen. Für einen so kurzen Text ist das Figureninventar ganz beachtlich, was dafür sorgt, dass jede und jeder nur episodenhaft zur Sprache kommt. Eine Identifizierung mit den Figuren und ihren Schicksalen wird dadurch nahezu unmöglich gemacht, die Charaktere bleiben zeichenhaft, der Ablauf der Dinge verwirrend. Im Grunde scheint der Roman zeigen zu wollen, was eine Gerüchteküche alles in einem Menschen anrichten kann, aber es gelingt ihm nicht so recht, da die Figuren so blass bleiben wie die Gerüchte, die über sie im Umlauf sind.

Stilistisch und inhaltlich ist „Die dritte Hälfte eines Lebens“ ein vielversprechendes Werk, in seiner Umsetzung jedoch leider nicht ausgereift. Die Autorin hat sicher einiges zu bieten, und die Chancen stehen gut, dass sie ihre Stimme noch finden wird. Das Potenzial ist auf jeden Fall da, erfordert aber noch ein wenig Schliff.

Bewertung vom 28.02.2022
Unser wirkliches Leben
Crimp, Imogen

Unser wirkliches Leben


sehr gut

Psychologisch interessant und emotional bewegend

„Unser wirkliches Leben“ von Imogen Crimp ist nur auf den ersten Blick eine klassische Liebesgeschichte: junge, mittellose Sängerin mit großen Träumen trifft, älteren, gut betuchten Mann und sie beginnen eine Affäre. Trotz dieses eher klischeehaften Set-ups ist der Autorin hier jedoch ein etwas anderer Roman gelungen, einer, der seine Protagonistin nicht als Liebeskranke mit einem Mann als einzigem Lebensinhalt darstellt, sondern ihr komplettes Leben ausleuchtet und ihr somit echte Tiefe verleiht.

Anna ist vom Land nach London gezogen, um am Konservatorium Operngesang zu studieren. Sie hält sich mit Singen im Jazzclub über Wasser und lebt kontinuierlich am Existenzminimum, um ihren großen Traum von der Opernkarriere zu verwirklichen. Von der überbehütenden und kontrollierenden Mutter und dem schweigsamen Vater zu Hause kann sie sich nicht viel Unterstützung erhoffen, denn diesen Lebensweg halten sie für viel zu unsicher. Als sie eines Abends Max kennenlernt, fühlt sie sich sofort zu ihm hingezogen, obwohl er sie von Anfang an auf Abstand hält. Ihre Beziehung entwickelt sich nach und nach in eine ungesunde Richtung, und Anna droht den Bezug zu sich selbst und ihren eigenen Wünschen zu verlieren, entfremdet sich von ihrem Umfeld und macht sich mehr und mehr abhängig von Max. Was anfängt wie ein seichtes Liebesdrama, entwickelt sich bald zu einem ernsthaften Psychogramm einer unsicheren jungen Frau, der es an Halt im Leben mangelt.

Trotz dieser erfreulichen Tiefe wartet „Unser wirkliches Leben“ auch mit einer ganzen Reihe von Klischees auf, und zwar nicht nur im Bereich der Liebesgeschichte, sondern vor allem auch, wenn es um das Leben von Künstler*innen geht. Die Geschichte suhlt sich häufiger recht stark in der Idee der mittellosen Künste und des freien Lebens. Zudem ist das Erzähltempo extrem gemächlich, wovon die Charakterentwicklung zwar enorm profitiert, was aber insgesamt dafür sorgt, dass sich einige Längen ergeben. So mancher Dialog wiederholt sich dabei, und dieselben Themen werden immer und immer wieder angesprochen. Prinzipiell unterstützt diese Erzählweise das Porträt von Anna und ihrer Gefühlswelt, ihr Sich-im-Kreis-Drehen und Nicht-von-der-Stelle-Kommen, der Grat zwischen Raffinesse und Ermüdung ist jedoch schmal und wird hin und wieder überschritten.

Trotz dieser leichten Schwächen ist „Unser wirkliches Roman“ ein Buch, das berührt und nachdenklich macht, mit einer Protagonistin, die mir als Leserin wirklich und wahrhaftig nahe kommt. Eine lohnenswerte Lektüre!

