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anushka

Bewertungen

Insgesamt 142 Bewertungen
Bewertung vom 26.02.2017
Sein blutiges Projekt
Burnet, Graeme Macrae

Sein blutiges Projekt


ausgezeichnet

Culduie, Schottland, 1869: Der 17-jährige Roderick Macrae läuft blutüberströmt die Straße hinunter. Er bestreitet nicht, drei Menschen brutal getötet zu haben. Doch was trieb den jungen Bauernsohn dazu? Auf Anraten seines Anwalts bringt er die Ereignisse zu Papier, die das raue Leben in einer kleinen Ortschaft darstellen, die Handvoll Familien, die dort leben, beherrscht von einem machtbesessenen Sheriff. Das Leben wird nach dem Tod der Mutter für Roderick und seine Geschwister Stück für Stück unerträglicher, bis die Ereignisse schließlich in der Bluttat kulminieren. Ergänzt werden Rodericks Schilderungen durch einen Bericht des Gefängnisarztes Thomson, der seine psychologische Begutachtung und deren Schlüsse zu Rodericks Schuldfähigkeit nüchtern, aber keineswegs neutral darlegt. Gerade diese Passage ist eine glaubhafte und interessante Darstellung der Anfänge der Kriminalpsychologie, samt der Ideologie und des Menschenbildes, die dahinterstehen. Viele der Feststellungen muten heute sehr krude an und wühlen in ihren mitunter offensichtlichen Fehlschlüssen beim Lesen auf. Abschließend wird der Gerichtsprozess mittels einer Zusammenfassung von Zeitungsberichten erzählt und stand im ersten Teil um die Morde der Ausgang bereits fest, so lebt hier die Spannung von verschiedenen Wendungen und der Ungewissheit des Ausgangs bis zum Schluss. In diesem Teil kam eine fast schon greifbare Spannung auf, die Anspannung im Gerichtssaal liegt beim Lesen knisternd in der Luft.

Die Geschichte ist sehr gekonnt konstruiert und vermittelt den überzeugenden Eindruck eines True-Crime-Berichts. Neben der Behauptung, in den Highland Archiven ein Manuskript von Roderick Macrae gefunden zu haben, liegt ein besonderer Kniff in der Namensähnlichkeit zwischen Täter und Autor. Hat man diese einmal bemerkt, spielen noch ganz andere Erwartungen in die Rezeption der Geschichte mit hinein (die ich leider aus Spoilergründen nicht näher benennen kann). Das Buch kommt ganz im Stile eines True-Crime-Berichts mit einer gewissen Trockenheit daher und ebenso mit einer gewissen Sachlichkeit. Der Autor spielt geschickt mit dem Leser und stiftet gekonnt Verwirrung darüber, ob diese Ereignisse wirklich stattgefunden haben, da ja gleichzeitig bekannt ist, dass das Buch für den Man Booker Prize nominiert war. Empfindet man nach dem schriftlichen Geständnis vielleicht noch Mitgefühl mit Roderick, vielleicht auch manches Mal Befremden (aber schließlich ist Roderick mit 17 wahrscheinlich auch noch in der Pubertät), so ist man später ob der Widersprüche seines Berichts mit den Zeugenaussagen keineswegs mehr sicher, wem man glauben soll und ob Roderick das Mitgefühl überhaupt verdient hat.

Mir hat zugegenermaßen an manchen Stellen ein wenig die Spannung gefehlt, dafür bin ich zum Ende hin geradezu durch die Seiten geflogen. Alle Figuren waren authentisch dargestellt und die Arroganz des Gefängnisarztes absolut zu Zeit und Tätigkeit angemessen. Burnet hat über die bislang erwähnten Punkte unterschwellig auch die Moral angesprochen und die auch heute noch aufkommenden Zweifel, ob nicht jeder, der so eine Tat begeht, eigentlich unzurechnungsfähig ist und inwiefern es gerecht ist, solche Taten ungesühnt zu lassen. Über allem aber steht die Technik des Autors und sein Können darin, den Leser in die Irre zu führen und Wahrheiten zu präsentieren, die möglicherweise keine sind.

