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Irisblatt

Bewertungen

Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 07.08.2021
Und immer wieder aufbrechen
Msimang, Sisonke

Und immer wieder aufbrechen


ausgezeichnet

„Das Exil war das größte Geschenk meiner Eltern an mich.“ (S.9)
Sisonke Msimang erzählt in „Und immer wieder aufbrechen“ sehr persönlich und reflektiert aus ihrem Leben, das untrennbar mit der Geschichte Südafrikas verbunden ist. Ihre Eltern gehörten einer revolutionären Gemeinschaft an, die für das Ende der Apartheid und ein unabhängiges, demokratisches Südafrika kämpften. In Südafrika geboren, im Exil lebend ist es für Sisonke und ihre beiden jüngeren Schwestern von Anfang an normal, dass befreundete Freiheitskämpfer in ihrem Haus ein- und ausgehen, dort über Rassismus und Apartheid diskutieren und Zukunftsvisionen für ein befreites Südafrika und einen freien afrikanischen Kontinent entwerfen. Sisonke wächst in Sambia, Kenia und Kanada auf, schreibt sich an einer us-amerikanischen Universität ein und betritt als junge Frau mit einem kanadischen Pass erstmals Südafrika, den Ort ihrer Sehnsucht.
Sehr offen beschreibt Sisonke Msimang ihre Erfahrungen mit Rassismus, Diskriminierung, Gewalt und Sexismus. „Selbst heute noch, wenn ich bei meinen eigenen Kindern sehe, wie sie immer belastbarer werden, fahre ich manchmal mit den Fingerspitzen über die Stiche, die mir die scharfen kleinen Zähne des Rassismus zugefügt haben.“ (S. 96)
Besonders gut hat mir gefallen, wie reflektiert Msimang ihre eigene sehr priviligierte Kindheit und später auch ihrer Erfahrungen in Südafrika bewertet. Ihre Identitätssuche, die Abnabelungsprozesse von ihren Eltern und deren Moralvorstellungen, der Kampf um Freiheit, der Wunsch politisch und sozial etwas zu verändern, die Suche nach Heimat und der familiäre Zusammenhalt sind für mich gut nachvollziehbar und haben mich berührt. Das offizielle Ende der Apartheid hat den Diskriminierungen in vielen Bereichen kein Ende gesetzt und auch schwarze Politiker haben daran leider nichts geändert. Das zu erkennen ist ein schmerzhafter Prozess für die Autorin und es bleibt nur ein „und immer wieder aufbrechen“. Das Buch bietet zahlreiche interessante Einblicken in eine mir unbekannte Welt und behandelt global relevante Themen auf einer sehr persönlichen Ebene. Eine Leseempfehlung für alle, die sich für die jüngere südafrikanische Geschichte, Rassismus, Sexismus, Entwurzelung, Migration und Identitätssuche interessieren.

Bewertung vom 01.08.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

Märchen aus einer dunklen Zeit
Stefanie vor Schultes Debüt „Junge mit schwarzem Hahn“ hat mich in ein dunkles, düsteres und grausames Zeitalter entführt.
Obwohl dieser märchenhafte Roman weder zeitlich noch räumlich verortet werden kann, mutet die Szenerie mittelalterlich an. Die Pest wütet, es ist Krieg, die Menschen leiden Hunger.
Der 11-jährige Martin lebt in einem kleinen Dorf. Er besitzt nichts bis auf die Kleidung, die er am Leibe trägt und einen schwarzen Hahn als ständigen Begleiter, Berater und Freund. Martin ist der einzige Überlebende seiner Familie, die einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Der Junge ist klug, verfügt über eine scharfsinnige Beobachtungsgabe und ist stets hilfsbereit. Seinen Lebensumständen zum Trotz konnte er sich sein überaus freundliches und hilfsbereites Wesen bewahren. Die Dorfbewohner meiden und misshandeln ihn - Liebenswürdigkeit ist ihnen suspekt; außerdem fürchten sie den Hahn, in dem sie den Teufel persönlich zu sehen glauben. Nach einem einschneidenden Erlebnis ist Martin von dem Wunsch getrieben, die entführten Kinder zu finden, die jedes Jahr von mysteriösen schwarzen Reitern entführt werden. Wohin weiß niemand, doch Martin möchte das herausfinden und dem Unrecht ein Ende setzen.
Als ein Wandermaler das Dorf aufsucht, nutzt Martin die Chance fortzugehen und schließt sich dem Künstler an.
Ich konnte mich dem Sog dieser ungewöhnlichen Geschichte nicht entziehen und musste das Buch an einem Stück lesen. Obwohl die Sätze sehr kurz, die Ausdrucksweise zeitweise naiv anmutet, strahlt der Text eine eigentümliche Poesie aus, die sehr gut in die beschriebene Welt und zu Martin passt. Die Charaktere und die Umgebung sind sehr lebendig gezeichnet. Die Autorin malt mit ihren Worten ein grausames, beklemmendes Bild des Elends und der Tyrannei, in dem nur wenige Menschen Mut, Freundlichkeit und Mitgefühl aufbringen - Martin ist in diesem Märchen eine seltene Lichtgestalt - ein Held, der die Welt retten könnte. Neben der spannende Geschichte bieten die Symbolik und die beschriebenen gesellschaftlichen Verhältnisse viel Stoff zum Nachdenken.
Mir hat dieses hoffnungsvolle Buch aus einer dunklen Zeit mit den zuweilen skurrilen Charakteren und einigen sehr unterhaltsamen Szenen nach Art der Schildbürger ausgesprochen gut gefallen.

