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sleepwalker

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Insgesamt 467 Bewertungen
Bewertung vom 07.12.2022
Glaube, Hoffnung und Gemetzel
Cave, Nick;O'Hagan, Sean

Glaube, Hoffnung und Gemetzel


ausgezeichnet

Musikalisch ist Nick Cave abgesehen von seinem Duett mit Kylie Minogue nicht wirklich mein Fall. Aber „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“, das Buch, das der Musikjournalist Seán O’Hagan basierend auf gut 40 Stunden Interviewmaterial mit dem Musiker geschrieben hat, hat mir Nick Cave tatsächlich nähergebracht, als ich es je für möglich gehalten hätte. Die covidbedingt per Telefon geführten Gespräche zwischen den beiden geben einen tiefen Einblick in die Person Nick Cave – oder zumindest in das, was er anderen Menschen zeigen möchte. Wie er wirklich ist? Wer weiß das schon. Manchmal hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass er es oft selbst nicht weiß und dass der bekennende Interview-Hasser („Na ja, wer gibt schon gerne Interviews? Interviews sind grundsätzlich beschissen.“) während des Gesprächs selbst neue Facetten an sich erkannte. Auf jeden Fall war es für mich ein interessantes Buch mit neuen Denk-Ansätzen zu Religion und Leben und vielen philosophischen und tiefgründigen Exkursen.
Aber von vorn.
Das Buch ist von allem ein bisschen. Es ist eine Mischung aus erzählter nachdenklicher Autobiografie, Momentaufnahme über Familie und Karriere, Überlegungen zu Weggefährten und immer wieder die Rückkehr (vom Interviewer meiner Meinung nach fast zu oft ein bisschen manipulativ erzwungen) auf den Tod seines 15jährigen Sohnes Arthur, der zu dem Zeitpunkt sieben Jahre zurücklag. Cave erzählt teils launig, teils tiefgründig-philosophisch über seine Kindheit, seine Eltern, seine Zeit an der Kunstschule, als Heroinsüchtiger, über Entzug, Partnerschaften, seinen Glauben, seine Zweifel und Ängste und natürlich immer wieder über Musik. So erfährt man, wie manche Texte entstanden sind und welche Bedeutung sie für ihn haben. Und es geht immer wieder um Verluste. So hat Nick Cave nicht nur seinen Sohn und mehrere Freunde innerhalb weniger Jahre verloren. So starb seine ehemalige Partnerin Anita Lane 2021 und Caves Mutter starb im ersten Pandemie-Jahr (die Interview-Sessions begannen im Sommer 2020 und endeten im August 2021). Wegen der Corona-Regeln in Australien konnte er sie nur per IPhone noch einmal sehen und auch nicht zu ihrer Beerdigung reisen. Inzwischen musste Nick Cave noch einen zweiten Sohn zu Grabe tragen, was Seán O’Hagan im Nachwort schreibt: sein Sohn Jethro starb zwischen dem letzten Interview und der Drucklegung des Buchs.
Und dennoch besteht Caves Leben nicht nur aus Glauben und Gemetzel, sondern durchaus auch aus Hoffnung. Darauf, dass bessere Zeiten kommen werden. Dass Arbeit als Antidepressivum hilft. Ein Buch mit viel Nachdenken über Reue, Vergebung und immer wieder Trauer. Obwohl man als Leser abseits des Interviews sitzt, hatte ich doch ein bisschen das Gefühl, dabei zu sein. Der auf der Bühne auf mich oft ungelenk wirkende Cave erwies sich als feinsinniger und feingeistiger, äußerst belesener (vor allem auch bibelfester), nachdenklicher Mensch und als intelligenter und interessanter Gesprächspartner, der mit den Antworten auf die Fragen ein erschütterndes und unter die Haut gehendes Buch ermöglicht hat. Er ist dazu vielseitig begabt (neben der Musik hat er sich auch als Autor und Schauspieler einen Namen gemacht) und noch vielseitiger interessiert (er ist kunst-affin und hatte eine Zeitlang die Kunstschule besucht). Für mich war das eine völlig neue Seite, und das Buch hat mich auf jeden Fall dazu gebracht, mich näher mit der Person Nick Cave und seiner Musik zu befassen. Vor allem, da so viele seiner Songtexte angesprochen werden. Jetzt, wo ich weiß, was sie für den Künstler bedeuten, möchte ich wissen, was sie für mich bedeuten würden.
Für mich also ein Buch, das zwischen manchen banalen und trivialen Passagen mit wichtigen, lehrreichen und starken Botschaften aufwartet. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 29.11.2022
Der Gesuchte / Kommissar Johan Rokka Bd.5
Ullberg Westin, Gabriella

