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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 20.03.2017
Zukunft machen wir später
Rösinger, Christiane

Zukunft machen wir später


ausgezeichnet

Christiane Rösinger ist in Berlin-Kreuzberg sozialisiert worden. Als Autorin, Musikerin und Wirtin hat sie bisher selbstbestimmt gearbeitet, sich evtl. auch selbst ausgebeutet. Im Sommer 2015 beschließt sie, Geflüchteten Deutschunterricht zu geben, zunächst ehrenamtlich. Davon erhofft sich die Autorin neben der Befriedigung etwas Sinnvolles beizutragen festere Strukturen und den Kontakt zu Kollegen. Mit einem abgeschlossenen Germanistikstudium z. B. wie Rösinger konnten 2015 freiwillige Helfer auch ohne pädagogische und methodische Kenntnisse als Lehrkräfte für Deutsch als Fremdsprache eingesetzt werden. Um Deutsch zu unterrichten, genügt es in der Praxis allerdings nicht, es allein zu sprechen; noch zeigen sich pensionierte Grundschullehrer als Naturtalente in der Erwachsenenbildung. Rösingers Projekt bietet offene, niederschwellige Deutschkurse an, die nicht auf Geflüchtete begrenzt sind. Teilnehmer müssen hier keine Konsequenzen befürchten, falls sie scheitern, dafür ist ein Fortschritt schwer zu erkennen, weil ständig neue Teilnehmer dazukommen. Wenn sich ehemals kriegführende Nationen im Klassenzimmer gegenübersitzen oder Akademiker neben Analphabeten die Schulbank drücken, müssen sich ehrenamtliche Helfer an irgendeinem Punkt fragen, wie effektiv ihr Einsatz ist. Die Schwerfälligkeit der Behörden – in Berlin inzwischen legendär – drückt zusätzlich auf die Motivation. Dass geflüchtete Menschen nicht so sind, wie Politiker sie gern hätten, lernen die zusammengewürfelten ehrenamtlichen Deutschlehrer zuerst.

Als projekterfahrende Helferin muss Rösinger sich u. a. damit abfinden, dass Teilnehmer Frontalunterricht einfordern, weil es das ist, was sie aus ihrer Heimat kennen. Wer vorn steht, der sagt, wie es gemacht wird, vermittelt in all dem Chaos ein Minimum an Orientierung. Die Autorität der Lehrenden hat in beinahe reinen Männer-Klassen jedoch keine Chance, patriarchalische Vorstellungen infrage zu stellen. Brauchen nicht gerade Lernende klarere Strukturen, die ihre Werte in rigider Intoleranz als einzig vorstellbare betrachten? Ist es Aufgabe einer Lehrerin, gegenüber Zuwanderern mit erzreaktionären Menschenbildern ihre persönliche Lebensweise zu diskutieren? Warum soll sich ein Dozent Gedanken über die unausgesprochenen Werte des Lehrmaterials machen, wenn die Lernenden sowieso keine Chancen haben, in Deutschland zu bleiben? Genügt es nicht einfach, Menschen eine feste Struktur und kleine Erfolgserlebnisse zu vermitteln, die seit Monaten auf einer Liege in einer Sporthalle leben? Was wird aus motivierten Schülern, die den Stoff einfach nicht packen? Wie wird man in einem offenen Projekt einen pubertierenden Klassenclown los, der nicht lernen will?

Flexibilität siegt hier über formale Qualifikation. Ein Highlight war für mich das Naturtalent der Kollegin Judith, die ohne Rücksicht auf Vorschriften einfach einen Alphabetisierungskurs auf die Beine stellt - und damit auch noch erfolgreich ist. Warum werden DaF-Lehrer nicht von den Judiths dieser Welt geschult?

Die Kurve von erster Beflügelung, Realitätsschock bis zur Frustration über das Beharrungsvermögen des deutschen Behördenchaos lässt sich von Kapitel zu Kapitel verfolgen. Für Insider haben die einzelnen „Lektionen“ des als Lehrplan aufgemachten Berichts einen hohen Wiedererkennungswert. Hätte man Rösingers Erfahrungen doch 2015 schon gehabt … Christiane Rösinger schreibt mit Empathie und Sinn für Situationskomik, dabei stets optimistisch, dass für ihre „TN“ alles gut werden wird. Im Gegensatz zu manchem Politiker, der das Wort Integration vollmundig verwendet, weiß sie, wovon sie spricht.