Bewertung vom 31.07.2021
Der Panzer des Hummers
Minor, Caroline Albertine

Der Panzer des Hummers


gut

Irgendetwas fehlt
Caroline Albertine Minor hat einen Roman der leisen Töne geschrieben. Die für mich faszinierendste, poetischste und stärkste Szene findet sich gleich zu Beginn als die bereits verstorbene Charlotte (die Mutter) ihre Umgebung irgendwo „In einer anderen Welt“ erkundet. Charlottes Tod liegt Jahre zurück, ihre Tochter Ea lebt in San Francisco, eine weitere Tochter (Sidsel) und ein Sohn (Niels) in Kopenhagen. Es gibt wenig Berührungspunkte der Geschwister, obgleich Sidsel und Niels in Notlagen aufeinander zählen können. Neben einigen Nebenfiguren sind vor allem noch eine Tante im Pflegeheim sowie Beatrice (ein Medium, das Kontakt zu Verstorbenen aufnehmen kann) und ihre Tochter zentral für den Roman.
Die einzelnen kurzen Kapitel gleichen einer Kamerafahrt, deren Zoom abwechselnd die aktuelle Lebenssituation, das gegenwärtige Alltagsleben der Protagonist*innen in den Blick nimmt und diese durch ihren Tag begleitet. Dadurch erfahren wir sowohl von gegenwärtigen Wohnsituationen, Problemen, Gemütszuständen und Verlusten und Belastungen, die aus der Vergangenheit resultieren. Auch die verstorbene Charlotte und ihr ebenfalls toter Ex-Ehemann Troels melden sich aus dem Jenseits zu Wort bzw. interagieren dort miteinander.
Das alles liest sich flüssig. Die Sprache ist bildlich treffend auf den Punkt, ohne abgehoben und überladen zu sein. Zuweilen blitzt eine distanzierte Komik durch, unterschwellig ist eine Melancholie bei fast allen Beteiligten spürbar. Caroline Albertine Minor sagt selbst über ihren Roman: „Der Panzer des Hummers ist ein Gefäß, das ich mit allem gefüllt habe, was mich interessiert: Elternsein, Gleichzeitigkeit, die Vorstellungen über den Tod und das Leben danach. Der Wunsch nach einer Beziehung.“
Beim Lesen habe ich immer gewartet, dass etwas passiert, dass die Kamerafahrten auf einen Höhepunkt zusteuern, die Verbindungen der Protagonist*innen deutlicher werden, ich erfahre, warum mir die Autorin ausgerechnet diese Szenen und keine anderen zeigt. Die angesprochenen Themen haben alle Eingang gefunden und trotzdem dominiert am Ende für mich ein Gefühl der Leere und der Roman lässt mich irgendwie unzufrieden zurück.