Der Gesuchte / Kommissar Johan Rokka Bd.5


ausgezeichnet

Kommissar Johan Rokka, Protagonist von Gabriella Ullberg Westins „Hudiksvall“-Serie ist mir schon seit dem ersten Band der Reihe ans Herz gewachsen. Im fünften Teil „Der Gesuchte“ mochte ich ihn sogar noch ein bisschen mehr. Ein Ermittler mit Ecken und Kanten und einer spannenden Vergangenheit auf der anderen Seite des Gesetzes. Und eben diese Vergangenheit „von einer schwierigen Kindheit in Hudiksvall zu einem noch wilderen Leben in Stockholm“ holt ihn jetzt wieder einmal ein. Und das Publikum wird in den wilden Strudel aus Ermittlungen und Emotionen hineingezogen. Ein von der ersten Seite an fesselnder Thriller, bei dem mir erst sehr spät klar wurde, wohin die Reise überhaupt gehen wird.
Aber von vorn.
Johan Rokka ist seiner Kollegin Janna Weissmann von der Polizei in Hudiskvall sehr zugetan, diese möchte aber nur „eine Kollegin sein“. Mehr nicht. Und dann sind da zwei Tote auf einem Rastplatz an der Autobahn E4. Einer der Toten ist ein Kurierfahrer und für Rokka ist sofort klar: „das hier ist kein zufälliger Mord, kein spontaner Raubüberfall, an diesem Tatort spricht gar nichts für eine Handlung im Affekt.“ Von Janna zurückgewiesen, lässt sich Johan kurzfristig nach Stockholm versetzen. Dort soll er bei der Aufklärung eines Juwelendiebstahls helfen, der Wert des Geschmeides liegt bei rund 200 Millionen Kronen. Einer der Verdächtigen ist Viktor Berger, der kurz vor dem Raub aus der Haftanstalt befreit wurde. Und der ist für Johan kein Unbekannter. Nein, Viktor war einmal sein bester Freund und hat ihm in Kindertagen das Leben gerettet. Johan ist hin- und hergerissen zwischen Schuld, alter Freundschaft und seiner Verpflichtung als Polizist. Und er erkennt langsam, dass bei weitem nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Und als er endlich begreift, wer hinter allem steckt, ist es schon fast zu spät.
Obwohl es der fünfte Teil der Serie ist, kann man ihn problemlos einzeln lesen. Zwar werden nicht alle Lücken hundertprozentig gefüllt, aber alles, was man wissen muss, wird erklärt. Allerdings kann ich auch die anderen Bücher unbedingt empfehlen. Sprachlich finde ich das Buch locker geschrieben und leicht zu lesen, schwedische Straßennamen und Ortsbezeichnungen sind natürlich vorhanden, aber stören den Lesefluss kaum und insgesamt ist die Übersetzung gut gelungen. Die Geschichte an sich ist eher unblutig, Gewalt ist überwiegend unterschwellig vorhanden. Die Szenen, die in der JVA spielen, fand ich sehr interessant. Wenn es der Realität entspricht, gehören „schwedischen Gefängnisse zu den humansten der Welt: wenige Gefangene. Viele Wachen. Hervorragende Ausstattung. Viele Angebote im Vollzug. Die Möglichkeit zu arbeiten. Zu studieren. Als Gefangener soll man in Schweden trotzdem Teil der Gesellschaft sein, auch wenn man eingesperrt ist.“ – und trotzdem sind die Wachen teils als übergriffig beschrieben. Außerdem werden selbst harte Bestrafungsaktionen unter den Insassen ignoriert.
Der Spannungsbogen des Buchs ist konstant hoch, auch wenn Abstecher in Rokkas Privatleben ihn ab und zu ein wenig abflachen lassen. Nach einem starken Prolog und spannenden Ermittlungen kam der Schluss für mich stimmig, aber völlig überraschend (der Epilog ist dafür eher was fürs Herz). Die Charaktere sind gut und bildhaft gezeichnet, vor allem natürlich Johan Rokka als Protagonist ist sehr dreidimensional. Er hat eine bewegte Vergangenheit, die immer wieder seine Gegenwart, sein Tun und Handeln bestimmt. Aber auch die anderen Hauptcharaktere sind greifbar beschrieben und hat beim Lesen nicht nur ein Bild von ihnen vor Augen, man fühlt sich mit ihnen verbunden.
Für mich war das Buch auf jeden Fall ein absoluter Pageturner und steht den anderen Teilen der Serie in Puncto Spannung in nichts nach. Außerdem ist mir Johan Rokka noch mehr ans Herz gewachsen. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 23.11.2022
Kerl aus Koks
Brandner, Michael

