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Benutzername: 
Gela
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Niedersachsen
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Ob Krimi, Belletristik, Biografie oder Dokumentation. Ich mag Bücher und reise gerne mit ihnen in andere Welten.
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 141 Bewertungen
Bewertung vom 02.12.2017
Der Club
Würger, Takis

Der Club


sehr gut

Für den Waisen Hans Stichler bedeutet das Boxen eine Flucht aus dem Alltag. Im Jesuiteninternat in Bayern lernt er von Pater Gerald das Kämpfen. Seine Tante Alex bietet ihm ein Stipendium für die Universität Cambridge an, stellt aber eine Bedingung. Hans soll als Mitglied im elitären Pitt Club aufgenommen werden, um dort im Verborgenen ein Verbrechen aufzuklären. Die reiche und unnahbare Charlotte stellt die notwendigen Verbindungen her. Eine Welt voller Traditionen, Geheimnisse, Geld und Verbindungen öffnet sich Hans und stellt ihn vor die Wahl.

Märchenhaft beginnt Takis Würger sein Debüt, welches eine Mischung aus Entwicklungsroman und Krimi bildet. Ein Haus mitten im einsamen niedersächsischen Wald und ein Kind, das fast nicht geboren wurde, sich lieber versteckt und auf dem Baum ausharrt, als mit anderen Kindern zu spielen. Der stille und schüchterne Hans Stichler, der aus der Ich-Perspektive erzählt, hat mich sofort für sich eingenommen. Er leidet spürbar unter dem Tod seiner Eltern, für den er sich zu Unrecht die Schuld zuschreibt. Statt bei seiner letzten Verwandten, der Kunsthistorikerin Alex, aufgenommen zu werden, kommt er an ein Jesuiteninternat. Auch hier bleibt Hans allein, findet keinen Anschluss und boxt sich im wahrsten Sinne des Wortes durchs Leben.

Episodenhaft wechseln die acht Erzähler. Durch die flüssige, ruhige und schnörkellose Schilderung erhält der Hörer einen detaillierten, ungefilterten Blick auf das Geschehen. Gleichzeitig wird dadurch eine Spannung aufgebaut, der man sich kaum entziehen kann. Immer wenn man bei einem Erzähler bleiben möchte, wechselt die Perspektive. Ungewöhnlich feinfühlig, vielschichtig und einfühlsam werden Gefühle eingefangen, die man zum Beispiel in einem Boxring nicht erwarten würde.

Dem Autor gelingt es besonders gut, die Atmosphäre dieser traditionsbehafteten Universität einzufangen. Man spürt die Macht, die von diesem Ort ausgeht und riecht das alte Geld, das an den edlen Polstern und Möbeln zu haften scheint. Unzählige elitäre Clubs, geheime Verbindungen und nur wer dazugehört, der hat es geschafft. Viele lassen sich auf ein Spiel ein, aus dem sie nicht unversehrt herausgehen können. Das Verwischen von angenommenen Wahrheiten und der tatsächlichen Realität zeigt sich besonders bei dem narzisstisch versnobten Josh.

"'Es gibt nur zwei Typen von Menschen in Cambridge. Die einen sind reich, die anderen versuchen, reicher zu wirken, als sie sind', sagte er."

Coole Typen in gut geschnittenen Anzügen, Alkohohl in Ströhmen und schöne Frauen. Die Partys und Ausschweifungen im Pitt Club lassen erahnen, um was für ein Verbrechen es sich handeln muss. Doch das eigentliche Verbrechen liegt im Vertuschen, Gutheißen, Wegsehen. Jeder spielt perfekt seine Rolle, versteckt sich hinter einer Maske. Hans steht am Ende allein vor der Entscheidung Freundschaft oder Verrat zu wählen. Die Auflösung ist vielleicht eine Spur zu heroisch dramatisch ausgefallen, glaubhaft aber durchaus.

Dieser Roman mit seinen verschiedenen Erzählperspektiven ist wie gemacht für ein Hörbuch. Fesselnde Sprecher wie Anna Maria Mühe oder Hartmut Stanke machen den Roman zu einem besonders erlebbaren und empfehlenswerten Hörgenuss.

Bewertung vom 02.12.2017
Herz auf Eis
Autissier, Isabelle

Herz auf Eis


ausgezeichnet

Wer träumt nicht davon aus dem Alltag auszusteigen und die Welt kennenzulernen. Louise und Ludovic machen den Traum wahr und umsegeln während eines Sabbatjahres die Welt. Eine einsame Insel südlich von Kaphorn im kalten Atlantik reizt die beiden Bergsteiger, denn hier wartet ein Gletscher auf sie. Während der Klettertour zieht ein heftiger Sturm auf, der die Rückkehr zur Jacht unmöglich macht. Dann der Schock am nächsten Morgen: Das Schiff hat sich losgerissen und ist verschwunden. Fern aller Zivilisation kämpfen die Steuerbeamtin und der Kommunikationswissenschaftler ums nackte Überleben.