Bewertung vom 16.07.2021
Die Wütenden und die Schuldigen
Düffel, John

Die Wütenden und die Schuldigen


gut

Die Präsenz der Leerstelle
Der todkranke Richard (Pfarrer im Ruhestand) lebt alleine in seinem Häuschen in einem Dorf in der Uckermark. Seine Enkelin Selma macht sich mit Kathi (Palliativmedizinerin und Mutters bester Freundin) auf den Weg zu ihm. Es ist die Zeit des ersten Lockdowns im März 2020. Auf den Straßen sind kaum Autos unterwegs und die Corona-Pandemie durchkreuzt so manche Pläne. Selmas Mutter, die als Anästhesistin bei der Charité arbeitet, muss aufgrund eines Coronafalls in sofortige Quarantäne und es ist fraglich, ob sie ihren Vater Richard noch einmal lebend sehen wird. Eigentlich sollte ihr Sohn Jakob nach einer gescheiterten Beziehung bei ihr Unterschlupf finden. Doch dies erscheint in der Quarantänesituation unvorstellbar zumal das Verhältnis der beiden konfliktbeladen ist. Marias Ex-Mann Holger, der Richards einziger Sohn ist, befindet sich nach einem Suizidversuch in einer psychiatrischen Klinik. Auch diese Situation stellt die Familie angesichts des todkranken Richard vor Herausforderungen. John von Düffel gelingt es im ersten Teil sehr gut die zentralen Protagonist*innen einzuführen. Sein Schreibstil ist klar, präzise und angenehm zu lesen. Immer mal wieder blieb ich im Text hängen, weil ich geäußerten Gedanken noch etwas nachspüren wollte. Beispielsweise wenn Kathi zu Selma sagt, dass es am Ende nur zwei Arten von Sterbenden gibt - die Wütenden und die Schuldigen.
Wut und Schuld sind zentrale Themen des Romans. Alle Familienmitglieder spüren sie auf unterschiedliche Weise und immer liegt die Ursache in einem Mangel. Die Abwesenheit von Menschen, Gegenständen oder auch Handlungen haben größere Auswirkungen auf das Leben der Protagonist*innen als angenommen. Das, was fehlt, nicht mehr da ist, nie vorhanden war, nicht gesagt, nicht gesehen oder getan wurde, entfaltet eine große Präsenz und hinterlässt Spuren. Während der Coronapandemie mit ihren Beschränkungen und unter lebensbedrohlichen Umständen treten diese Leerstellen noch deutlicher hervor.
Für Maria entpuppt sich die gemeinsam mit einem Rabbi verbrachte Quarantänezeit jedoch als Chance, mehr Klarheit über die Verstrickungen ihrer Familie und ihre eigene Wut und Schuld zu erlangen.
Leider folgen auf den starken ersten Teil des Romans zwei spürbar schwächere Teile. Gerade Selmas Erlebnisse und Handlungen waren für mich überhaupt nicht stimmig und nachvollziehbar. Einige Szenen waren mir zu konstruiert und das Ende lässt mich mit Ausnahme von Marias Entwicklung mit zu vielen losen Enden zurück. Das bedauere ich zutiefst, weil es auch immer wieder sehr starke und berührende Szenen gab, bei denen auch die eine oder andere Katze eine Rolle spielte. Auch die künstlerische Verarbeitung der romanrelevanten Themen in Form von „unvollendeten“ Skulpturen durch Jakobs Ex-Freundin hat mir gut gefallen. Für mich konnte der Roman trotz starker Szenen sein Potential nicht ausschöpfen. Mir fehlte die engere Verflechtung einzelner Erzählstränge und ich konnte zu viele Szenen weder emotional noch von der Logik her nachvollziehen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.07.2021
Weiße Nacht
Suah, Bae