Bewertung vom 21.01.2017
Die Spionin
Coelho, Paulo

Die Spionin


gut

Frankreich, 1917: In Paris wird eine Frau von einem Erschießungskommando hingerichtet. Es handelt sich dabei um die skandalumwitterte Tänzerin Mata Hari, die in den höchsten Kreisen verkehrte und schließlich der Doppelspionage angeklagt und für schuldig befunden wird.
In diesem Buch, verfasst Mata Hari kurz vor ihrer Hinrichtung einen (fiktiven) Brief an ihren Anwalt und schildert ihre Sicht der Ereignisse und Entwicklungen. Dabei erfährt man viel aus ihrer Biografie; wie sie sich in ihrer holländischen Heimat langweilte, deshalb einen britischen Offizier heiratete und mit ihm nach Java ging. Doch diese Ehe war geprägt von Gewalt und so verlässt die damals noch Marghareta genannte junge Frau ihren Mann und ihr Kind und beginnt ohne Ausbildung eine Karriere als Tänzerin. Ihre freien Interpretationen exotischer Tänze, die wenig Authentizität und dafür viel nackte Haut beinhalten, verhelfen ihr zu Berühmtheit. Sie prahlt in ihrem Brief mit ihren unzähligen Liebschaften und legt dabei sowohl Arroganz als auch Naivität an den Tag. Leider bleibt Mata Hari in diesem Abschnitt sehr schematisch. Es wirkt oft wie eine Aneinanderreihung von biografischen Fakten, oft fehlte mir dabei die Emotionalität und Nähe zur Figur. Zudem scheint der Autor damit spielen zu wollen, dass Mata Hari auch im Ruf einer Lügnerin stand und oft viel zu ihrer Geschichte dazu erfand. Das erfährt man jedoch erst im Nachwort oder bei weiteren Recherchen im Internet. Im Buch selbst ist ein solches Verwirrspiel leider nicht gut gelungen, weil es nicht deutlich genug herausgestellt oder in Widerspruch zu anderslautenden Aussagen gestellt wird. Als einziges relativierend wirkt der anschließende (fiktive) Brief von Mata Haris Anwalt, doch auch das ist nicht ausgearbeitet genug und dient wahrscheinlich eher dazu, die Abläufe zu schildern, die außerhalb Mata Haris Wissen lagen. Leider bleibt auch Mata Haris Spionagetätigkeit schwammig und wenig greifbar oder verständlich. Der Meinung der Buchfigur nach seien gar keine Informationen geflossen bzw. ist von der Weitergabe von Klatsch die Rede, nur dass nie deutlich wird, was und an wen Mata Hari geliefert hat. Deutlich wird nur, dass Mata Hari in ihrer Selbsterhöhung und ihrem Geltungsdrang dumme und naive Dinge getan hat und sich möglicherweise in eine Situation manövriert hat, deren Bedeutung sie gar nicht erfassen konnte. Auch wird deutlich, wie gefährlich eine Frau wahrgenommen hat, die die Geliebte vieler einflussreicher Männer war und schließlich mindestens für ihre Unkonventionalität mit dem Leben zahlen musste.

Mata Hari wird auch weiterhin eine Faszination auf mich ausüben, dieses Buch wird jedoch wenig zu meinem Bild von ihr beitragen. Der Schreibstil ist zugegebenermaßen ansprechend und durchaus poetisch, konnte mir aber zu keiner Zeit irgendeine Emotion vermitteln, was ich wirklich bedauerlich fand. Auch die biografischen Details wurden für mich nicht bildhaft genug. Meiner Meinung nach wurde hier einiges an Potential der Geschichte verschenkt. Ich hatte ein ergreifenderes Buch erwartet, nicht zuletzt aufgrund Mata Haris tragischem Ende und etlicher Ungerechtigkeiten, die ihr wiederfahren sind. So kann ich nur sagen "Kann man lesen, muss man aber nicht unbedingt".

Bewertung vom 21.01.2017
Das Nest
Sweeney, Cynthia D'Aprix

Das Nest


ausgezeichnet

Das Nest. Das sind zwei Millionen Dollar Erbe für die 4 Geschwister Leo, Jack, Melody and Bea Plumb, die sie endlich in wenigen Monaten zu Melodys 40. Geburtstag erhalten. Alle können das Geld gut gebrauchen, denn sie haben bisher so gelebt als hätten sie das Geld längst. Doch dann zahlt die Mutter kurz vorher einen Großteil des Fonds an den Playboy und Lebemann Leo allein aus und die restlichen Geschwister sind alles andere als glücklich.