Kerl aus Koks


ausgezeichnet

Mehr durch Zufall bin ich auf das Hörbuch zu Michaels Brandners autofiktionalem Roman „Kerl aus Koks“ gestoßen. Völlig untypisch für mich lag das vor allem am Cover, das hat direkt mein Herz erobert. Und, was soll ich sagen? Das Buch ging mir tief unter die Haut, ich weiß nicht, ob mich ein Hörbuch jemals so berührt hat, für mich war es ein absolutes Highlight.
Aber von vorn.
Den Inhalt des Buchs zusammenzufassen ist schwierig, denn er umfasst fast ein ganzes Menschenleben. Anfang der 1950er Jahre geboren, ist Paul Brenner vier Jahre alt, als er von einer unbekannten Frau von Onkel und Tante in Bayern weggeholt und ins Ruhrgebiet „verpflanzt“ wird. Für ihn fast eine Vertreibung aus dem Paradies, der Schoß der Familie in Bayern war für ihn eine Art „Schlaraffenland“, in Dortmund erwartete ihn statt Wiesen, Weiden und Weißwurst Zeche, Klappcouch in der Küche und eine Mutter, für die nur wichtig ist, dass aus ihm mal was wird. Neu in seinem Leben ist auch sein Stiefvater Helmut. Von ihm erfährt Paul, der seinen leiblichen Vater nie kennengelernt hat, Liebe und Zuneigung. Wo der Junge für seine Mutter eine einzige Enttäuschung ist (er schafft das Gymnasium nicht und wird Bauzeichner und Schreiner, später Schauspieler), ist es für Helmut nur wichtig, dass „der Junge glücklich ist“, was Paul über viele Umwege auch schafft.
Diese vielen Umwege machen einen Großteil des Buchs aus, manchmal sind sie für den Hörer des Hörbuchs verworren, in der Hauptsache waren sie für mich aber großartig anzuhören, was auch an der angenehmen Stimme von Michael Brandner liegt. Sein Protagonist und alter Ego Paul ist vielseitig begabt und schafft es, trotz seines teilweise chaotischen Lebens (Drogen, Hausbesetzerszene, ein enorm bewegtes Liebesleben mit unzähligen Frauen, verschiedene Jobs) bei Rückschlägen immer wieder auf die Füße zu fallen. Krankheiten und Unfälle haben dazu geführt, dass er gegen Ende praktisch „auf Pump“ lebt, wäre er eine Katze hätte er alle neun Leben schon lange aufgebraucht, so oft ist er dem Tod schon von der Schippe gesprungen. Beeindruckend fand ich, dass Paul äußerst vielseitig begabt ist. Seine Begabung fürs Zeichnen führte ihn zu seinem ersten Beruf als Bauzeichner, dazu ist er ein begabter Schreiner, Musiker (sowohl als Instrumentalist als auch als Texter und Komponist) und natürlich auch Schauspieler. Er braucht mehr als 40 Lebensjahre, bis er „sesshaft“ wird und mit seiner zweiten Frau seinen „Hafen“ findet.
Das Buch beinhaltet fünf Staffeln und umfasst den Zeitraum von 1951 bis 1997, Paul gehört also zur Generation meiner Eltern. Dennoch hat mich das Buch sehr bewegt. Ich war hin- und hergerissen, mal wollte ich Paul in den Arm nehmen (vor allem, weil ich schwierige Mutter-Kind-Beziehungen gut kenne), mal mit ihm ein Bier trinken gehen und manchmal wollte ich ihn einfach nur auf den Hinterkopf klapsen, denn seine Drogen- und Frauengeschichten fand ich manchmal verstörend. Doch trotz aller Sympathie für Paul, mein Held in der Geschichte ist sein Stiefvater Helmut. Er ist der wahre Kerl aus Koks für mich, ein Bergmann mit einem Eimer voller Bierflaschen und Herzen aus Gold, der durch eine narzisstische Ehefrau ins Unglück getrieben wurde. Während Paul es immer wieder schafft, sich aufzurappeln, verfällt Helmut zunehmend dem Alkohol und erkrankt letztendlich unheilbar an Krebs.
Das Buch ist „frei Schnauze“ geschrieben, weder Satzbau noch Wortwahl sind übermäßig literarisch geprägt – aber authentisch und mit Tiefgang. Pauls Sprache ist ebenso ein Teil des Lokalkolorits wie die Staubwolken der Zechen und gehört ebenso zur Ruhrgebietsmentalität, die dem Buch so viel Authentizität gibt, auch wenn es eine nur „fast wahre Geschichte“ ist. Der Autor liest das Buch selbst hervorragend ein, man merkt seinen engen Bezug zur Geschichte, die er liest. Für mich war das Hörbuch ein absolutes Highlight und ich habe beim berührenden Schlusswort des Autors einige Tränen verdrückt. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 15.11.2022
Die Tote im Container / Team Helsinki Bd.1
Ollikainen, A.M.

Die Tote im Container / Team Helsinki Bd.1


sehr gut

Mittsommer ist in Skandinavien ein wichtiges Fest, ein Fest, an dem Familien zusammenkommen und gefeiert wird. Für die Unternehmerfamilie Lehmusoja wird es nicht nur der Tag der Sommersonnwende, das Leben aller Familienmitglieder wird nie wieder so sein wie zuvor, denn auf ihrem Anwesen wird an Mittsommer in einem abgestellten Container die Leiche einer jungen Frau gefunden. Damit beginnt „Team Helsinki: Die Tote im Container“, der erste Teil der „Paula Pihlaja-Serie“ aus der Feder des finnischen Autorenduos A. M. Ollikainen. Es ist ein bedrückender Krimi mit bildgewaltiger Sprache, einem Plot, das ohne viel Blutvergießen brutal ist und einem Schluss, der mich völlig überrascht hat.
Aber von vorn.
Kommissarin Paula Pihjala ist gerade aus einer zweimonatigen Beurlaubung zurück, als sie mit ihrem Kollegen Aki Renko den Dienst an Mittsommer übernimmt. Als sie zu einem Leichenfund westlich von Helsinki gerufen werden, erwartet sie ein schrecklicher Anblick: eine dunkelhäutige Frau ist in einem Container qualvoll ertrunken. Der Container, der vor dem Gutshof einer Unternehmerfamilie steht, wurde mit Meerwasser gefüllt und die junge Frau, die später als die Universitätslehrerin Rauha Kalando aus Namibia identifiziert wird, hatte keine Chance. Schnell kristallisiert sich heraus, dass sie wohl zum Hausherrn, dem Unternehmer Juhana Lehmusoja, wollte. Aber warum? Und was hat das von seinem Vater unterzeichnete Dokument damit zu tun, das die Beamten in ihrem Hotelzimmer finden? Hängt alles mit Jerry, dem dunkelhäutigen Adoptivsohn der Lehmusojas zusammen? Und was ist mit dem Künstler Paavali Kassiinen, der mit dem Container, in dem das Opfer gefunden wurde, eine Installation plante? Er macht sich mit seinen Handlungen und Aussagen nicht gerade unverdächtig.
Als ich mich an die finnischen Namen im Buch gewöhnt hatte, wurde die Lektüre flüssiger. Dann konnte ich die stellenweise für einen Krimi fast zu poetische Sprache auf mich wirken lassen. Die bildgewaltigen Beschreibungen sind wortreich und zeichnen für die Leserschaft sehr klare Bilder. Leider schaffte das Autorenduo es für mich nicht, die Charaktere ebenso klar zu zeichnen wie die Landschaften. Keiner ist für mich dreidimensional oder greifbar, nicht einmal die Protagonistin Paula, auf deren Privatleben eher andeutungsweise eingegangen wird und dieses vermutlich in einem der folgenden Teile der Serie Thema sein wird. Dafür finde ich den Spannungsaufbau hingegen sehr gekonnt. Durch den Prolog als „Teaser“ und immer wieder eingeschobenen Passagen aus einer anderen Zeitebene entsteht unterschwellig eine stetige Grundspannung, die mich gefesselt hat. Diese Spannung steigerte sich durch die teils sehr kurzen Kapitel noch mehr und ab der Hälfte konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen.
Zwar fehlt manchmal ein deutlicher roter Faden und viele Andeutungen schaffen es dann doch nicht hundertprozentig, handfeste Informationen zu ersetzen, aber trotzdem fand ich das Buch bis auf ein paar Längen durchaus gelungen. Der Schluss war für mich eine völlige Überraschung, bei so vielen falschen Fährten, hatte ich bis zuletzt bezüglich Täter und Motiv keine Ahnung.
Obwohl das Autorenduo nicht neu auf dem Gebiet der Krimis ist, hatte ich das Gefühl, die beiden müssen sich mit ihrer neuen Serie erst einmal warmlaufen. Aber der Anfang ist gemacht und er ist mit ein paar Abstrichen gelungen. Ich freue mich auf jeden Fall auf den zweiten Teil der Reihe („Kiikku“ ist auf Finnisch vor kurzem erschienen und ist unter dem Titel "Grausames Spiel" für April 2023 angekündigt). Schließlich möchte ich wissen, was hinter den ganzen mysteriösen Andeutungen bezüglich Paulas Privat- und Vorleben steckt.
Von mir gibt es für den Auftakt vier Sterne.