Weiße Nacht


gut

Traumcollage in der Hitze Seouls
In „Weiße Nacht“ begleiten die Leser*innen 5 Protagonist*innen durch die Hitze Seouls. Es sind eine Schauspielerin, die zwei Jahre lang im einzigen Hörtheater Seouls assistierte, der (ehemalige) Direktor des Hörtheaters, eine Deutschlehrerin, ein deutscher Schriftsteller und ein koreanischer Dichter, der noch nie ein Gedicht verfasst hat. Sie alle verbindet eine gewisse Einsamkeit und Ziellosigkeit.
Weiße Nacht wurde als „flirrender Fiebertraum“ angekündigt. Diese Beschreibung fängt die Atmosphäre sehr gut ein. Die Szenen folgen der Logik eines Traums: Vertrautes existiert neben Befremdlichem. Der Text ist voller Sprünge, die Sprache häufig bildlich, die Dialoge sind zuweilen seltsam, nichts scheint greifbar. Den Protagonist*innen haftet etwas Unwirkliches, Geisterhaftes an. Immer wieder verschwimmen Zeiten und Perspektiven.
Bae Suahs Erzählweise ist durch Wiederholungen geprägt, die beim Lesen stutzig machen, einen Déjà-vu-Effekt auslösen und auffordern Verbindungen herzustellen. Aber auch diese Verbindungen entziehen sich einer Logik und lassen sich, wenn überhaupt, eher intuitiv begreifen. Zu den immer wiederkehrenden Elementen gehören ein Radio, das sich selbst an und abschaltet, um dann mehr oder weniger dieselbe Botschaft zu übermitteln, Gerüche, dasselbe Kleidungsstück, eine Geste, gleißend helle Objekte, ein pockennarbiges Gesicht und viele weitere. „Weiße Nacht“ ist voller Andeutungen, bleibt aber vage und geheimnisvoll. Immer wieder wird auf „Die Blinde Eule“, ein Werk des iranischen Schriftstellers Sadegh Hedayat verwiesen. Der deutsche Schriftsteller, der nach Seoul reiste, um einen Kriminalroman zu schreiben, erläutert in einer Szene seine Arbeitsweise wie folgt: „Wenn ich ein Buch schreibe, plane ich verschiedene alternative Versionen und versuche, so viele wie möglich davon aufzuschreiben.“ (S. 146). „Weiße Nacht“ liest sich fast so als hätte Bae Suah genauso gearbeitet, keine Auswahl getroffen und alle Versionen in einer Collage angeordnet.
Ihr Roman lässt sich flüssig lesen, fasziniert und irritiert. Ich habe mich irgendwie in diesen Traumsequenzen verloren. Nach Beendigung der Lektüre herrscht bei mir vor allem Ratlosigkeit. Ich weiß nicht so recht, was ich mit der Lektüre und den Traumbildern anfangen soll. Vielleicht fehlt mir dazu das kulturelle Hintergrundwissen. Ich fühle mich wie nach einem rätselhaften Traum, der ohne starke Emotionen dahinplätscherte und dadurch für mich auch leider keine Bedeutung erlangen konnte.

Bewertung vom 11.07.2021
99 seichte Fragen für tiefgründige Unterhaltungen zwischen Eltern und Kindern
Caspers, Ralph

99 seichte Fragen für tiefgründige Unterhaltungen zwischen Eltern und Kindern


ausgezeichnet

Inspirierend, humorvoll, klug - großartiges Buch für Kinder und Erwachsene
Ralph Caspers beherrscht die Kunst zum Nachdenken anzuregen, Wissen zu vermitteln, unterschiedliche Perspektiven aufzuzeigen und dabei jede Menge gute Laune zu verbreiten. Das ging mir mit „Wissen macht Ah“ genauso wie mit „99 seichte Fragen für tiefgründige Unterhaltungen zwischen Eltern und Kindern“. Optisch ist das Buch übersichtlich und schön aufgemacht. Jeweils links steht in großen weißen Buchstaben die Frage auf farbigem Papier. Auf der rechten Seite gibt Ralph Caspers passend zur Frage Denkanstöße unterschiedlicher Art. Mal sind es Überlegungen aus welchen Blickwinkeln die Frage betrachtet werden kann, mal erzählt er passende Episoden oder Ereignisse und lässt uns an seiner Antwort teilhaben. Es werden auch neue Fragen gestellt, die sich aus der ursprünglichen ergeben und somit auch gezeigt, wie komplex Antworten auf scheinbar einfache Fragen sein können. Die Art zu schreiben ist sehr persönlich, leicht verständlich, vieles brachte mich zum Schmunzeln und auf neue Gedanken. Die Texte sind klug, mit Humor gewürzt und immer mit einer gehörigen Portion Ernsthaftigkeit der Frage und den Leser*innen gegenüber. Es ist ein Buch, das bestimmt auch vielen Erwachsenen - unabhängig vom Gespräch mit ihren Kindern - Freude bereitet und zum Nachdenken anregt.
Mir persönlich gefällt das Buch sehr - doch besteht es auch den Praxistest, „tiefgründige Unterhaltungen zwischen Eltern und Kindern“ anzustoßen?