"Das Nest" spielt ein interessantes Gedankenexperiment durch. Was passiert, wenn man "auf Pump" lebt und der Geldsegen dann plötzlich ausbleibt? Und wenn dann auch noch der eigene Bruder daran schuld ist, sich deswegen aber kein bisschen schlecht fühlt? Die Plumb-Geschwister standen sich eh nicht sonderlich nahe, was seine Ursachen auch in ihren Kindheiten und vor allem der Mutter hatte. Hier ist sich jeder immer selbst der nächste. Keines der Geschwister hat sein Leben wirklich im Griff. Jack führt ein Antiquitätengeschäft, das nicht mehr gut läuft und daher hat er eine Hypothek auf das gemeinsame Sommerhaus mit seinem Mann aufgenommen. Bea war eine vielversprechende Schriftstellerin, konnte aber nicht an den Erfolg anschließen und hat den Vorschuss vom Verlag längst aufgebraucht. Melody hat sich mit ihrem gutbürgerlichen Leben übernommen, das Haus ist zu teuer und nun sollen auch noch die Töchter auf Privatcolleges gehen. Der einzige, der bislang wirklich selbst Geld gemacht hat, war Leo, doch auch der ist damit leichtsinnig umgegangen.

Die Autorin kann die Dynamik innerhalb der Familie sehr gut nachzeichnen. Doch es geht nicht nur um die Geschwister, auch ihr Umfeld ist von der plötzlich veränderten Situation betroffen. Nun müssen die Plumbs vor allem erst einmal sich selbst finden und dann schnellstmöglich eine Lösung für ihre finanziellen Probleme. Doch in der Gesellschaftsschicht, aus der sie stammen, ist das nicht einfach, denn hier geht es auch immer um den äußeren Schein. Es wird sehr gut deutlich, dass sich die Plumb-Geschwister dieses Leben eigentlich gar nicht leisten können und trotzdem geht es immer wieder darum, etwas darzustellen. Die Geschwister werden mit scharfem Auge "seziert" und auch ein feinsinniger Humor findet sich zwischen den Zeilen. Befürchtet man zuerst, dass man es durchweg mit jammernden, selbstmitleidigen, verwöhnten Menschen mittleren Alters zu tun haben wird, wachsen einem die Figuren doch schnell ans Herz. Die einzelnen Geschichten sind nicht zuletzt auch durch die Familienbande sehr gut verwoben. Auch wenn "Das Nest" kein Spannungsroman ist, hat mich eine gewisse unterschwellige Spannung immer bei der Stange gehalten. Zusätzlich gelungen finde ich auch das Cover, das perfekt zum Inhalt passt.

"Das Nest" ist leichtgängige Unterhaltung mit eingestreuten tiefgründigen Botschaften. Es ist nicht zu schwermütig und macht trotzdem die Ernsthaftigkeit der Erwartungen, Träume und Enttäuschungen der Figuren deutlich. Die Autorin hat eine gute Balance gefunden und mich mit diesem Buch perfekt unterhalten. Und am Ende bleibt vielleicht bei dem ein oder anderen Leser die bange Frage: wie würde meine Familie in so einer Situation reagieren?

Bewertung vom 25.10.2016
Die Wahrheit
Raabe, Melanie

Die Wahrheit


gut

Mehr ein Spannungsroman als ein Thriller, mit etwas enttäuschendem Ende

Sieben Jahre lang ist Philipp Petersen nun schon verschwunden. Auf einer Geschäftsreise in Südamerika wurde er entführt. Seine Frau, Sarah, lebt mit dem gemeinsamen Sohn in Hamburg und hat die Hoffnung nie aufgegeben. Nun ist sie bereit, neu anzufangen, da erreicht sie ein Anruf des Auswärtigen Amtes: Philipp wurde befreit und wird heimkehren. Doch der Mann, der schließlich vor ihr steht, ist nicht Philipp! Sarah versucht, es jemandem zu sagen, doch keiner glaubt ihr. Und der Fremde droht ihr, dass sie alles verlieren würde, sollte sie zur Polizei gehen ...