Bewertung vom 20.03.2017
Treffen sich zwei Gene
Fischer, Ernst Peter

Treffen sich zwei Gene


ausgezeichnet

Wissenschaftsgeschichte wird häufig im engen Sinn als Geschichte einzelner Forscher und ihres Fachgebiets erzählt. Die personenbezogene Sichtweise scheint vom menschlichen Gehirn besonders erfolgreich verarbeitet zu werden. Generationen von Schülern konnten sich Mendels Erbgesetzte deshalb so gut merken, weil dabei Fakten und Person verknüpft sind. Ernst Peter Fischer erzählt auch von einzelnen Forschern, er befasst sich jedoch ebenso ausführlich mit dem Bild, das Menschen sich früher von einem Sachverhalt machten. Die Benennung von Entdeckungen gibt uns interessante Einblicke in die emotionale Ebene, die Forscher zu ihrem Forschungsgegenstand aufbauen. Unser persönliches Bild prägt unsere Einstellung, als Einzelperson und als Gesellschaft, es prägt unsere Sprache und es beeinflusst wissenschaftliche Forschung. In der Genetik und dem „genetical enhancement“ mussten verbreitete Vorstellungen komplett runderneuert werden, das wird bereits im Vorwort von Peter Fischers Buch klar. Gene sind nicht „etwas“, keine Objekte, sondern etwas Veränderliches, aus diversen Abschnitten bestehend, ein Prozess. Forscher fanden im Genmaterial kaum Gene, sondern etwas völlig Neues, bisher Unbekanntes. Die Vorstellung von Genetik als Programm im Sinne eines PC-Programms kam der Sache schon näher. Mit dem Bild von Genen und DNA als Software und Proteinen und Strukturen als Hardware leben wir aktuell.
Gegen das angedachte Gen-Editing, die gezielte Verbesserung des Menschen oder einer ganzen Rasse wurden - zu Recht - ethische Bedenken angemeldet. Die Befangenheit in Deutschland gegenüber jeder Optimierung menschlichen Lebens ist historisch geprägt, die Bezeichnung genetische Manipulation für jedes genetical engineering schießt nach Fischers Meinung jedoch übers Ziel hinaus. Den Blick in die Historie richtet Fischer neben de Vries, Morgan, Delbrück, Sanger, u. a. auf Christiane Nüsslein-Volhards Forschung zur embryonalen Entwicklung an Taufliegen (Drosophila melanogaster), für die sie 1995 gemeinsam mit Kollegen den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt. Nüsslein-Volhards Auszeichnung hat, quasi als Nebenwirkung, zumindest meine Vorstellung von Wissenschaft als Arbeitsplatz entscheidend geprägt. Fischer äußert sich zur Entdeckung der Doppel-Helix, geht ausführlich auf Hoffnungen und Möglichkeiten in der Krebsforschung ein und landet schließlich bei Craig Venters marktwirtschaftlichem Denken der Patentierung von Genen und ihren Sequenzen. Weiter geht es um Epigenomik, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2003, die Untersuchung des Neandertaler-Gens, um therapeutische Eingriffe ins Immunsystem, Alzheimer, Suchtverhalten, Homosexualität und Wünsche an die Forschung, wie eine GEN-Veränderung der Anopheles-Mücke, die dann keine Malaria mehr übertragen würde. Menschen sind keine Objekte, die von anderen Menschen optimiert werden können – das ist Fischers Botschaft.
Ernst Peter Fischer kommt als Geschichtenerzähler in sehr präzisem Stil auf den Punkt. Er hält sich in den historischen Passsagen als Autor im Hintergrund, mit Ereignissen der Gegenwart und populistischer Wertung von Genforschung setzt er sich jedoch in dezent ironischem Unterton kritisch auseinander. Als naturwissenschaftlicher Laie, der seine Informationen der Tageszeitung entnimmt, war ich recht skeptisch, ob ich mich mit einem Sachbuch zur Genetik nicht übernehme. Fischers kompakte Darstellung und sein angenehm zu lesender Stil haben mich jedoch gleich für sein Buch gewonnen. Gerade weil Geschichtsschreibung die Naturwissenschaften gern übersieht, lohnt es sich sein Buch zu lesen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.03.2017
Alles, was ich nicht erinnere
Khemiri, Jonas H.