Als ich das erste Mal durchs Buch blätterte, saß zufällig mein 11-jähriger Sohn mit Katze auf dem Schoß neben mir. Ich blieb sofort bei Frage 67 und 68 hängen: „Welche Regel ist zu Hause total überflüssig?“ Und: „Welches Regal zu Hause ist total überflüssig“. Beide Themen bergen in unserer Familie Konfliktpotential. Ich fing also ohne Vorwarnung an, den Text zum Thema Regeln laut vorzulesen und hatte sofort die Aufmerksamkeit meines Sohnes. „Wenn du eine Packung Kekse öffnest, dann iss sie leer.“ „Räume auf keinen Fall dreckiges Geschirr in die Spülmaschine.“ usw.
Die Reaktion meines Sohnes war eine Mischung aus Irritation und Belustigung. Mit seinem Kommentar: „Das meint er nicht ernst!“, waren wir bereits mitten im Gespräch über Regeln und eventuell auch völlig überflüssige Regale.
Zwei Tage später haben wir uns dann richtig Zeit für das Buch genommen. Selbstverständlich wollte mein Sohn „Ralphs Fragen-Zufallsgenerator“ nutzen, um es dem Schicksal zu überlassen, welcher Frage wir uns widmen. Der Finger flog also über die Seiten und landete schließlich auf Nr. 4 „Sollte man aufhören, wenn es am schönsten ist“, dann auf Nr. 32 „Wo ist der beste Ort zum Schlafen?“ und so weiter.
Es hat uns beiden sehr viel Spaß gemacht über die Fragen nachzudenken. Ich habe Seiten meines Sohnes kennengelernt, die mir neu waren und vermutlich war das auch andersherum der Fall. Als ich nach der dritten Frage erst einmal aufhören wollte, war es mein Sohn, der (zu meiner Freude) darauf bestand noch ein bisschen weiter zu denken. Praxistest bestanden und eine große Empfehlung für Menschen, die mal auf andere Art und Weise mit ihren Kindern ins Gespräch kommen wollen!

Bewertung vom 05.07.2021
10 Tage im Herzen der Ferne (eBook, ePUB)
Mateew, Nico

10 Tage im Herzen der Ferne (eBook, ePUB)


sehr gut

Bereichernder Einblick in Denkweise und Haltung albanischer Menschen
„10 Tage im Herzen der Ferne“ besteht aus zwei Teilen. Im ersten werden Stationen und Episoden aus dem beruflichen Leben eines Managers erzählt, der des öfteren am Sinn seiner Arbeit zweifelt und über die Jahre immer unzufriedener mit seinem Leben wird. Bis auf wenige, teils sehr skurrile Begebenheiten, die mir ausgesprochen gut gefallen haben, hätte dieser Teil für mich deutlich kürzer sein können.
Ein Besuch bei der Familie in Bulgarien, gesundheitliche Probleme und die bereits lang andauernde Unzufriedenheit im Beruf führen schließlich zum Entschluss, Albanien zu bereisen und dort einen Dokumentarfilm über die Menschen, die Küche und die Seele dieses kleinen Landes zu drehen.
Nun beginnt der zweite Teil, in der uns der Autor mit auf diese Albanienreise nimmt. Die Begegnungen mit den Menschen, ihre Mentalität, die Selbstverständlichkeit mit der das Filmteam und ihr albanischer Reiseführer willkommen geheißen wurden, waren äußerst unterhaltsam, haben mich berührt und oftmals nachdenklich gestimmt. Fast nichts läuft wie geplant, aber Pläne sind da, um geändert zu werden. Wer sich auf das Land mit seinen Menschen einlässt, wird reich belohnt. Die Szenen sind aus dem Leben gegriffen und ausdrucksstark. Immer hatte ich das Gefühl, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, es viel weniger äußere Zwänge gibt und die Menschen mehr im Jetzt leben. Die Haltung zum Leben und die Zufriedenheit mit dem was ist, hat mich nachhaltig beeindruckt. Es ist eine Selbstverständlichkeit, regionale Produkte zu verarbeiten, Fast-Food-Ketten wie McDonalds konnten sich nicht etablieren.
Während des Lesens, hatte ich das Gefühl direkt neben dem Autor zu sitzen, der von seinen Reiseerlebnissen erzählt. Immer habe ich mich in diesem zweiten Teil gut unterhalten gefühlt und hatte sofort die beschriebenen Situationen bildlich vor Augen. Durch den Klappentext hatte ich erwartet, mehr über die dortige Küche zu erfahren. Hier blieben für mich viele Fragen offen und ich hätte mir mehr Informationen zu typischen Gerichten und der Zubereitung gewünscht.
Ich bin sehr froh, diesen Bericht gelesen zu haben. Albanien war bisher ein blinder Fleck für mich auf der Landkarte. Dieses Buch hat mir Bilder und Szenen aus diesem Land geschenkt und ich habe große Lust bekommen, selbst durch Albanien zu reisen.