Bewertung vom 19.02.2022
Wir
Drvenkar, Zoran

Wir


ausgezeichnet

Poetisch, vulgär, rasant – ein Buch wie das echte Leben

Zoran Drvenkar ist dafür bekannt, dass er in seinen Romanen kein Blatt vor den Mund nimmt. Seine Figuren sind nicht brav und angepasst, sondern wild und voller Leben, und das tritt in seinem neuesten Roman „Wir – die süßen Schlampen“ ganz deutlich zutage. In gewohnter erzählerischer Brillanz setzt er nach und nach aus verschiedenen Puzzleteilen eine wilde Geschichte über Freundschaft, Verbrechen, Drogen, Gewalt und das echte Berlin zusammen.

Schnappi, Stinke, Nessi, Rute und Taja sind beste Freundinnen. Echt und unverfälscht, mit allem, was dazugehört. Gerade sind sie von der Realschule abgegangen, und die Welt liegt ihnen zu Füßen. Sie wollen ein wildes, freies Leben, sie fühlen sich unbesiegbar. Eines Tages verschwindet Taja spurlos. Die Suche nach ihrer Freundin führt die Clique in einen tiefen Abgrund aus Drogen und Gewalt, durch den sich die zähe Truppe stets mit einem flotten Spruch auf den Lippen und mit einer guten Portion rauem Charme durchbeißt.

Dabei gelingt es Drvenkar, all seine toughen Mädels zugleich auch verwundbar wirken zu lassen. Sie alle haben Träume und Ängste, sie alle sehnen sich nach etwas und bereuen Dinge. Sie sind keine schablonenartigen „starken jungen Frauen“, sondern echte Persönlichkeiten. Ebenso wie unter der Oberfläche seiner Figuren Verwundbarkeit schlummert, lauert unter der rauen, teils derben Sprache, der sich der Autor bedient, immer auch etwas Zartes, Poetisches, was seinen ganz besonderen Erzählstil ausmacht. Die Spannung entsteht nicht nur aus der Handlung, sondern auch aus der fragmentarischen Erzählweise: Nach und nach erst entsteht ein vollständiges Bild der Geschehnisse, das sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zusammensetzt.

Mit „Wir“ ist Zoran Drvenkar wieder einmal ein Roman wie ein Rauschzustand gelungen: heftig, wild, bunt, teils vulgär, oft poetisch und immer mit einem Blick für das Menschliche, Echte, Unverfälschte. Ein Jugendbuch, das ganz sicher nicht nur ein Jugendbuch ist, sondern Lesende aller Altersgruppen in seinen Bann ziehen kann.

Bewertung vom 13.02.2022
Im Auge des Zebras / Olivia Holzmann Bd.1
Kliesch, Vincent

Im Auge des Zebras / Olivia Holzmann Bd.1


weniger gut

Ein wenig nachvollziehbarer Krimi voll unmotivierter Action

„Im Auge des Zebras“ von Vincent Kliesch entstammt der Reihe um den Ermittler Severin Boesherz, dessen Schülerin Olivia Holzmann hier in seine Fußstapfen tritt. Vorweg sei gesagt: Ich habe die anderen Bände um diese Charaktere nicht gelesen, sodass es mir möglicherweise an Hintergrundwissen mangelt. Für sich genommen, konnte mich der Roman aber leider gar nicht überzeugen.

Aufhänger der Geschichte sind gleich zwei Verbrechen, die auf recht konstruierte Weise miteinander verknüpft werden: Die Eltern von sieben Jungen werden zum gleichen Zeitpunkt bestialisch ermordet, die Kinder entführt, und der Drogenboss Sokolov scheint irgendetwas damit zu tun zu haben. Olivia Holzmann, eine toughe Ermittlerin im Liebesrausch, deren neuer Freund ihr jeden Wunsch von den Augen abliest, versucht, Informationen aus Sokolov zu pressen, kommt damit aber nicht besonders viel weiter und wendet sich stattdessen an ihren Mentor Boesherz. Der möchte seiner Protegée eine Lehre erteilen und verweigert ihr die Unterstützung, obwohl es um Menschenleben geht. Pech gehabt!

So „motiviert“, ermittelt Olivia auf eigene Faust und muss bald feststellen, dass der aktuelle Fall eng mit einer Jahre alten ähnlichen Entführung zusammenhängt, bei der ein Zwillingspaar erst in letzter Sekunde gerettet werden konnte. Die Spur ist heiß, aber die Uhr tickt und das Leben der Kinder steht auf dem Spiel.