Bewertung vom 15.11.2022
SCHWEIG!
Merchant, Judith

SCHWEIG!


ausgezeichnet

Was für eine Achterbahnfahrt mich bei Judith Merchants „Schweig!“ erwarten würde, hätte ich mir im Leben nicht träumen lassen. Und dabei dachte ich immer, ich kenne mich mit toxischen und dysfunktionalen Familien und verkorksten Weihnachtsfesten aus. Aber das, was sich zwischen Esther und ihrer Schwester Sue (genannt Schnecke) abspielt, stellt alles in den Schatten. Lügen, Abhängigkeiten und immer wieder emotionale Erpressung prägen die schwesterliche Beziehung schon seit der Kindheit und an Weihnachten kocht immer wieder nicht nur die Gans, sondern alle Emotionen hoch. Dieses Jahr gibt es am Ende eine Bescherung der besonderen Art. Nein, keine Geschenke, sondern eine Leiche. Für mich ein psychologisch hochinteressantes und überaus spannendes Buch, das sowohl sprachlich als auch konzeptionell bei mir voll punkten konnte.
Aber von vorn.
Wir schreiben den 23. Dezember. Die perfekte Hausfrau Esther ist mit den Weihnachtsvorbereitungen in den letzten Zügen, der Baum (natürlich bio!) muss noch abgeholt und eine letzte Hand an die Dekoration gelegt werde. Und dann muss sie natürlich auch noch zu ihrer Schwester Sue fahren und ihr Geschenk vorbeibringen. Schließlich will Sue nach dem misslungenen Weihnachtsfest des vergangenen Jahres auf keinen Fall bei Esther, Martin und den beiden Kindern feiern. Zwischen den beiden Schwestern stehen die Zeichen auf Sturm, schon in dem Moment als Esther bei Sue im Wald ankommt, knirscht es. Und als Esther dann auch noch wegen des Schneetreibens nicht nach Hause fahren kann, kommen zwischen den beiden Frauen Dinge zutage, die sich über Jahre hinweg aufgestaut haben. Gehässigkeiten werden ausgetauscht, unschöne Erinnerungen aufgefrischt und alles in allem ist das schwesterliche Miteinander äußerst unharmonisch.
Sprachlich fand ich das Buch sehr gut und flüssig zu lesen. Der Spannungsbogen ist durch die Perspektivwechsel stetig steigend. Von einem unguten Gefühl am Anfang steigert sich die Spannung zu einem furiosen Schluss. Sehr gelungen fand ich, dass dieselben Begebenheiten aus unterschiedlichen Perspektiven und mit völlig unterschiedlichen Wahrnehmungen beschrieben werden. Beinahe könnte man der narzisstischen Esther tatsächlich ab und zu ein „sie meint es ja nur gut“ zuschreiben – aber nur beinahe. Narzissten können nicht aus ihrer Haut und tun halt Narzissten-Dinge. Wobei wir bei den Charakteren wären. Diese sind hervorragend ausgearbeitet. Vor allem Esther hat sich in ihrer vollen toxischen Perfidität als nervige, übergriffige, besserwisserische, perfektionistische und kontrollsüchtige Über-Frau meine absolute Abscheu wirklich redlich verdient, ihre Art machte mich beim Lesen irre.
Insgesamt ist das Buch, nüchtern betrachtet, sehr unaufgeregt. Esther mimt fortlaufend die deeskalierende große Schwester, die aus bloßer Harmoniesucht möchte, dass es allen gut geht. Was dahintersteckt ist perfide und dabei absolut nicht unrealistisch. Der wahre Thrill des Buchs liegt nicht in der eigentlichen Handlung (die tatsächlich durch die Wiederholungen durch die verschiedenen Perspektiven ein paar Längen hat), sondern in dem, was zwischen den Zeilen steht. Martin, Esthers Mann, wünscht seiner Frau den Tod. Sue wünscht sich, von ihrer Schwester befreit zu sein. Egal wie. In diesem Dreieckskonstrukt flippert die Handlung hin und her, giftige Pfeile werden als Nettigkeiten getarnt verschossen und die Tatsache, dass es am Schluss tatsächlich eine Leiche gibt, war für mich bei so viel psychologischer Finesse eigentlich nebensächlich.
Für mich war das Buch daher eine riesige Überraschung und eine packende Lektüre, die ich, einmal angefangen, nicht mehr aus der Hand legen konnte. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 08.11.2022
Hell strahlt die Dunkelheit
Hawke, Ethan