Isabelle Autissier hat einen so eindringlichen und plastischen Schreibstil, dass man sich von der Handlung mitreißen lässt. Die Autorin spiegelt die tiefsten existenziellen menschlichen Ängste in einer extrem spannungsgeladenen Geschichte wider. Dazu kommen die Naturschilderungen, die bildhaft die Schönheit und gleichzeitige Unerbittlichkeit der Landschaft zeigen. Man spürt förmlich selbst die raue Gletscherkruste und die Kraft des eisigen Windes. Zwei Großstadtmenschen mit einer Handvoll Habseligkeiten allein auf einer einsamen Insel. Um zu verstehen, was mit den beiden passiert, gibt es einen Rückblick auf die Zeit ihres Kennenlernens. Dabei spielen ihre unterschiedlichen Charaktere eine große Rolle. Hier geht es um viel mehr, als um den existenziellen Kampf gegen Kälte und Hunger.

"Wenn es um das Leben, um den Tod, um Entscheidungen von größter Wichtigkeit geht, zählt der andere nicht mehr. ..... Das ist unbedingtes Recht, ihre Pflicht sich selbst gegenüber."

Die Wahrung der eigenen Würde, das Begreifen des Menschseins wird zu einer immer größeren Bürde. Zwei sich vertrauende, liebende Menschen stehen am Abgrund ihres Lebens und diese Zerrissenheit ist unglaublich intensiv beschrieben. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie schnell man aus der vermeintlich sicheren Komfortzone herausgerissen werden kann und was von einem übrig bleibt, wenn nichts weiter als das Überleben bleibt.

Diese Geschichte rüttelt auf, führt an Grenzen, die man selbst nie erleben möchte und ist ein Spiegel, der den Leser auffordert, sich selbst zu erforschen.
Ein eindringlicher und empathischer Roman, der ein ganzes Spektrum an Emotionen hervorruft und mich begeistert hat.

Bewertung vom 02.12.2017
Acht Berge
Cognetti, Paolo

Acht Berge


sehr gut

Literarische Bergwanderung

Grana, ein abgelegenes Bergdorf im Monte-Rosa-Massiv ist im Sommer Pietros Heimat. Fern der städtischen Hektik Mailands genießt der Junge seine Freiheit in den Bergen. Zusammen mit dem Viehhirten Bruno, dessen Freundschaft ihm immer mehr bedeutet, erkundet er das verlassene Dorf und bezwingt die raue Natur. Als Dokumentarfilmer zieht es Pietro hinaus in die Welt, doch Grana bleibt sein Rückzugsort und Bruno ein fester Bestandteil darin.

Paolo Cognetti lässt den Leser an seiner Leidenschaft für die Berge spürbar teilhaben. Sie sind die unerschütterlichen Hauptdarsteller dieses leisen Buches. Auch wenn sich im Tal die Welt verändert, der Wildbach bezwungen wird und Straßen die Landschaft zerteilen, die Berge thronen weiter über dem Tal. Die Protagonisten sind aus unterschiedlichen Gründen mit ihnen verbunden. Pietros Vater scheint besessen davon zu sein, alle Berge zu bezwingen. Rücksichtslos sich selbst und seinem Sohn gegenüber, rastlos, bis der Gipfel erreicht ist.

" 'Von hier sieht alles so klein aus, nicht wahr?', sagte er, ohne dass ich das nachvollziehen konnte. Ich verstand nicht, wie er dieses majestätische Panorama klein finden konnte. Oder kamen ihm andere dinge klein vor? Dinge, die ihm wieder einfielen, sobald er hier oben war? "

Bruno, der sein Tal nie verlassen würde, kann sich keinen anderen Ort vorstellen. Ihn zieht es in die Abgeschiedenheit einer Almhütte. Auch hier wird nichts beschönigt, denn hier oben ist die Natur unerbittlich und gibt den Lebensrhythmus im Lauf der Jahreszeiten vor. Die Schlichtheit und Wärme, die Bruno ausstrahlt, ist dem Autor besonders gelungen. Man muss diesen scheinbar mit sich völlig im Einklang lebenden Bruno einfach mögen.

Der Erzähler, Pietro, dagegen, scheint rastlos durchs Leben zu ziehen, bis er nach Nepal gelangt und dort im Schatten der mächtigsten Gipfel zu sich selbst findet.

20 Jahre dauert es, bis die Jugendfreunde sich wieder begegnen. Zusammen bauen sie eine zerfallene Berghütte auf und mit jedem Balken, den sie setzen, erneuern sie auch ihre Freundschaft. Trotz aller Gegensätze verbindet die beiden Männer ein tiefes Gefühl, das ohne Worte auskommt.