Bewertung vom 12.06.2021
Das Salzfass
Sailer, Simon

Das Salzfass


ausgezeichnet

Bei Simon Sailers „Salzfass“ handelt es sich um ein kleines Juwel. Die Aufmachung ist sehr hochwertig. Zahlreiche schwarz-weiß Illustrationen von Jorghi Poll ergänzen die schaurig-skurrile Geschichte auf wunderbare Art und Weise.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht ein altes Salzfass aus Silber und Kobaltglas, in dessen Inneren sich noch Spuren einer weißen Substanz befinden. Schon bald entpuppt sich das Salzfass als äußerst eigensinniges Objekt, das sich immer mehr in Maurices Antiquitätenladen ausbreitet und auf mysteriöse Art und Weise Besitz von Maurice ergreift. Auf die unterschiedlichsten Arten versucht der verzweifelte Antiquitätenhändler das Salzfass loszuwerden und ist schließlich sogar zum Äußersten bereit. Die Erzählung wirkt wie aus einer anderen Welt, reiht sich ein in eine Tradition der Schauergeschichten, ist zuweilen tragisch-komisch, rätselhaft und äußerst skurril. Ich mochte die Atmosphäre sehr gerne und habe noch nichts Vergleichbares gelesen.

Bewertung vom 21.05.2021
Unverschwunden
Gurt, Philipp

Unverschwunden


ausgezeichnet

„Das Leben änderte alles - wirklich alles! Manchmal mit einem Schlag und manchmal so unmerklich langsam, dass nur die Falten im Gesicht davon zeugten.“ (S. 190)

Der Schriftsteller Lukas Cadisch steht kurz vor der Veröffentlichung seines neuen Romans als sich sein Leben eines Morgens schlagartig ändert. Menschen und Tiere können ihn weder sehen, spüren noch hören. Auch ist es Lukas unmöglich irgendein Lebewesen anzufassen. Verzweifelt versucht er Kontakt aufzunehmen, sich bemerkbar zu machen. Die Situation, in der sich Lukas befindet, ist beängstigend und beklemmend. Lukas ist auf sich selbst zurückgeworfen ohne die Möglichkeit in einen Dialog oder Austausch zu treten. Auch wenn die Ausgangssituation und die Umsetzung hier eine völlig andere ist, hat mich „Unverschwunden“ an Marlen Haushofers großartigen Roman „Die Wand“ erinnert. „Unverschwunden“ wirkt auf mich aber noch beklemmender, weil Lukas weiterhin von Menschen umgeben ist, die ihrem Alltag nachgehen. Ohne die Möglichkeit Kontakt aufzunehmen, bleibt ihm aber nur die Rolle eines unsichtbaren Beobachters, der keinerlei Resonanz auf sein Tun erwarten kann.

Sehr intensiv und glaubhaft erzählt Philipp Gurt wie Lukas mit der Situation umgeht, welche Auswege er sucht und wie er seine Haltung verändert. Auf der emotionalen Ebene habe ich mich Lukas sehr nah gefühlt. „In ihm herrschte Chaos. Einsamkeit, Sehnsucht, Schmerz und das Gefühl des Verlorengegangenseins mischten sich mit der Aussichtslosigkeit, jemals aus diesem Loch zu entkommen“ (S. 205).