Hell strahlt die Dunkelheit


sehr gut

William (Harding) spielt William (Shakespeare). Das ist nur eines der Themen von Ethan Hawkes Roman „Hell strahlt die Dunkelheit“. Parallel dazu kämpft der 32jährige Mime an weiteren Fronten. Seine Ehefrau und die Mutter seiner beiden Kinder will sich scheiden lassen, nachdem er sie betrogen hat. Drogen und Alkohol sind sein täglicher Begleiter. Und dann noch die Eiterbeule an seinem Bauch. Alles zusammen strickt Ethan Hawke zu einem (teilweise sicher auf eigener Erfahrung basierenden) oftmals überaus poetischen Roman, der der Leserschaft Einblicke in das Leben von VIPs, aber auch hinter die Kulissen des Theaters erlaubt. Ein Buch so ambivalent wie sein Titel. Und es lässt das Publikum mit der Frage zurück: Wie viel vom Autor steckt in seinem Protagonisten?
Aber von vorn.
Kurz vor Beginn der Proben zu Shakespeares „Heinrich IV“ am Broadway steht William Harding vor den Trümmern seiner Ehe. Seine Ehefrau, eine bekannte Popsängerin, hat genug von seiner Untreue und will die Scheidung. Zwischen Theater, Zeit mit den beiden Kindern, Drogen, Alkohol und weiteren sexuellen Abenteuern muss er feststellen: das war’s mit Familie, da ist nichts mehr zu kitten. Zu alledem ist er im Ensemble unter lauter routinierten Theaterschauspielern der einzige Kinoschauspieler. Daher verlangen ihm Proben und Aufführungen unter dem gleichermaßen brillanten wie exzentrischen Regisseur JC Callahan eine Menge ab. Da sollten seine ständigen Selbstzweifel, gepaart mit seiner Arroganz, überbordenden Männlichkeit und seiner Wut eigentlich zu einer Art Katharsis führen. Oder könnten sie zumindest. Vielleicht. Würde er sich auf dem Weg zur Läuterung nicht selbst dermaßen im Weg stehen.
Ich gebe zu, ich habe Ethan Hawke außer in „Club der toten Dichter“ noch nie bewusst in einem Film gesehen. Daher war ich gespannt, ob sein Roman ihn mir näherbringen würde. Und, was soll ich sagen? Jein. Zumal das Buch autofiktional ist und keiner sagen kann, wie viel vom Autor tatsächlich in seinem Protagonisten steckt. Ist vermutlich aber auch besser so, denn für mich war William Harding mit Ausnahme von wenigen Passagen ein echter Unsympath. Seine Arroganz, seinen Narzissmus und sein durch Chauvinismus geprägtes Frauenbild fand ich abstoßend, seine Weinerlichkeit und sein Selbstmitleid hatten was von „Opfertrolle in der Opferrolle“ und das von Anfang bis Schluss. Er verliert aus eigener Schuld so vieles und entwickelt sich in keinster Weise zum Besseren. Und leider schaffe ich es nicht völlig den Schauspieler Ethan Hawke von William Harding zu trennen, ich hatte beim Lesen stets sein Bild vor Augen.
Aber natürlich macht das den Roman nicht zu einem schlechten Buch. Die Sprache finde ich stellenweise poetisch, die Übersetzung finde ich überaus gelungen und den Theaterstück-artigen Aufbau finde ich treffend gewählt. Allerdings ist es mir stellenweise zu s*xlastig und in diesen Passagen sprachlich zu derb. Neben William als Protagonisten verblassen die meisten Charaktere, aber das Buch verkommt trotzdem nicht zu einer „One-man-Show“, sondern bleibt immer relativ ausgewogen. Die Einblicke, die Hawke durch die Augen seines Hauptcharakters in die Welt des Theaters, aber auch in die Welt der „Reichen und Schönen“ gibt, sind interessant. Spannend und kontrovers ist auch die Rolle der Medien im Buch verarbeitet. Einerseits ist William Harding auf (gute) Kritiken angewiesen und darauf, im Gespräch zu bleiben. Andererseits irritiert es ihn, dass die Öffentlichkeit dadurch mehr über ihn und den Zustand seiner Ehe zu „wissen“ scheint als er.
Insgesamt ist es für mich kein Buch zum nebenher lesen, manche philosophische Ansätze musste ich erst einmal verdauen, bevor ich weiterlesen konnte. Ich finde, es ist ein Buch, das man stellenweise wirklich auf sich wirken lassen muss, damit man es lesenswert findet und auch am unsympathischen Protagonisten noch eine winzige positive Seite entdecken kann. Für mich ein schwieriges Buch, daher von mir vier Sterne.