Dies ist mein erstes Buch von Mel Raabe und nach den begeisterten Stimmen zu ihrem ersten Buch war ich auf dieses sehr gespannt. Es gelingt dem Buch auch gut, die bedrückende und beängstigende Stimmung zu vermitteln, wenn man mit einem Fremden, dessen Absichten man nicht kennt, ein Haus teilen muss. Ein Großteil der Spannung ergibt sich hieraus sowie aus der Suche nach den Absichten und Motiven des Fremden. Erzählt wird die Geschichte abwechselnd aus Sarahs Sicht und der Sicht des Fremden. Beide umkreisen einander misstrauisch und oft feindselig. Bei Sarahs Verhalten wäre es für den Fremden jedoch ein Leichtes, sich ihrer bei der ersten Gelegenheit zu entledigen. Und das ist einer meiner zentralen Kritikpunkte: Sarahs Verhalten ist für mich nicht immer nachvollziehbar. Zum einen, würde man wirklich auch nur eine Nacht das Haus mit einem Fremden teilen, der einen zuvor sogar noch bedroht hat? Sarah vermutet zudem, dass er hinter dem Geld ihres Mannes her ist, der sehr wohlhabend war. Und doch lässt sie ihn phasenweise allein im Haus und kommt nicht ein Mal auf die Idee, das Geld auf den Konten beiseite zu schaffen. Insgesamt ist sie mir auch zu hysterisch und unbedacht.
Die Spannung wird immer wieder durch Rückblenden ausgebremst. Dabei geht es meist nicht um die Entführung oder Sarahs Verzweiflung in der Zeit danach, sondern vor allem um die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann. Dementsprechend ist dieses Buch auch kein wirklicher Thriller, sondern ein Roman mit Spannungselementen. Dazu passt auch der eher etwas poetischere Schreibstil.

Das Ende konnte mich leider nicht richtig überzeugen. Die Wendung kam mir unrealistisch vor, auch wenn sie einiges erklärt hat. Trotzdem war sie eher unspektakulär und ich hätte mir auch mehr Informationen über Philipps Entführung und Schicksal gewünscht. So bleibt ein Thema, das ja für Kolumbien lange Zeit an der Tagesordnung war nur eine Kulisse.

Aufgrund der genannten Kritikpunkte und einer trotzdem überwiegend recht spannenden Handlung bekommt dieses Buch 3,5 Sterne von mir.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.10.2016
Nach einer wahren Geschichte
Vigan, Delphine

Nach einer wahren Geschichte


sehr gut

Die Suche nach der Wahrheit

Delphine hat einen erfolgreichen Roman über ihre Mutter geschrieben. Für die schüchterne und zurückhaltende Autorin ist die darauf folgende Aufregung eine große Belastung. Auf einer Party begegnet sie der Ghostwriterin L., die so mühelos elegant und selbstbewusst ist, dass Delphine sie nur bewundern kann. Die beiden freunden sich an und während Delphine eine ausgewachsene Schreibblockade entwickelt und sich immer weiter zurückzieht, dringt L. immer weiter in ihr Leben vor und übernimmt schließlich sogar Delphines Korrespondenz unter deren Namen. L.s. Einfluss wird immer mächtiger.

Delphine de Vigan spielt in diesem Roman geschickt mit Fiktion und Wahrheit. Ihre Protagonistin hat ihren Namen und suggeriert somit einen autobiographischen Bezug, vor allem auch durch die Handlung um den Roman über die Mutter, den es tatsächlich gibt. Letztlich ist es aber egal, wie viel dieses Romans tatsächlich wahr ist, weil es hier nicht um einen Erlebnisbericht, sondern um das Wesen der Literatur geht. Abgesehen vom persönlichen Handlungsstrang, der sich zwischen den beiden Frauen entspinnt und in dem L. immer manipulativer in Delphines Leben und Schreiben eingreift, bereichern die eher literaturwissenschaftlichen Dialoge und Diskussionen den Leser. Den vieles dreht sich darum, was ein Schriftsteller schreiben will im Konflikt dazu, was das Publikum lesen will. Ob wahr oder erfunden, gibt das Buch einen tiefen Einblick in das Seelenleben von Autoren und ich vermute, dass hier viele autobiographische Anteile verarbeitet wurden. Letztlich ist das auch wieder egal, denn es geht nicht darum, was wahr ist, sondern was der Leser als wahr glauben könnte.