Abgesehen von Boesherz’ völlig fehlgeleiteten Erziehungsmaßnahmen schafft es auch keine andere der Figuren, mir als Leserin so recht ans Herz zu wachsen. Dafür sind die Szenenwechsel zu rapide, die Handlungsstränge zu wirr, und in die Länge gezogene Action-Szenen rauben möglicher Charakterentwicklung den Platz. Der Stil ist hier und da etwas holprig, mit einer Mischung aus wenig bildhafter Sprache und teils umständlichen Schachtelsätzen, die den Lesefluss zusätzlich mindern. Spannung will sich (trotz des an sich sehr interessanten Rätsels, das im Vordergrund stehen sollte) nicht so recht einstellen, und eine Reihe teils irrelevanter Handlungsstränge sorgt für Verwirrung.

Leider kann Vincent Kliesch mit „Im Auge des Zebras“ nicht überzeugen, obwohl der eigentliche Fall und seine Lösung eine durchaus interessante Grundidee bieten. Dieses Potenzial wird jedoch überlagert von Schwächen in puncto Struktur, Handlungsablauf und Sprache, sodass das Leseerlebnis schnell in Vergessenheit geraten wird. Schade!

Bewertung vom 13.02.2022
Zum Paradies
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


ausgezeichnet

Eine epische Odyssee der Moderne

Hanya Yanagiharas monumentaler Amerika-Roman „Zum Paradies“ ist ein Buch, das seinesgleichen sucht. Auf 900 Seiten werden drei Jahrhunderte amerikanischer (teils fiktiver) Geschichte erzählt und die Schicksale von Menschen ausgebreitet, die alle nur nach einem suchen: ihrem persönlichen Paradies.

Das wohl hervorstechendste Merkmal von „Zum Paradies“ ist seine Dreiteilung. Der fast 900 Seiten schwere Roman besteht im Grunde aus drei separaten Romanen, die nur lose miteinander zusammenhängen. Gemein ist ihnen der Schauplatz (ein Haus am Washington Square, New York), Familiennamen und ein scheinbar zufällig verteiltes immer wieder verwendetes Namens-Repertoire. Die Geschichte eines jungen Mannes, der in einem alternativen Amerika des 19. Jahrhunderts eine arrangierte Ehe mit einem älteren Mann eingehen soll; die Geschichte eines jungen Mannes, der während der AIDS-Epidemie im 20. Jahrhundert versucht, sein hawaiianisches Erbe mit seiner Beziehung zu einem älteren, reichen weißen Mann unter einen Hut zu bringen; die Geschichte einer jungen Frau am Ende des 21. Jahrhunderts, die in einem von Pandemien geschüttelten totalitären Staat lebt und eine arrangierte Ehe führt. All diese Geschichten werden von wenigen zentralen Themen zusammengehalten: Selbstbestimmung und Freiheit, Krankheit, Homosexualität und (kulturelle) Identität.

Yanagiharas Figuren sind so lebendig, dass sie förmlich aus den Buchseiten zu steigen scheinen. Mit einer atemberaubenden Sprachgewalt erzählt sie Profanes und Essenzielles gleichermaßen. Ihre Charaktere sind zugleich dreidimensionale, runde Charaktere mit einem tiefen Seelenleben und Platzhalter für das allgemein menschliche Streben nach einem Sinn, der tiefen Sehnsucht nach etwas Unbestimmten, das sie alle „das Paradies“ nennen. In dieser Sehnsucht sind sie miteinander verbunden, und zugleich auch mit uns Lesenden, die wir diesen Wunsch nach Mehr und die Hilflosigkeit beim Erreichen dieses unbestimmten Ziels nur allzu gut nachvollziehen können.

Trotz ähnlicher Themenwahl fühlen sich die drei Teile des Romans auch unterschiedlichen Genres zugehörig, was die „Allgemeingültigkeit“ der menschlichen Existenz, wie sie hier dargestellt wird, weiter unterstreicht. Teil 1 erinnert an einen Jane-Austen-Roman unter umgekehrten Vorzeichen mit einer klassischen romantischen Heldin in Gestalt eines Mannes. Teil 2 ist in vielerlei Hinsicht eine Tragödie, ein Roman, der wenig Raum für Hoffnung lässt. Das Buch endet fulminant in einer waschechten Dystopie im dritten Teil, die vielleicht (auch aufgrund ihrer verhältnismäßig größeren Länge) den Höhepunkt des Buches darstellt.