Alles, was ich nicht erinnere


ausgezeichnet

Samuel ist tödlich mit dem Auto verunglückt und ein Berichterstatter ist als Interviewer auf den Spuren des jungen Mannes unterwegs. Ob Samuels Tod ein Unfall war, wäre noch zu klären. Textsplitter werden sich am Ende zum Bild eines besonderen jungen Mannes zusammenfügen. Zu Wort kommen Laide, Samuels Partnerin in einer großen, turbulenten Liebe, Vandad, Samuels Kumpel und Mitbewohner, und weitere Personen, die Samuel gekannt haben. Das abgebrannte Haus von Samuels Großmutter spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, als wäre es auch eine Bezugsperson für Samuel gewesen. Samuel war in seiner Familie der einzige, der sich um die demente Großmutter im Heim kümmerte. Sich auch noch um das leer stehende Haus der Oma zu kümmern, hat ihn vermutlich überfordert. Die Interviews verlaufen nicht so glatt, wie der Chronist es gern hätte. Er muss sich und seine Motive erklären und seine Interviewpartner scheinen darum zu konkurrieren, wer von ihnen der verlässlichste Zeuge ist. Einzig Vandad fällt aus dem Rahmen, als er fragt, was ihm das Interview einbringen wird.

Samuel erhielt seinen unauffälligen Namen, damit er als Kind eines nordafrikanischen Vaters in Stockholm keine Probleme bekommen würde. Er hat einmal Politik studiert, um die Welt zu retten, und anschließend beim Amt für Migration gearbeitet. Hier lernt er Laide kennen, die für Klienten übersetzt. Vandad war in der Parallelklasse von Samuels älterer Schwester Sara. Er scheint sich aus der ehemaligen Clique abgesetzt zu haben und arbeitet als Möbelpacker. Vandad wirkt so chamäleonhaft, so windig, dass Samuel diesem „Kumpel“ sicherlich nicht gewachsen war. Laide (Adelaide) ist Tochter von Asylbewerbern und kehrte vor kurzem nach fünf Jahren als Dolmetscherin aus Paris zurück. In Schweden arbeitet sie u. a. auf Abruf als Dolmetscherin für die Polizei. Dabei kommt sie mit Migrantenschicksalen und Gewalt gegen Frauen von Einwanderern in Kontakt. Laide und Samuel kümmern sich um die Verlierer des Systems, die außer ihnen beiden niemanden zu interessieren scheinen. Eine entscheidende Rolle in Samuels Leben scheint eine Frau zu spielen, die sich Pantherin nennt und als Künstlerin in Berlin lebt. Sie wird über Samuel befragt, und schließlich geht es darum, wer der Interviewer selbst eigentlich ist.

Vor der Kulisse aktueller Probleme von Asylbewerbern und illegalen Einwanderern in Schweden setzt Jonas Hassen Khemiri in seinen Ermittlungen zu Samuel eine komplexe Handlung zusammen, in der sich mehrere Problemkreise überlappen. Die Beziehungen und Ereignisse halten sich wie bei einem Mobile gegenseitig in Bewegung, bis die Situation eskaliert und das Mobile zerfällt und abstürzt. Durch die Interviewform mit ihrer subjektiven Sicht wird eine eigenartig beunruhigende Atmosphäre erzeugt, über der das Misstrauen der Figuren gegeneinander schwebt. Ich fragte mich immer wieder, ob nun alle Personen aufgetreten sind oder noch weitere Enthüllungen bevorstehen.