"Nach einer wahren Geschichte" ist kein Spannungsroman. Natürlich eskaliert die Sache und Delphine analysiert, wie es soweit kommen konnte, doch es ist kein thrillermäßiger, übertriebener Showdown. Es ist eher eine stille Entwicklung mit einem raffinierten Ausgang, der noch einmal kräftig mit dem Dualismus Fiktion vs. Wahrheit spielt.
Leider kann ich trotzdem nicht die volle "Punktzahl" vergeben, da das Buch zwischenzeitlich immer einmal Längen hatte und bei mir das Gefühl aufkam, dass sich Delphine einige Male in ihrer Erzählung im Kreis drehte und dadurch Dinge unnötig wiederholt wurden. Es war an einigen wenigen Stellen etwas zäh. Ansonsten habe ich den Einblick in den Literaturbetrieb, eine manipulative Freundschaft und das Seelenleben einer Schriftstellerin gern gelesen und genossen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.10.2016
Und damit fing es an
Tremain, Rose

Und damit fing es an


sehr gut

Eine melancholische Freundschaftsgeschichte der leisen Art

Als Gustav am ersten Tag der Vorschule im Jahr 1948 zum ersten Mal dem weinenden Anton Zwiebel gegenübersteht, gibt er ihm den wichtigsten Rat, den er von seiner Mutter gelernt hat: man müsse sich immer beherrschen. Anton beruhigt sich und zwischen den Jungen entspinnt sich eine Freundschaft, die ein Leben lang halten soll, Durch Anton erlebt Gustav immer wieder Momente eines luxuriöseren Lebens, als das, was er mit seiner alleinerziehenden Mutter in ärmlichen Verhältnissen hat. Doch Gustavs Mutter Emilie ist von dieser Freundschaft wenig begeistert, sind Anton und seine Familie doch Juden, die dort wohnen, wo sie selbst einmal ein schönes Leben hatte, das ihrer Meinung nach durch Juden zerstört wurde, denen ihr Mann damals bei der Flucht half. Doch zwischen Aufopferung und Abhängigkeit erfüllt diese Freundschaft Gustav ein Leben lang mit Glück.

"Mit fünf Jahren wusste Gustav Perle nur eines sicher: er liebte seine Mutter." (S.11)
Das Buch beginnt so anrührend und aus Gustavs Perspektive lernt man eine Frau kennen, die es es zwar hart im Leben hat, aber die es zu lieben wert ist. Langsam jedoch klingen Töne durch, die zeigen, dass Emilie Perle eine eher harte und distanzierte Frau ist und Stück für Stück deckt das Buch ihr Wesen auf, die lieblose Beziehung zu ihrem Kind und die Entwicklung dahin. Trotz der Tatsache, dass Emilie Gustav nie richtig lieben konnte wird aus ihm ein zuverlässiger, unterstützender und treuherziger Freund, der niemals etwas einfordert und sich dadurch leicht ausbeuten lässt. Gustav ist seinem Freund Anton treu ergeben, während dieser im Leben immer alles bekommen hat, was er wollte oder brauchte und trotzdem nie so richtig zufrieden oder glücklich ist. Gustav steht ihm bei und stellt sich selbst immer hinten an. Über die Jahre hinweg merkt er, wie viel ihm Anton bedeutet und dass er dafür auch zu Opfern bereit ist. Ein Teil von Gustavs Leben ist aber auch sein unbekannter Vater, der starb als Gustav sehr klein war. Die Mutter ergeht sich immer wieder in Andeutungen und Heldengeschichten. Doch auch hier wird deutlich, dass die Beziehung nicht ganz so war, wie es zunächst scheint.

Rose Tremain vermag es, die Atmosphäre eines kleinen Ortes in der Schweiz in den Nachkriegsjahren und den folgenden Jahrzehnten einzufangen und zu vermitteln. Die Geschichte selbst ist jedoch ziemlich melancholisch und handelt von einem langmütigen Jungen und später Mann, der trotz des Mangels an Mutterliebe nie verbittert, sondern immer Verständnis für seine Mitmenschen aufbringt. Seine Beziehungen sind geprägt von Abhängigkeit und (emotionaler) Ausnutzung und doch richtet Gustav sich darin ein.