Bewertung vom 03.11.2022
Am dunklen Wasser / Akte Nordsee Bd.1
Almstädt, Eva

Am dunklen Wasser / Akte Nordsee Bd.1


gut

Fentje Jacobsen ist 29 Jahre alt und Rechtsanwältin und (zum Leidwesen ihrer Oma) unverheiratet. Sie ist die Protagonistin von Eva Almstädts neuer Krimi-Reihe „Akte Nordsee“, deren erster Teil „Am dunklen Wasser“ ist. Neben ihrer Anwaltstätigkeit arbeitet Fentje auf dem Bauernhof ihrer Großeltern in Nordfriesland mit, auf dem sie auch lebt. Zwischen Schafen und Mandanten schlägt sie sich noch mit ihrer pubertierenden Nichte und ihrem Bruder herum, außerdem versucht ihre Oma ständig, sie „an den Mann zu bringen“. Der Serienauftakt war für mich eine Mischung aus Familienroman und Krimi, wobei die Spannung vor allem am Anfang für mich ein bisschen zu kurz kam. Alles in allem hat das Buch mich aber gut unterhalten.
Aber von vorn.
In der Erwartung, auf der Schafweide einen wildernden Hund oder gar einen Wolf zu finden, macht sich Fentje Jacobsen auf den Weg. Allerdings findet sie im nassen Gras Tobias Asmus, einen verletzten und orientierungslosen jungen Mann. Als sie ihn nach Hause bringt, entdecken sie seine an einem Baum hängende tote Freundin. An Selbstmord glaubt niemand wirklich, für die Polizei ist Tobias der Hauptverdächtige. Fentje übernimmt seine Verteidigung und ist in ihrem ersten Mordfall lange die Einzige, die an seine Unschuld glaubt. Da für die Polizei der Fall klar zu sein scheint, beginnt sie, eigene Ermittlungen anzustellen. Dabei trifft sie immer wieder auf den ehrgeizigen freien Journalisten Niklas John, der seine Chance auf eine große Story wittert. Letztendlich stellen sie fest, dass sie zusammen mehr erreichen können, als jeder für sich und dann verschwinden auch noch zwei Schülerinnen eines nahen Internats. Die tote Freundin von Tobias Asmus war ihre Vertrauenslehrerin. Hat das Verschwinden der beiden mit ihrem Tod zu tun? Fentje und Niklas stehen nicht vor einem, sondern vor mehreren Rätseln.
Was soll ich sagen? Trotz der eigentlichen Krimithemen konnte mich das Buch als Spannungsroman nicht überzeugen, denn dazu fehlte ihm die durchgehende Spannung. Für mich war es eher ein Familienroman mit mehr oder weniger sympathischen und cleveren Hobbyermittlern, die aber oft auch sehr dilettantisch an die Sache herangehen. Viele der Neben-Charaktere sind für mich zu platt und klischeehaft beschrieben, aber die Konstellationen, die der neuen Reihe zugrunde liegen, finde ich sehr interessant, die Charaktere sind gut ausgearbeitet. Auf der einen Seite Fentje, die als Anwältin arbeitet, dazu aber noch zusammen mit Opa und Oma den Hof der Familie schmeißt, der ehrgeizige Journalist Niklas auf der anderen. Da sind Reibereien vorprogrammiert. Dazu steckt Fentje immer noch der Tod ihrer besten Freundin Clara in den Knochen und Niklas ist über die Trennung von seiner Freundin auch noch nicht ganz hinweg. Alles in allem spielen zwischenmenschliche Aspekte spielen für mich eine zu große Rolle, als dass der Krimi mich hätte packen können.
Der Schluss war stimmig, aber keine große Überraschung. Sprachlich war das Buch, das aus verschiedenen Perspektiven erzählt ist, gut zu lesen. Es ist weitestgehend unblutig und punktet mit einigem Wortwitz. Formal hatte ich mit den oft abrupt endenden Abschnitten einige Probleme, vor allem, da ich bei manchen das Gefühl hatte, dass die Geschichte dadurch Lücken bekam, von denen nicht alle gefüllt werden. Erst am Schluss werden alle losen Enden verknüpft und es bleiben keine Fragen offen.
Was hält mich also davon ab, von dem Buch begeistert zu sein? Der zeitweise Dilettantismus der Protagonisten? Dass die eigentliche Protagonistin oft zur Nebenfigur verkommt? Manche abstruse und unlogische Elemente? Dass trotz einiger Verdächtiger und falscher Fährten zu wenig Spannung aufkommt? Vermutlich alles zusammen, denn von Eva Almstädts „Pia Korritki“-Serie bin ich Besseres gewohnt. Gestehen wir der Autorin zu, dass sie sich mit dem Serienauftakt noch warmlaufen muss und daher noch eine Menge Luft nach oben ist. Ich vergebe drei Sterne.