Nach eigenen Aussagen will Khemiri Menschen durch ihre Sprache entstehen lassen und Dinge in Worte fassen, damit sie in Erinnerung bleiben. Dabei ist ein herausfordernder und temporeicher Text entstanden, in der deutschen Übersetzung in einer für die Figuren wie maßgeschneiderterten jungen Sprache.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.03.2017
Das geheime Leben des Monsieur Pick
Foenkinos, David

Das geheime Leben des Monsieur Pick


ausgezeichnet

David Foenkinos erzählt die Geschichte der 80-jährigen Witwe Madeleine Pick und des Bibliothekars Jean-Pierre Gourvec, die am äußersten westlichen Zipfel Europas auf der Halbinsel Crozon leben. Madeleine hat jahrelang gemeinsam mit ihrem Mann eine Pizzeria betrieben, Jean-Pierre in seiner kleinen Bücherei einen Zufluchtsort für abgelehnte Manuskripte angelegt. Als dritte in einem größeren Bund handelnder Personen tritt Delphine Despero auf, die aus Morgat/Crozon stammt und in Paris als Lektorin arbeitet. Während eines Besuchs bei ihren Eltern erfährt Delphine von Jean-Pierres Sammlung verschmähter Manuskripte und entdeckt, dass Henri, genau der Henri aus der Pizzeria, ein Buch geschrieben haben muss. Niemand kann sich erinnern, Henri je lesen oder schreiben gesehen zu haben – und doch muss er irgendwann die Zeit dazu gefunden haben. Delphins Lektorengehirn rattert sofort los, den Verkauf der Filmrechte sieht sie schon vor Augen. Doch noch schweigt sie eisern über ihre Entdeckung. Sogar ein Journalist taucht auf, der die Geschichte von Henris geheim gehaltener Leidenschaft vermarkten will. Für Madeleine ist der Hype um ihren Mann eine zweischneidige Angelegenheit, hatte sie sich doch gerade an das Alleinsein gewöhnt. Eine Fülle von Personen tritt nun auf, eingefahrene Beziehungen bröckeln, alte Lieben werden wiederentdeckt. Allmählich könnte man annehmen, dass so mancher Einwohner von Crozon Henri sein stilles Vergnügen neidet und auf das Buch eifersüchtig wird. Ein Gespräch zwischen Delphine und einem Journalisten bringt einen als Leser auf die Idee, dass ein Text keine Rolle mehr spielt, sobald nur ein Hype erzeugt wurde und seine Vermarktung angelaufen ist. Eine Reihe weiterer spöttischer Gedanken zum Literaturbetrieb sind im Roman zu finden. Selbst die Figur der Delphine könnte als ironische Anmerkung gesehen werden. Sie scheint mit ihrer wohlgesetzten, ziselierten Sprache aus einer anderen Epoche gefallen zu sein – und liebt dennoch ihren ebook-Reader. Faszinierend fand ich das Thema der Muße und des Nichtstuns in Foenkinos Roman. Hier wird, ganz klassisch, ausgiebig gelesen und miteinander geredet. Damit Geschichten entstehen können, muss man seine Gedanken frei schweifen lassen – doch wer nimmt sich heute dazu noch die Zeit?

Wie auf dem zentralen Platz in einer Stadt, auf dem sich Wege unterschiedlichster Menschen kreuzen, verknüpft Foenkinos die Schicksale seiner Figuren lose miteinander. Sein Focus liegt auf den Einzelpersonen – diese mosaikartige Art zu schreiben muss man mögen. Hinter vordergründig liebevollen Beschreibungen versteckt sich eine gehörige Prise Ironie. Französische Romane werden gern als bezaubernd bezeichnet. „Das geheime Leben des Monsieur Pick“ halte ich für einen komplex angelegten Roman über das Schreiben, der hinter dieses Bezaubernde blickt, Urlaubsgefühle wecken kann und mit der Tatsache spielt, dass im Literaturbetrieb eine Story hinter der Story oft wichtiger zu sein scheint als ein Buch selbst.