Mich hat diese Geschichte beim Lesen berührt und sie hat Bewunderung für einen Charakter wie Gustav geweckt. Die Geschichte wirkt zart, weil sie niemals aufdringlich ist und dem Leser mit irgendeinem Aspekt der Handlung ins Gesicht springt, sondern das Buch erfüllt die klischeehafte Beschreibung der "leisen Töne" angenehm mit Leben und Schicksalen. Mir hat dieses Buch insgesamt gut gefallen, wenn mir auch manchmal das Ziel oder die Kernaussage unklar waren, an mancher Stelle etwas Spannung fehlte oder mir manche Aspekte der Geschichte zu offen blieben.

Bewertung vom 16.10.2016
Malcontenta
Kucher, Felix

Malcontenta


ausgezeichnet

Italien, 1530. Battista ist Künstler. Doch im Italien der Renaissance wimmelt es vor aufsteigenden Künstlern und die Aufträge sind heiß begehrt. Auch Battista hangelt sich durch das Leben, immer auf der Suche nach einem Geldgeber für Fresken. Dabei genießt er jedoch auch das Leben und lässt kaum etwas anbrennen und besiegelt somit sein Schicksal. Sein Lebenswerk soll schließlich die Villa Foscari, auch La Malcontenta genannt, werden und sein Leben hält er in einem Tagebuch fest.
Paris, London, Venedig, 1913. Bertie Landsberg kommt aus gutem Hause und hat es nicht wirklich nötig, zu arbeiten. Vielmehr verschreibt er sich der Kunst und dem künstlerischen Diskurs. Als er die Villa Foscari entdeckt, entsteht die Vision eines Künstlertreffs in minimalistischer Umgebung. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg.
Libyen und Europa, 2012. Said ist Graffiti-Künstler, der sein Geld mit illegalen Geschäften verdient. Als sich die Lage in Lybien zuspitzt, tritt er den langen Weg auf der Fluchtroute nach Europa an um schließlich in der Villa Foscari landen.

"Malcontenta" verbindet das Schicksal dreier Männer über Jahrhunderte hinweg. Wie genau sie zusammenhängen, wird erst ganz am Ende klar und das möchte ich hier nicht spoilern. Im Mittelpunkt stehen letztlich die Lebensumstände verschiedener Künstler. Dazu wechseln sich die Perspektiven in unterschiedlichen Kombinationen ab, wobei pro Teil immer nur zwei Perspektiven kontrastiert werden. Alles andere wäre auch zu viel, da die Geschichten komplex und sehr ausgefeilt sind. Alle Geschichten sind sehr unterschiedlich und lassen auf ihre eigene Weise mitleiden, wobei mir Berties Leben lange Zeit vergleichsweise trivial und wenig zielgerichtet vorkam. Trotzdem haben alle drei Männer meine Sympathien gewinnen können. Der Autor hat jeweils interessante unterschiedliche Aspekte beleuchtet und einen überzeugenden Einblick in die jeweilige Zeit gegeben. Denn nicht nur sind die Lebensgeschichten unterschiedlich, auch der historische Rahmen ist sehr verschieden. Dabei wirkt jeder einzelne Handlungsstrang akribisch recherchiert und man kann nur bewundern, wie sehr sich der Autor in die jeweilige Lebenssituation eindenken und den Leser mit hinein nehmen kann. Beispielsweise haben mich die Details von Saids Flucht sehr überrascht und eine große Realitätsnähe vermittelt.

"Malcontenta" ist ein kluger Roman, der die (Liebe zur) Kunst förmlich spüren lässt und die Fresken der Villa Foscari zum Leben erweckt, aber auch die Höhen und Tiefen von Künstlerleben nachzeichnet. Die Sprache und Handlung sind anspruchsvoll. Für mich ist "Malcontenta" ein absolut überzeugendes Debüt, das mich darüber hinaus auf die Spuren zweier wahrer historischer Persönlichkeiten (Battista und Bertie) geschickt hat.