Bewertung vom 26.10.2022
Der gelbe Vogel
Levoy, Myron

Der gelbe Vogel


ausgezeichnet

Lang ist es her, dass ich Myron Levoys Buch „Der gelbe Vogel“ gelesen habe. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, das Hörbuch zu hören und war gespannt, wie sich meine Wahrnehmung seit meiner Jugend gewandelt hat und dadurch auch meine Herangehensweise an das Buch. Interessant für mich: das, was der Autor schreibt, hat nichts an seinem Tiefgang verloren. Das Buch ist nach wie vor erschreckend aktuell und geht immer noch unter die Haut. Nur mit dem Sprecher des Hörbuchs wurde ich nicht ganz warm, was den Hörgenuss etwas schmälerte.
Aber von vorn.
Alan Silverman ist zwölfeinhalb Jahre alt und lebt als Sohn einer jüdischen Familie im New York des Zweiten Weltkriegs. Seine Welt dreht sich um Modellflugzeuge, Schlagball und Schule, parallel dazu verfolgt er zusammen mit seinem Vater den Frontverlauf in Europa auf der Karte und hat die tiefe Trauer der Eltern über den Tod seiner kleinen Schwester miterlebt. In seinen geregelten Alltag platzt Naomi, die „Meschuggene“, die in seinem Haus lebt. Die ebenfalls zwölfjährige Jüdin ist mit ihrer Mutter aus Frankreich geflohen, nachdem ihr Vater vier Jahre zuvor vor ihren Augen von Nazis getötet wurde. Auf Wunsch seiner Eltern besucht Alan Naomi, erst widerwillig, dann mit zunehmender Begeisterung. Die beiden freunden sich trotz vieler Schwierigkeiten an, Naomi macht große Fortschritte, schafft es sogar, die Schule zu besuchen. Eine erneute traumatische Gewalterfahrung wirft sie jedoch komplett zurück und das Buch findet ein trauriges Ende.
Mich hat das Buch schon beim ersten Lesen vor zig Jahren berührt und auch jetzt beim Hören bekam ich Gänsehaut. Naomis Vergangenheit und der gewaltsame Tod ihres Vaters sind ständig unterschwellig präsent, sodass auch die eigentlich humorvollen und lustigen Stellen einen traurigen Unterton bekommen. Da ich das Buch schon kannte, wusste ich ja, wie die Geschichte zwischen Alan und Naomi ausgehen wird, deshalb war meine Herangehensweise vermutlich anders als die von Menschen, für die das Buch neu ist. Ich hatte bei jedem hoffnungsvollen Moment ein „aber“ im Hinterkopf.
Sprachlich fand ich das Buch gelungen, wobei man sich aber vor Augen halten muss, dass es 1977 erschienen ist. Es ist zwar leicht verständlich geschrieben, überwiegend ist die Sprache alltagsnah, nur ein paar Sätze sind auf Französisch. Da Alan diese aber für sich selbst übersetzen muss, bekommt die Leser-/Hörerschaft sie ebenfalls auf Deutsch. Die Hauptcharaktere sind sehr klar ausgearbeitet. Alans innerer Konflikt zwischen seiner Freundschaft mit Naomi, seinem Pflichtgefühl und seinem Wunsch danach, mit Kumpels Zeit verbringen zu können, ist spürbar. Auch seine zeitweise Überforderung, als „Co-Therapeut" sind deutlich herausgearbeitet, genauso wie seine Freude über kleine und große Erfolge. Naomis Trauma, ihre Verzweiflung, ihr Schuldgefühl und ihre Verlorenheit verursachten mir beim Lesen/Hören fast körperliche Schmerzen. Ihre Mutter ist im Gegensatz zu Alans Eltern sehr blass dargestellt. Sie ist mehr wie ein Schatten in der Geschichte: vorhanden, aber (auch dadurch, dass sie kaum englisch spricht) ohne größeren Anteil am Geschehen.
Der Sprecher des Hörbuchs konnte bei mir nicht wirklich punkten. Zwar kann man die unterschiedlichen Personen dank der Nuancen in seiner Stimme zuordnen, manchmal schafft er es für mich aber nicht ganz, die Stimmung einzufangen. Ein paar Fehler bei der Betonung fand ich sehr irritierend. Alans Mutter und ihren jiddischen Tonfall trifft er jedoch ganz hervorragend, wodurch ich dann im Endeffekt doch versöhnt war.
Für mich war das Buch sowohl eine Reminiszenz an meine Jugend wie auch eine erschreckend aktuelle Geschichte und ich vergebe fünf Punkte für die Geschichte und vier für die Umsetzung des Hörbuchs, aufgerundet auf fünf.

Bewertung vom 21.10.2022
Sylter Sünden / Kari Blom Bd.7
Tomasson, Ben Kryst

Sylter Sünden / Kari Blom Bd.7


sehr gut

„Sylter Sünden“ ist bereits der 7. Teil von Ben Kryst Tomassons Serie um LKA-Ermittlerin Kari Blom und Kriminalkommissar Jonas Voss. Für mich war es das erste Buch des Autors, aber da es mir sehr gut gefallen hat, vermutlich nicht das letzte. Verständnisprobleme hatte ich trotz der fehlenden Vorkenntnisse keine. Das Buch ist zwar ein Krimi, aber es hat mich durchaus an vielen Stellen zum Lachen gebracht.
Aber von vorn.
Kari ermittelt undercover, getarnt als Kellnerin im Restaurant eines Golfplatzes auf Sylt. Ein Jugendlicher wurde auf dem Golfplatz angeschossen und sie soll herausfinden, wer der Schütze war und woher die Waffe stammte. Parallel dazu geht es im Golfclub hoch her: Adrian Hoffmann, Sohn eines Bauunternehmers, ehelicht Sarah Jessen, deren Familie eine Baustoff-Firma besitzt. Eine echte Promi-Hochzeit, weshalb neben Journalisten auch die Polizei vor Ort ist. Neben Beamten der Schutzpolizei sind auch Hanna Behrends und ihr Kollege Kommissar Jonas Voss auf der Hochzeit, letzterer steht selbst kurz vor der Heirat mit Kari. Doch die Ehe von Adrian und Sarah dauert nur kurz, einige Stunden nach der Trauung wird der Bräutigam erschlagen auf dem Golfplatz aufgefunden. Und die Polizei stellt fest, dass es in dem Fall einige Verdächtige gibt, Dinge wie Rache, Erpressung, Eifersucht und Geld stehen im Raum und alte Freund- und Feindschaften aus dem Umfeld des Opfers werden ausgegraben. Jonas und Kari geraten in eine Art Kompetenzgerangel, was ihre Beziehung auf eine harte Probe stellt. Außerdem „pfuschen“ ihnen vier rüstige Damen ins Handwerk. Die Häkelmafia lässt es sich nämlich nicht nehmen, Finger und Nasen in alles zu stecken, was sie interessiert. Und dann wird eine weitere Leiche in unmittelbarer Nähe des Golfplatzes gefunden.
Sprachlich fand ich das Buch sehr flüssig zu lesen, da war es für mich eine echte Entspannungslektüre. Dabei war es inhaltlich eine echte Spannungslektüre, denn durch die beiden parallel verlaufenden Fälle, in denen zwei parallel miteinander (und zum Teil eher gegeneinander) arbeitende Ermittler fand ich das Buch vielschichtig und gut konstruiert. Und dann sind da natürlich auch noch die vielen sehr unterschiedlich angesiedelten Verdächtigen, die dem Buch so richtig Spannung verleihen. Und dann die Häkelmafia! Was soll ich zu dem schrullig-liebenswerten Quartett aus Witta, Grethe, Alma und Marijke sagen? Sie sind für mich das Element, das das Buch zum absoluten Spaß machte. Ihre Mischung aus Miss Marple und Kaffeekränzchen-Damen fand ich einfach nur perfekt.
Die Spannungskurve des Buchs ist für mich nicht ganz konstant, das viele Hin und Her zwischen Kari und Jonas mag für Kenner der Serie interessant sein, für mich als Neuling war es das nicht und bremste die Geschichte ein wenig aus. Dennoch bleibt ein solider Krimi mit einem schlüssigen Ende, das mich tatsächlich überrascht hat. Bis zum Schluss war ich bei meiner Tätersuche immer wieder auf falschen Fährten. Etwas schade finde ich, dass der Autor sehr oft sehr klischeehaft schreibt, je reicher nämlich die Charaktere sind, desto schnöseliger und arroganter sind sie meistens auch. Zudem sind die Protagonisten zwar gut ausgearbeitet, aber für mich ein wenig zu platt. Vielleicht fehlt mir da doch ein bisschen Hintergrundwissen, aber ich konnte mit niemandem außerhalb der Häkelmafia wirklich warm werden. Dass der Krimi auf Sylt spielt, kommt für mich zu wenig zum Tragen. Das Schicki-Micki-Golf-Resort hätte durchaus auch anderswo sein können, Sylt-spezifische Merkmale konnte ich in der Geschichte so gut wie keine erkennen. Das tat meiner Lesefreude allerdings wenig Abbruch, deshalb vergebe ich für das Buch vier Sterne.