„Zum Paradies“ ist sicher keine leichte Kost, zugleich aber ein Roman, der einen unwiderstehlichen Sog aufbaut, dem man sich nicht entziehen kann, der es schafft, seine Figuren zum Leben zu erwecken und uns Lesenden ganz nah zu bringen. Ein echtes Meisterwerk!

Bewertung vom 13.02.2022
Ich bin der Abgrund
Carrisi, Donato

Ich bin der Abgrund


sehr gut

Betroffen machend und extrem spannend

„Ich bin der Abgrund“ von Donato Carrisi ist ein Psycho-Thriller im wahrsten Sinne des Wortes: Im Vordergrund steht nicht nur eine geschundene Psyche, sondern mehrere. Sie alle reagieren unterschiedlich auf ihr Trauma. Die Spannung kommt bei diesem Psychogramm nie zu kurz, wenngleich der ein oder andere Zufall etwas unglaubwürdig daherkommt.

Der Müllmann, der namenlose Protagonist des Buchs (Namenlosigkeit herrscht im Buch übrigens prominent vor und verleiht ihm damit einen fast parabelhaften Anstrich), tötet Menschen. Aber nicht aus Lust, sondern aus einem Zwang heraus, der aus einem extremen Kindheitstrauma entstanden ist. Als er eines Tages mehr oder minder aus Versehen das Leben einer jungen Frau rettet, beginnt er eine Verbindung zu spüren, wie er sie zuvor nie erlebt hat. Diese Aktion weckt aber die Aufmerksamkeit der „Fliegenjägerin“, die sich auf seine Fersen heftet – eine Frau mit ihren ganz eigenen Dämonen, die sich der Ausrottung häuslicher Gewalt verschrieben hat. Eine spannende Jagd beginnt.

Das vorherrschende Thema im Buch ist Missbrauch – schonungslos wird geschildert, was jungen Menschen widerfährt und sie zu älteren, grausameren, resignierteren Menschen macht. Das macht diesen Thriller zu einem Buch, das nicht einfach auf billige Art schockieren und seinen Lesenden einen kalten Schauer über den Rücken jagen will, sondern betroffen machen, das Leid greifbar machen. „Ich bin der Abgrund“ präsentiert uns keine Monster, sondern vielschichtige, komplexe Charaktere mit echten Biographien, was ihm im Thriller-Genre eine gewisse Sonderstellung einräumt.

Diese Komplexität überträgt sich leider nicht immer auf den Handlungsablauf, der doch häufiger zu recht unglaubwürdigen Zufällen greift, um die Geschichte voranzutreiben. Das sorgt für so manches Stirnrunzeln, tut aber dem deutlich erkennbaren Spannungsbogen nur wenig Abbruch.

„Ich bin der Abgrund“ ist ein Psycho-Thriller, der den Menschen und seine Psyche an sich in den Vordergrund stellt, was ihm – trotz kleiner Schwächen auf Handlungsebene – meisterhaft gelingt.

Bewertung vom 29.01.2022
Das Loft
Geschke, Linus

Das Loft


sehr gut

Ein spannender, unter die Haut gehender Thriller mit enttäuschender Auflösung

An „Das Loft“, dem ersten für sich allein stehenden Thriller von Bestseller-Autor Linus Geschke, stimmt zunächst einmal eigentlich alles: Figuren, Atmosphäre und Erzählperspektiven vermischen sich zu einem dichten psychologischen Roman, der eine toxische Beziehung auf schonungslose Art seziert und eine spannende Mordermittlung in Gang setzt, bei der man niemandem trauen kann. Leider bleibt die Auflösung hinter den bis zum großen Finale aufgebauten Erwartungen etwas zurück.

„Das Loft“ schildert aus den Perspektiven eines jungen Paars, Sarah und Marc, und einer Mordkommissarin die Ermittlungen im Fall des Verschwindens von Henning, dem Mitbewohner der beiden. Schnell ist klar, dass er wohl einem Mord zum Opfer fiel, und beinahe ebenso schnell sind Sarah und Marc in den Fokus der Ermittlungen gerückt. Nach und nach wird aufgedeckt, was für eine Art Beziehung sie miteinander führten und wie sie zu Henning standen – es dauert nicht lange, bis sich Zweifel regen, wie aufrichtig die beiden sind und was sie in ihren jeweiligen Beziehungen zu Henning zu verbergen suchen.