„Unverschwunden“ thematisiert, was Menschsein bedeutet und was wichtig im Leben ist. Trotz oder gerade wegen seines unfreiwilligen Zustandes als „Unverschwundener“ erlebt Lukas sehr intensive Momente, die sein Leben bereichern und ihm eine neue Sicht auf seine Umwelt und seine vergangenen sozialen Beziehungen ermöglichen. Doch letztendlich bleibt menschliches Leben ohne Kontakt, ohne die Resonanz von anderen unvorstellbar. Lukas „sehnte sich nach Nähe, nach Körperlichkeit. Vor allem fehlte es ihm, die Haut eines anderen Menschen berühren zu dürfen“ (S. 204/205).

Unverschwunden ist ein bewegender, äußerst spannender Roman von großer Intensität, der im Verlauf mehr als eine Überraschung bereit hält und ganz wunderbar erzählt ist.

Bewertung vom 11.05.2021
Caspers Weltformel
Grader, Victoria

Caspers Weltformel


ausgezeichnet

Physik-Doktorand Casper hat eine Formel gefunden, mit deren Hilfe er soziale Interaktionen vorhersagen kann. Jahrelang beobachtet er, sammelt Daten, notiert alles fein säuberlich in kleine Hefte und analysiert. Immer mehr verfängt er sich im Hamsterrad seines Alltags. Seine Tage sind klar strukturiert, arbeitsreich, monoton, einsam und vorhersehbar geworden. Als er durch eine zufällige Entdeckung am Berliner Bahnhof seinen Zug verpasst, entscheidet Casper spontan, dass es so nicht weitergehen kann. Kurzerhand bucht er den nächsten Zug nach Budapest und nimmt sich vor, einfach mal das Gegenteil von dem zu tun, was vernünftig und vorhersehbar wäre.
Noch am ersten Abend in der neuen Stadt lernt Casper den hilfsbereiten und gutmütigen Fernfahrer János kennen, wenig später auch Ilona. Ilona hat Geldsorgen und ist in ihrem spontanen, träumerischen, leicht aufbrausenden Wesen ganz anders als der strukturierte und gebildete Casper, der sich seiner Verantwortung als Konsument bewusst und die Welt zum Besseren verändern möchte. Ilona wirft Casper völlig aus der Bahn - sie ist unberechenbar und stellt ihn vor große persönliche Herausforderungen. Während die Geschichte ihren Lauf nimmt, kommt es zu lebendigen oft konfliktreichen, mal zarten, dann wieder skurrilen Begegnungen. Mehr als einmal kommt es zu überraschenden Wendungen und zuweilen überschlagen sich die Ereignisse.
Es gibt vieles, das ich an diesem Roman sehr mag. Der fesselnde und schöne Schreibstil hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Personen und Orte sind treffend beschrieben, die Dialoge unmittelbar und authentisch. Ich hatte das Gefühl immer mitten drin, ganz nah am Ort des Geschehens zu sein. Ich konnte mich mit Casper, Ilona und János gemeinsam freuen, mich aufregen, traurig sein und häufig einfach nur den Kopf schütteln. Immer habe ich mich dabei bestens unterhalten. Den Roman zu lesen fühlte sich an wie einen Film vor meinem inneren Auge ablaufen zu sehen. Ganz nebenbei werden existentielle Fragen nach dem Sinn des Lebens aufgeworfen und danach, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Durch Casper bekommen Themen wie Missstände in der Kleiderproduktion, die Verantwortung des Konsumenten und die Problematik der Massentierhaltung einen Raum. Gleichzeitig zeigt der Roman aber auch, dass es leichter ist ein verantwortungsvoller Verbraucher zu sein, wenn keine finanziellen Nöte vorhanden sind. Es hat sehr viel Freude gemacht „Caspers Weltformel“ zu lesen. Gegen Ende hat der Roman fast etwas Märchenhaftes und ich ertappe mich dabei zu überlegen wie es mit Casper, Ilona und János weitergeht. Vielleicht haben sie das ungarische Sprichwort zu ihrem Motto gemacht: „Verlasse dich nicht auf den Zufall, aber baue im goldene Brücken.“