Bewertung vom 01.08.2016
The Girls
Cline, Emma

The Girls


ausgezeichnet

Evie Boyd ist 1969 gerade einmal 14 Jahre alt. Wie jeder Teenager fühlt sich sich missverstanden und will sich auflehnen. Seit die Eltern sich ein Jahr zuvor scheiden ließen, fühlt Evie sich allein und ungeliebt von ihrer Mutter, die damit beschäftigt ist sich selbst und einen neuen Mann zu finden. Als Evie im Park der dunkelhaarigen Suzanne begegnet, ist sie von der 19-Jährigen völlig fasziniert. Schließlich geht die Freundschaft zu ihrer einzigen Freundin in die Brüche und Evie ist anfällig für Suzanne, die sie mit auf die Ranch zu einer Gruppe nimmt, die sich um einen gewissen Russell schart. Russell ist charmant und manipulativ und deklariert alles Gutbürgerliche als Spießertum. Schnell findet Evie hier Anschluss und die lang ersehnte Zugehörigkeit und Akzeptanz, doch Russells Einfluss soll sich als verhängnisvoll erweisen.

"The Girls" ist ein beeindruckendes Debüt, das in poetischer Sprache die Welt und Anfälligkeit eines jungen Mädchens darlegt, das durch sein unerfülltes Befürfnis nach Liebe in die Fänge einer Kommune gerät, in der sich alles um Sex, Drogen und Grenzüberschreitung dreht. Sie lässt sich in Dinge mit hineinziehen, die sich nicht tun möchte, aber ihre Ergebenheit Suzanne gegenüber lässt sie ihre Skrupel beiseitewischen und auch in der Kommune lernt sie, dass Regeln für die Gruppe nicht gelten würden. Als Russells erhoffter Durchbruch als Musiker nach einer katastrophalen Demo-Session scheitert, eskaliert die Situation. Spätestens hier dürften die Parallelen zur Manson Family klar sein. In diesem fiktiven Bericht zeichnet die Autorin nach, welche Dynamik in einer abgeschotteten Gruppe entstehen kann, die sie jegliche Regeln und Moral vergessen lässt. Evie selbst ist nicht an den Taten beteiligt, sondern schildert die Geschichte eher aus einer Zuschauer-Perspektive, in der die Erleichterung greifbar ist, nicht im Rampenlicht gelandet zu sein. Und gleichzeitig stellt sie sich die Frage: "hätte ich es verhindert oder mitgemacht? Hätte ich das auch getan, wenn ich dabei gewesen wäre?". Durch die Geschichte wird deutlich, dass es darauf keine klare, moralisch wünschenswerte Antwort für Evie gibt, denn auch sie war der Gruppe verfallen. Wenn man an der Handlung der Protagonistin zweifelt, muss man sich immer wieder vor Augen führen, dass sie erst 14 ist. Dadurch bleibt bis zum Ende die Frage offen, ob Evie wirklich von ihrer Mutter vernachlässigt wurde oder ob sie, in der Hochphase der Pubertät, nicht auch die Situation übermäßig dramatisch wahrgenommen hat.
Jahrzehnte später sieht sich die erwachsene Evie gespiegelt in der jungen Sasha, die wenige Tage in dem Strandhaus verbringt, das Evie zum Wohnen von einem Freund überlassen wurde. Sie erkennt sich wieder in Sashas Bedürfnis, zu ihrem Freund zu gehören und ihm zu gefallen. Neben den direkten Fragen nach ihrer Vergangenheit, die ihr Name bei den jungen Leuten auslöst, wirft auch Sashas offensichtlich Selbstaufgabe Evie zurück in die Zeit bei der Kommune. Deutlich wird, wie sehr sie dieser eine Sommer im Jahr 1969 noch immer belastet.

Aufgrund des Hypes um dieses Buch bin ich vorsichtig herangegangen und habe versucht, mich uneingenommen in die Geschichte zu begeben, was jedoch kaum geht, da es auf allen Kanälen besprochen und mit den Manson-Morden in Verbindung gebracht wird. Dadurch hatte ich bereits Hintergrundwissen zum wahren Ereignis, das dieses Buch inspiriert hatte und fand die Parallelen durchweg deutlich zu erkennen. Eindringlich und einfühlsam zeichnet die Autorin nach, wie es passieren konnte, dass junge Mädchen im Auftrag eines einzelnen Mannes zu Mörderinnen werden. Dabei entschuldigt sie nichts und lässt die Mädchen auch nicht als unschuldige Opfer dastehen, sondern sie schildert ihren Werdegang in ihr eigenes und das Verderben anderer. Das Buch hat mich sofort in seinen Bann geschlagen und mich durchweg gefesselt. Dabei war es gleichzeitig anspruchsvoll und poetisch. Ich gehöre eindeutig zur begeisterten Fraktion der Leser.