Der Thriller ist eher langsam erzählt und geprägt von den vielen Rückblenden, die Episoden aus Sarahs und Marcs gemeinsamer Geschichte erzählen. Dabei schwebt immer die Vermutung über dem Geschehen, dass sie ein Geheimnis hüten, und der Wunsch, diesem Geheimnis auf die Schliche zu kommen, gepaart mit der Erwartung, dass es der Schlüssel zur Auflösung des Mordfalls ist, wird im Laufe des Romans nahezu übermächtig. Es wird eine bedrohliche Atmosphäre aufgebaut, die weniger durch Action, sondern eher durch psychologische Spannung besticht. Leider sorgt die Auflösung zum Schluss für einen jähen Abfall dieser Spannung – was sicher für einige Lesende eine Enttäuschung bedeuten wird. Andererseits wird es für viele als Überraschung kommen.

Linus Geschke ist mit „Das Loft“ trotz dieser leichten Schwächen im Plot ein psychologischer Thriller gelungen, der die Menschlichkeit seiner Figuren in den Vordergrund stellt und dabei sehr gründlich vorgeht. Das wahre Kunststück ist, dass dabei stets auch eine hohe Grundspannung vorhanden bleibt. Lesenswert!

Bewertung vom 12.01.2022
Der Gräber
Persson Winter, Fredrik

Der Gräber


ausgezeichnet

Thriller trifft Horror – ein gelungener Genremix mit Gruselgarantie

„Der Gräber“ von Fredrik P. Winter ist eins dieser Bücher, das einen nach dem ersten Eindruck noch überraschen kann. Denn was anfängt wie ein typischer Serienkiller-Thriller, entwickelt sich bald zu einem langsam voranschreitenden psychologischen Spannungsroman mit deutlichen Horrorelementen, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Eine erfrischende Kombination!

Ein Serienmörder treibt ein besonders ausgeklügeltes Spiel in Göteborg: Jedes Jahr am 6. November tunnelt er sich durch den Keller einer wohlhabenden Person und verschleppt sie in den Untergrund. Seine Opfer werden nie gefunden, und die Polizei tappt seit Jahren im Dunkeln. Während Kommissarin Cecilia Wreede verzweifelt nach verwertbaren Spuren sucht, erhält Lektorin Annika Granlund ein geheimnisvolles Romanmanuskript, das die Morde aus der Sicht des Täters schildert – eines Täters, der behauptet, mysteriöse Erdwesen trieben ihn zu seinem Handeln. Was Annika zunächst als Fiktion abtut, scheint nach und nach in die Realität überzugehen, während ihr eigenes Leben immer mehr aus den Fugen gerät, als Hauskauf, Kinderwunsch und Existenzängste sie zu begraben drohen.

Über dem ganzen Roman schwebt stets die Frage: Was ist real? Können wir den Erzählstimmen wirklich trauen, insbesondere Annika? „Der Gräber“ ist kein klassischer „Whodunit“, bei dem das Aufdecken der Identität des Täters am Ende steht, vielmehr geht es darum, wie und warum der Täter handelt, wie er handelt. Und wir Lesenden wissen stets mehr als die Protagonistinnen. Das schürt ein Gefühl ängstlicher Ohnmacht, den Wunsch, ihnen zuzurufen, wie es wirklich sein muss – und sorgt für echte Gänsehautmomente beim Lesen. Das eher langsame Erzähltempo trägt sein Übriges dazu bei, eine bedrohliche Grundstimmung zu inszenieren, statt auf den schnellen Thrill zu setzen. So erstreckt sich die Romanhandlung mit einigen Zeitsprüngen über ein Jahr hinweg und schafft es somit, etwas Größeres als nur einen Mordfall und seine Auflösung zu inszenieren.

Ohne Effekthascherei und ermüdende Action-Sequenzen ist Fredrik P. Winter hier ein Thriller gelungen, der gekonnt Elemente von (Psycho-)Thriller, Kriminalroman und Horror zu einem schauerlichen Ganzen verwebt, das nicht nur mit einer originellen Prämisse aufwartet, sondern auch mit einigen bewusst gesetzten Leerstellen zu eigener Interpretation einlädt.

Bewertung vom 12.01.2022
Das gebrannte Kind / Cold Case Bd.3
Frennstedt, Tina

Das gebrannte Kind / Cold Case Bd.3


gut

Ein solider Skandi-Krimi, aber nicht der beste aus der Reihe

Der dritte Band der Cold-Case-Reihe um Kommissarin Tess Hjalmarsson dreht sich um ein Reihe von Brandstiftungen, die auffällige Parallelen mit einem alten, nie gelösten Fall aufweisen, der Tess auch persönlich stark berührt hat. Autorin Tina Frennstedt baut routiniert einen spannenden Kriminalfall auf, der jedoch in seiner Komplexität etwas hinter den Vorgängerbänden zurückbleibt.