Bewertung vom 11.03.2017
Das Herz der verlorenen Dinge
Williams, Tad

Das Herz der verlorenen Dinge


sehr gut

"Das Herz der verlorenen Dinge“ wird teils als 5. Band der Reihe Das Geheimnis der Großen Schwerter angezeigt, von einigen auch als nullter Band zur Verknüpfung mit Tad Williams neuer Trilogie "Der letzte König von Osten Ard". Der erste Band „Die Hexenholzkrone“ soll am 5.8. 2017 erscheinen. Weitere Bände: Empire of Grass, The Navigator’s Children.

In einer Reihe von Momentaufnahmen lernen wir eine fantastische Welt kennen, von der Tad Willam‘s Osten Ard ein Teilbereich ist. Williams will mit der Fortsetzung seiner legendären Reihe der Frage nachgehen, was damals aus den Nornen wurde, nachdem sie den Sturmkönig Ineluki besiegt hatten. Schauplatz der Handlung ist u. a. eine Festungsanlage am Rand des eisigen Nornfjälls. Magister Yarike, Befehlshaber und Vorsteher des Ordens der Bauleute und sein Lehrling Viyeki rüsten gemeinsam zur Verteidigung gegen Herzog Isgrimnur und seine Armee. Falls Yarike im Kampf fallen sollte, wird Viyeki ein altes Erbstück „Das Herz der Verlorenen Dinge“ zu Yarikes Familien-Clan zurückbringen. Bisher hatte Heeresvormann Viyeki hinter einer Maske der Unscheinbarkeit verheimlichen können, welche Rolle für ihn vorgesehen ist. Ein anderer Teilnehmer der Schlacht ist der Soldat Porto, der wegen seiner Bergsteigerfähigkeiten begehrt ist. Porto glaubt, dass er als Nachkomme einer Zimmermannsfamilie für die Herausforderungen im Gebirge bestens gerüstet sein müsste. Isgrimnur beschäftigt eine eigene Expertin für Nornen-Angelegenheiten, keine schlechte Idee in einem Universum, dessen Bereich der Sterblichen sich die Feenvölker der Sithi und der Normen miteinander teilen. Die Stämme der Unsterblichen wiederum teilen sich ihren Bereich mit den Menschen. Bedeutende Umwälzungen stehen bevor; denn das Volk der Hikeda’ya (die Herren von Nakkiga) zeugt zu wenig Nachkommen, um sich weiterhin organisieren zu können.

Für Tad Williams Verhältnisse ist dieser Übergangsband mit gut 300 Textseiten ein eher dünnes Buch. Das vorhandene Personen- und Sachregister finde ich für den Einstieg nötig, die Landkarte hätte ich gern wie in der TB-Ausgabe des Drachenbeinthrones auf dem Vorsatzblatt gehabt.

Was anfangs wirkt wie eine Reihe von einstimmenden Momentaufnahmen hat mich schnell wieder in den Bann von Osten Ard gezogen. Vorkenntnisse muss man nicht mitbringen, um an dieser Stelle in die weitergeführte Serie einzusteigen. Und nun beginnt das Warten auf den 5. August 2017 …

Bewertung vom 11.03.2017
Liebe Ijeawele
Adichie, Chimamanda Ngozi

Liebe Ijeawele


ausgezeichnet

Frühere Generationen verschenkten in Deutschland zur Geburt eines Babys Beißringe mit silbernen Glücksbringern als Anhänger. Aktuell sind wir bei knuffigen Schlenkerpuppen als standesgemäßem Begrüßungsgeschenk angekommen.Jungen Müttern habe ich schon immer gern etwas für sie selbst geschenkt, Luxus für den Körper - oder Nahrung „für den Kopf“. Etwas für den Kopf schenkt auch Chimamanda Ngozi Adichi ihrer Freundin Ijeawele zur Geburt der Tochter Chizalum Die Autorin ist selbst Mutter einer Tochter und wird als Expertin für die Erziehung von Töchtern angesehen, da sie sich öffentlich zum Feminismus äußert.