Bewertung vom 01.08.2016
Die Frau, die allen davonrannte
Snyder, Carrie

Die Frau, die allen davonrannte


ausgezeichnet

Aganetha "Aggie" Smart wird 1908 als eines von vielen Kindern der Familie Smart auf einer Farm in Kanada geboren. Inzwischen ist sie 104 Jahre alt und lebt in einem Altenheim und nichts erinnert daran, dass sie einst eine Pionierin des Frauensports war. Nun tauchen zwei junge Leute auf und wollen sie für einen Film interviewen. Dazu bringen sie sie an den Ort ihrer Kindheit zurück und hier entfaltet sich das ganze Leben der Aganetha Smart zwischen historischen Sportereignissen und den Konventionen einer vergangenen Zeit.

Aggie wächst sehr ländlich auf und in einer eher ungewöhnlichen Familienkonstellation. Ihre Mutter ist die zweite Frau des Vaters. Bereits mit der ersten hatte er Kinder, sodass Aggie sehr viele Geschwister hat. Bereits früh entdeckt sie ihren Drang zu laufen. Mit 16 entflieht sie endlich der entlegenen Farm, mit der sie schöne, aber auch schmerzhafte Erinnerungen verbindet, und landet bei einer ihrer Schwestern in Toronto. Dort wird sie schließlich ins Trainingsteam eines Pralinenherstellers aufgenommen, mit dem sie schließlich die Olympischen Spiele 1928 erreicht und als eine der ersten Frauen die 800-Meter-Strecke läuft. Doch sie ist weiterhin von den Konventionen dazu eingeschränkt, was eine (alleinstehende) Frau darf und was nicht. Diese werden ihr ganzes Leben bestimmen.

"Die Frau, die allen davon lief" ist vor allem eine berührende Familiengeschichte, in der es um Aggie und ihre Geschwister geht. Den meisten von ihnen ist leider kein langes Leben beschieden, sodass Aggie viele Verluste verkraften muss. Zu Beginn ist der Erzählstil verwirrend. Die 104-jährige Aggie erzählt ihr Leben in Rückblenden, die leider gerade am Anfang nicht chronologisch aufeinander aufbauen, sondern sehr sprunghaft sind, sodass es auf den ersten 100 Seiten schwer fällt, die Bezüge zueinander herzustellen. Einzelne Episoden aus Aggies Kindheit sind schwer verständlich, vor allem, wenn es um das Laufen geht und wo das auf einmal herkommt. Insgesamt steht der Sport eigentlich nicht so im Fokus, wie ich es erwartet hätte. Aggie scheint zwar ein natürliches Laufbedürfnis, dafür aber wenig Ehrgeiz zu besitzen. Ihre Erfolge sind eher zufällig und für die Geschichte ist wichtiger, wie sich diese Erfolge auf ihre Freundschaften und Familienbeziehungen auswirken. Die Sportkarriere an sich ist eher eine kurze Episode in ihrem Leben. Zugegeben, die Autorin kann anhand dieser Karriere und ihren Bedingungen sehr gut darstellen wie stark benachteiligt und eingeschränkt Frauen auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch waren, doch die Dramatik und Tragik der Geschichte liegen eher in den persönlichen Entscheidungen Aggies.

Wenn man sich von den Erwartungen eines Sportromans löst, erlebt man mit diesem Roman eine emotionale Geschichte einer Frau über ein Jahrhundert hinweg, die sich auch entgegen der Konventionen ihren Weg sucht und doch immer wieder an Grenzen stoßen muss. Die Rückblenden fügen sich mit fortlaufender Seitenzahl auch immer besser zusammen und am Ende entsteht noch einmal ein Überraschungsmoment. Trotz kleiner Längen zwischendurch hat mich das Buch sehr berührt und mir gleichzeitig, wenn auch am Rande, noch etwas über den Frauensport beigebracht.