Typisch für die Cold-Case-Reihe ist die Verbindung alter mit aktuellen Kriminalfällen, so auch in diesem Band. Zugleich hat Tess hier aber noch mit einer Reihe anderer Schwierigkeiten zu kämpfen: dem eifersüchtigen Ex ihrer Lebensgefährtin und einem weiteren alten Fall, der internationale Aufmerksamkeit auf sie zu lenken droht. Zudem ist sie bei den Ermittlungen persönlich stärker involviert, als gut für sie ist. Diese Vielzahl an Baustellen sorgt dafür, dass „Das gebrannte Kind“ weniger in die Tiefe geht als die anderen Bände der Reihe. Der Hauptverdächtige ist schnell ausgemacht, und ab diesem Punkt ist es nur noch eine Jagd auf Mister X, was der Handlung etwas den Wind aus den Segeln nimmt.

Trotz dieser leichten Schwächen ist „Das gebrannte Kind“ ein solider Kriminalroman, der wie gewohnt das persönliche Leben der Figuren und das gesellschaftliche Geschehen um sie herum geschickt einbindet, ohne dabei zu weit von der eigentlichen Handlung abzuweichen. Mit Tess Hjalmarsson hat Tina Frennstedt eine sympathische und interessante Ermittlerin erschaffen, die im Laufe der Reihe immer mehr an Tiefe gewinnt. Die Andeutungen auf ihren nächsten Fall, die das Buch reichlich enthält, versprechen deutlich mehr Action und Brisanz und machen neugierig auf die Fortsetzung.

Ein Muss für alle Fans von Tess Hjalmarsson, auch wenn der Band nicht ganz so stark ist wie seine Vorgänger. Ebenfalls geeignet für Neueinsteiger in die Reihe.

Bewertung vom 07.01.2022
Dorohedoro Bd. 1
Hayashida, Q

Dorohedoro Bd. 1


ausgezeichnet

Ein skurriles Meisterwerk voll Humor, Action, Phantasie und einer guten Prise Horror

Der erste Band der Sammelausgabe von „Dorohedoro“, dem Kult-Manga von Q-Hayashida, entführt in eine bizarre Welt, in der Magier Menschen für grausame Experimente missbrauchen, welche sie mutieren lassen. In diesem sogenannten Loch, das durch Portale von der Magierwelt getrennt ist, lebt Caiman, der sympathische Antiheld der Geschichte.

Caiman ist selbst ein Opfer missglückter Magie, trägt seinen Echsenkopf jedoch mit Fassung. Er ist auf der Suche nach dem, der ihm das angetan hat, und trägt so einige Rätsel (wortwörtlich) in sich, die nach Aufklärung schreien. Begleitet wird er von der schlagfertigen Nikaido, die ihn mit Essen und liebevoll-grober Unterstützung versorgt. Meist sind die Begegnungen mit der Magierwelt blutig, aber Caiman ist immun gegen Magie und sieht eine Chance, zu seinem alten Selbst zurückzukehren. Das macht auch die Magier etwas nervös, die hektisch versuchen, ihm auf die Schliche zu kommen und gleichzeitig auch mit ganz persönlichen Problemen zu kämpfen haben.

Die Welt von „Dorohedoro“ ist so schrill und skurril, dass es schwerfällt, die passenden Worte dafür zu finden. Gewalt steht an der Tagesordnung, jedoch bewahren die Protagonisten stets einen kühlen Kopf, haben immer einen frechen Spruch auf den Lippen, und auch die Gegenseite in Gestalt der leicht desillusionierten Magier kann durchaus Sympathiepunkte sammeln. Dieser Manga ist wild und bizarr, lustig und schockierend zugleich, und vor allem eines: originell! Von der Story bis zum World-Building, von den Charakteren bis zu den Zeichnungen ist „Dorohedoro“ eine einzige kreative Achterbahnfahrt, die keine Sekunde langweilig wird, immer wieder überrascht und eine vollkommen unverwechselbare Unterschrift trägt.

Der Auftakt einer großartigen Reihe, wie es sie sicher kein zweites Mal gibt. Unbedingte Leseempfehlung!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.