Nur wenige der 15 Impulse Adichies wirken speziell auf afrikanische Verhältnisse zugeschnitten, wenn es um Black Pride geht oder die noch stark entwicklungsfähige Rolle eines afrikanischen Vaters. Adichie legt ihrer Freundin ans Herz, sich nicht allein über die Mutterrolle zu definieren, nicht auf den Begriff traditionell hereinzufallen und keine Angst vor der Macht als Familienmanagerin zu zeigen. Als traditionell würde in Afrika all das entschuldigt, das der Machterhaltung alter Frauen und junger Ehemänner diene. Igbo-Frauen wie Adichie und Ijeawele dagegen hätten schon immer gearbeitet und sich nicht der Tradition gebeugt, dass automatisch die Mutter beim Kind bleibt. Väter sollten nicht bei der Betreuung ihres Kindes „helfen“, sondern mehr Verantwortung übernehmen – diese Forderung scheint weltweit noch kaum umgesetzt. Dass kleine Mädchen mehr Regeln zu hören bekommen als Ermutigung, scheint mir ebenfalls auf alle Länder zuzutreffen, ob sie nördlich oder südlich des Äquators liegen. Achte in der Erziehung auf deine unausgesprochenen Botschaften, lehre deine Tochter, Bücher zu lieben und Sprachmuster kritisch zu hinterfragen, lauten weitere Tipps für die frischgebackene Mutter. Zentrale Themen Adichies sind neben der Wertschätzung der eigenen Kultur das Hinterfragen von Schönheitsidealen, die weiße Personen als Norm herausstellen, kulturelle Vielfalt und eine Erziehung zur meinungsstarken Persönlichkeit.

Erstaunlich, wie viele der enthaltenen Ratschläge an Mütter von Töchtern weltweit Gültigkeit haben – und wie viel noch zu tun bleibt, damit Töchter niemandem mehr gehören, sondern schlicht sie selbst sein dürfen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.03.2017
Die Zeit der Ruhelosen
Tuil, Karine

Die Zeit der Ruhelosen


ausgezeichnet

Ein komplexer Gesellschaftsroman, nichts für zartbesaitete Leser, intensiv und spannend bis zum Schluss.
In einem Hotel auf Zypern kreuzen sich die Lebenswege mehrerer Franzosen. Romain Roller kehrt voller Schuldgefühle von einem kurzen Einsatz in Afghanistan zurück, der zwei seiner Männer das Leben kostete und einen zum lebenslangen Pflegefall machte. Marion Decker hat als junge Journalistin den Einsatz begleitet. Osman Diboula, ein charismatischer Politiker, Kind des sozialen Brennpunktes Clichy-sur-Bois und beflissenes Aushängeschild des französischen Präsidenten, ist in offizieller Mission auf Zypern. Osman war zuhause in Frankreich der Sozialarbeiter der Jungs und hat es seitdem zum Präsidentenberater gebracht. Der Zwischenaufenthalt auf der Insel soll wie eine Depressionskammer auf die Kriegsheimkehrer wirken. Hauptsächlich soll jedoch vor der Öffentlichkeit verborgen werden, wie leichtfertig vorbereitet und miserabel ausgestattet Soldaten in den Einsatz geschickt wurden. Alle beteiligten Personen erleben im Folgenden einen persönlichen oder beruflichen Absturz, der wie eine Lawine weitere Angehörige mitreißen wird. - Romain, dessen Frau ihm seit ihrer Jugend stets den Rücken freigehalten und alle Belastungen klaglos weggesteckt hat, verliebt sich auf dramatische Weise in Marion. Marions Ehe mit einem der mächtigsten Wirtschaftsbosse Frankreichs befindet sich in der Krise. Die Autorin eines erfolgreichen Romans muss erkennen, dass es in François Vélys Kreisen nur am Rande um Liebe geht. Wichtiger sind der korrekte Code, das Gespür für soziale Nuancen – und in Marions Fall, wer ihren Lebensunterhalt sichert, ihre persönliche „Komfort-Zone“. Die sozialen Gräben zwischen altem Wohlstand und jungem Ehrgeiz sind zentrales Thema des Buches. Osman Diboula ist als Kind von Einwanderern aus der Elfenbeinküste in einem sozialen Brennpunkt geboren. Die Unruhen von 2005 waren Geburtsstunde seiner politischen Karriere. Vom Streetworker gelangte er als Quoten-Migrant mit einem einzigen Karriereschritt direkt in den Elysée-Palast. Über ihn und seine Partnerin Sonia Cissé, ebenfalls Kind eines afrikanischen Vaters, wird bereits gewitzelt, sie seien Frankreichs zukünftige Obamas. Doch die Codes der Oberschicht grenzen Osman aus, schaffen ein mentales Ghetto für ihn. - ...
Auslöser für Tuils großartigen Roman war ein konkretes Ereignis im Jahr 2008, die Handlung jedoch ist fiktiv. Es geht darin um Macht, Ehrgeiz, Scheitern, versehrt Werden, Identitätskonflikte, pubertäre Rebellion, um den Krieg, die Sprengkraft von religiösem Extremismus, männliche Identität und eine komplexe Gesellschaft, in der ich mich auch als deutsche Leserin wiederfinden kann. Karine Tuils Einführung ihrer miteinander verketteten Personen zieht augenblicklich in die Handlung hinein. Die Tochter von Einwanderern charakterisiert ihr Personal pointiert wie in einer umfassenden psychologischen Analyse, trennt dabei Selbsttäuschung von Realität. Stilistisch sitzen ihre Charakterisierungen auch in der Übersetzung ins Deutsche wie maßgeschneidert.