Bewertung vom 12.10.2022
Maxima Culpa
Bausch, Joe;Job, Bertram

Maxima Culpa


sehr gut

„Maxima Culpa. Jedes Verbrechen beginnt im Kopf“ heißt das neue Buch von Joe Bausch (geschrieben zusammen mit Bertram Job). Entsprechend dem Titel konzentriert sich der Mediziner auf Verbrechen, die von langer Hand geplant sind, also vorher „im Kopf“ entstanden. Dabei beschreibt der ehemalige Anstaltsarzt der JVA Werl in diesem Buch keine eigenen Erfahrungen mit Straftätern, sondern (seiner Meinung nach) besonders spannende und spektakuläre Kriminalfälle quer durch die Geschichte. Das Buch ist also voll spannender Fakten Hintergründe, weshalb es für mich als Hörbuch nicht funktionierte. Bei so viel geballter Information wünsche ich mir, hin- und herblättern und das ein oder andere nachlesen zu können, was bei einem Hörbuch nicht so einfach ist. Zudem liegt mir Joe Bausch als Sprecher seines eigenen Textes nur bedingt, weshalb mir das Buch zwar inhaltlich sehr zugesagt hat, als Hörbuch für mich aber ein Reinfall war.
Aber von vorn.
Jedes der Kapitel widmet Joe Bausch einem Fall, der seinerzeit (mediales) Aufsehen erregt hat. So schreibt er zum Beispiel über (versuchte) Giftmorde wie den Fall der vergifteten Pausenbrote von Mitarbeitern einer Bielefelder Firma oder über einen Mann, der versuchte, seine schwangere ehemalige Freundin zu vergiften, weil sie sich zu Beginn der Schwangerschaft von ihm getrennt hat. Er räumt so mit dem Mythos auf, dass Giftmorde eher von Frauen verübt werden. Mit dem „Maskenmann“, der über Jahre Sexualstraftaten an Kindern verübte, zeigt er, dass viele Täter nach außen völlig unscheinbar sind und unauffällig leben. Das tat auch der Mann, der vor Jahren auf der britischen Kanalinsel Jersey mehrere Frauen vergewaltigt hat. Weitere Kapitel behandeln Mörder in medizinischen oder Pflegeberufen, wie beispielsweise den englischen Arzt Dr. Harold Shipman. Pathologische Kriminelle und Menschen mit schweren seelischen Abartigkeiten gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten.
In seinem aktuellen Buch konzentriert der Autor sich ausschließlich auf Täter, die ihre Taten von langer Hand geplant haben. Von den „Grundfällen“ zieht er Querverweise zu Taten, die so oder so ähnlich in der Vergangenheit (bis hin in die Antike) irgendwo auf der Welt verübt wurden. Die meisten Leser/Hörer des Buchs werden wohl, wie ich auch, oft wissend genickt haben. Hörer von True-Crime-Podcasts oder schlicht Zeitungsleser werden die meisten Fälle kennen. Daher fand ich auch das immer wieder auftauchende „Name geändert“ irgendwann nervig. Da hätte ein Hinweis im Vorwort für mich durchaus gereicht. Viele der Fälle und auch die Namen Täter (so bekannt) kann man übrigens ohne Probleme im Internet finden
So sehr ich Joe Bausch und seine Expertise schätze, so groß waren meine Schwierigkeiten mit der Art und Weise, wie er das Buch liest. Sein rollendes R und die Aussprache der Zischlaute waren für mich gewöhnungsbedürftig und manchmal fehlte mir der „überspringende Funke“, die Begeisterung über das Selbstgeschriebene, was ich sonst erlebe, wenn Autoren ihr eigenes Werk lesen. Auch schafft er es, gleichzeitig sehr akzentuiert wie auch verwaschen zu lesen, oft hastig und Silben verschluckend und an manchen Stellen holpert er, als läse er einen fremden Text und nicht seinen eigenen.
Das Buch an sich also bekommt von mir, wie auch die anderen von Joe Bausch, die volle Punktzahl. Es ist vollgepackt mit spannenden Informationen und man kann an jeder Stelle merken, dass der Autor ein großes, fundiertes Wissen hat und weiß, wovon er schreibt. Das Hörbuch funktionierte für mich allerdings nicht, das ist aber nicht dessen Fehler. Deshalb vergebe ich insgesamt vier Punkte.