Bewertung vom 02.03.2017
Zutritt nur für echte Abenteurer! / Saint Lupin's Academy Bd.1
White, Wade Albert

Zutritt nur für echte Abenteurer! / Saint Lupin's Academy Bd.1


ausgezeichnet

Anne hat mit ihrem Platz im Waisenhaus buchstäblich den schwarzen Peter gezogen. Die Kinder müssen von Haferschleim überleben und schwer im Bergwerk arbeiten. Spätestens mit 13 Jahren werden die Insassen vor die Tür gesetzt, weil sich ein Waisenhaus sonst wirtschaftlich nicht lohnen würde. Die einzige Hoffnung auf Besserung bietet die Bewerbung für eine Abenteuermission, die Bürgern in jedem Alter offen steht. Weil Anne ihre Herkunft nicht nachweisen kann, wurde sie bisher immer wieder von Abenteuerakademien abgelehnt. Ihrer Freundin Penelope ging es nicht besser; ihre Eltern sind verunglückt und werden in der Magier-Bürokratie als Versager geführt. Noch vor ihrer Entlassung an ihrem 13. Geburtstag hat Anne ein Abenteuer-Handbuch aus der Bibliothek mitgehen lassen, das ihr bald gute Dienste leisten wird. Das magische Artefakt präsentiert in Form einer dynamischen Anzeige exakt die Informationen, die Anne gerade braucht. Ein weiteres überlebenswichtiges Requisit ist Annes reichlich betagter Panzerhandschuh, in dem ihr tierischer Begleiter lebt, der Sperling Jeffery. Anne ist die Hüterin des Sperlings. Weil Zauberer-Akademien auch nicht mehr sind, was sie einmal waren, und einem harten Konkurrenzkampf ausgesetzt sind, erhalten Anne und Penelope mithilfe der Mythologie-Professorin der kleinen, alternativen Todesberg-Akademie die Gelegenheit, in wenigen Tagen eine Turbomission zu erfüllen. Sollten sie versagen, muss die Akademie wegen Schülermangel geschlossen werden. Für Anne bietet eine Mission die willkommene Gelegenheit, endlich Genaueres über ihre Herkunft zu erfahren. Dem eingespielten Team Anne/Penelope stellt Lady Jocelyn als Quotenmann Hiro Darkflame an die Seite. Hiro übernimmt sofort die Führung. Das kann ja heiter werden. In einem alternativen Universum geht es lange nach unserer Zeit (der Alten Welt) an die Lösung des Rätsels des Unendlichen Turms. -
Fantasy ist ein Mehrgenerationen-Genre, weil jeder Leser die Handlung auf einer anderen Ebene aufnimmt. St. Lupin’s Academy erfindet das Fantasy-Genre und den Kosmos der Zauberer-Akademien nicht neu, nimmt beides jedoch vollumfänglich auf die Schippe. Dass 10-jährige Leser über den „offiziellen Antagonisten“ grinsen werden, erwarte ich nicht, lasse mich aber gern von ihnen überraschen. Mit der ironischen Läster-Ebene dieses Serienauftaktes habe ich mich als erwachsene Leserin köstlich amüsiert – ich sage nur: Schülerbewertungsbogen! Als Kind hätte ich mich liebend gern mit Annes Unangepasstheit identifiziert und sie schamlos um ihre Fertigkeiten beim Schlösserknacken beneidet. Im ersten Band dominieren noch die Einführung magischer Lebewesen und rasante Action-Szenen, für den zweiten Band wünsche ich mir eine Weiterentwicklung der Figuren und des Abenteurer-Teams mit seinem kleinen Schlauberger als Quoten-Jungen.

Bewertung vom 26.02.2017
Tomorrow - Die Welt ist voller Lösungen
Dion, Cyril

Tomorrow - Die Welt ist voller Lösungen


ausgezeichnet

Cyril Dion wurde 2012 von einem Artikel der Zeitschrift Nature aufgeschreckt, der das Ende unseres Planeten für das Jahr 2100 verkündete. Klimawandel, Artensterben und Nahrungsmittelknappheit würden nicht erst zukünftige Generationen betreffen, sondern schon ihn selbst und seine Kinder. Gespräche mit Freunden schockierten Dion; denn alle wissen zwar von drängenden Problemen, können sich jedoch nicht vorstellen, wo ein Einzelner anpacken kann, um etwas zu verändern. Mancher mag auch um seine Lebensqualität fürchten. Klar ist, dass wir Erdbewohner nicht auf Politiker zählen können, die nicht in Projekten denken, sondern in Wahlperioden. Die Liste der Probleme scheint unendlich lang: Verbrauch fossiler Energieträger, Billiglöhne, Billigwaren, lange Transportwege, hoher Fleischverbrauch, ungesunde Lebensweise, Landflucht in die Städte und zu alledem eine virtuelle Wirklichkeit um uns herum, die kausales Denken verhindere, so Dion. Das drängendste Ziel sei eine ganzheitliche Denkweise, die z. B. Gesamtkosten von Maßnahmen kalkuliert und nicht nur Konzern-Bilanzen im Blick hat. Aus dieser Sicht hätte eine grundlegende Änderung unserer Ernährung zu erfolgen. Der Nahrungs- und Futtermittelanbau verbraucht riesige Flächen, führt zur Vernichtung von Urwäldern und verursacht durch schwindende Waldflächen weitere Klimaprobleme. Eine als Folge des Klimawandels mangelhafte Nahrungsmittelversorgung würde zur Emigration Betroffener führen und schließlich zu Aufständen, wenn ein Staat die Grundbedürfnisse seiner Bürger nicht mehr erfüllen kann. Um unseren ökologischen Fußabdruck auf der Erde zu verkleinern, muss einiges geschehen: Umstellung auf erneuerbare Energien, Leben in überschaubaren, dezentralen und autarken Einheiten, in denen vor Ort Nahrungsmittel produziert werden, weniger unwirtschaftliche Erzeugung von tierischem Eiweiß durch Futtermittelanbau und Tiermast, organisiert unter Bürgerbeteiligung, regionaler und weltweiter Kooperation. ...

Die Interviewform mit Focus auf Einzelpersonen und ihre Projekte macht Dions Texte auch für Laien leicht verständlich. Positive Auswirkungen durch Gärtnern in Firmen, Schulen und ganzen Stadtvierteln sind leicht vorstellbar. Wirtschaftliche Zusammenhänge sind nicht ganz so leicht zu vermitteln. Aber auch dabei wirkt die Vorbildfunktion von Dions „Leuchttürmen“. Er hat am eigenen Beispiel erfahren, dass der erste kleine Schritt bedeutender ist als komplizierte Theoriegebäude. Auch Dion musste sich zuerst selbst fragen, warum er ein Konsumsklave ist und warum in einem Hotelzimmer automatisch fünf Leuchten aktiviert werden, wenn die Tür geöffnet wird. Zum ersten Schritt einer Veränderung bietet der Anhang Kontaktadressen direkt für deutsche Leser.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.