Mir hat dieses Buch sehr gefallen, weil ich auch immer wieder dem Zauber der Bergriesen verfalle. Diese literarische Bergwanderung überzeugt besonders durch ihre leise unaufdringliche Schreibweise. Echte Freundschaft überdauert die Zeit und bleibt bestehen, das zeigt sich besonders am Ende des Weges.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.03.2017
Die Geschichte eines neuen Namens / Neapolitanische Saga Bd.2
Ferrante, Elena

Die Geschichte eines neuen Namens / Neapolitanische Saga Bd.2


sehr gut

Neapolitanisches Stimmungsbild

Anfang der 60er Jahre beginnt für die sechzehnjährigen Lila und Elena ein neuer Lebensabschnitt. Lila, jetzt Signora Caracci, ist verheiratet mit einem angesehenen Kaufmann, der ihr ein Leben in Luxus und Ansehen verspricht. Doch dafür zahlt sie einen hohen Preis, denn als Ehefrau hat sie zu gehorchen. Elena setzt dagegen auf ihre Schulbildung und geht aufs Gymnasium, wohl wissend, dass sie sich dadurch immer mehr vom Rione ihrer Kindheit entfernt. Als beide sich in den gleichen Mann verlieben, scheint kein Platz mehr für ihre Freundschaft zu sein.

Elena Ferrante setzt im zweiten Teil ihrer Romanreihe die Geschichte der Freundinnen, erzählt von Elena (Lenù) in der Ich-Form, nahtlos fort. Auf den ersten Seiten findet sich ein ausführliches Personenverzeichnis mit Erläuterungen zu den bisherigen Ereignissen, das den Einstieg erleichtert. Um die Entwicklung der Protagonistinnen besser verstehen zu können, ist es hilfreich, vorab „Meine geniale Freundin“ zu lesen.

Handlungsort ist das düstere, von Gewalt und Brutalität geprägte Neapel in den Jahren 1960 bis 1966. Der Autorin gelingt es, diesen Ort lebendig werden zu lassen, man riecht die muffigen Gassen, sieht die scheelen, misstrauischen Blicke, die einen überall hin begleiten. Im Rione gelten eigene Regeln, an die sich jeder zu halten halt. Um so bemerkenswerter ist es, dass Elena für ihre Bildung kämpft, sich zur Wehr setzt. Doch immer wieder ist es die schöne, unnahbare Lila, die in den Vordergrund rückt.

Durch die Heirat hat sich Lila für eine Zukunft als Ehefrau und Mutter entschieden, nicht ahnend, dass ihr geliebter Mann entgegen aller Beteuerungen gemeinsame Sache mit dem Camorra-Clan macht. Ihren Widerspruch und ihr hitziges Temperament zwingt er mit Gewalt in ihre Schranken.

„Wir waren mit der Vorstellung aufgewachsen, dass kein Fremder uns anrühren durfte, dass aber unser Vater, unser Verlobter, unser Ehemann uns ohrfeigen durfte, wann immer er wollte, aus Liebe, um uns zu erziehen und uns zu bessern.“

Elena, die um keinen Preis so enden möchte wie ihre Mutter, wird zur Vorzeigeschülerin, doch innerlich brennt ein Kampf in ihr. Fast hätte sie sich an einen Mann gebunden, nur um dazuzugehören, denn Anerkennung für ihre Leistungen findet sie im Rione nicht. Ein Sommerurlaub auf Ischia wird zum Wendepunkt der beiden Frauen. Die vermeintliche Leichtigkeit des Sommers steht im spitzen Gegensatz zu den Emotionen, die schließlich in einem furchtbaren Fiasko enden. Elena wendet sich von Lila ab und erhält ein Stipendium an einer Eliteuniversität in Pisa. Sie scheint einen neuen Weg gefunden zu haben, doch die Erinnerung an Lila lässt sie nicht los.

"Und ihr Leben taucht beständig in meinem auf in den Worten, die ich gesagt habe und in denen häufig ihre Worte widerklingen; in jener entschlossenen Geste, die eine Nachahmung einer ihrer Gesten ist; in meinem Weniger, das als solches wegen ihres Mehr da ist; in meinem Mehr, das die Umkehrung ihres Weniger ist."

Lila, der einstige strahlende Stern des Rione, bleibt als Charakter schemenhaft und schwer durchschaubar. Fast meint man, sie sucht sich ihr Leid selbst aus. Elena dagegen ist für mich sehr klar gezeichnet. Trotz ihrer Zielstrebigkeit beim Lernen und den daraus resultierenden Erfolgen, bleibt sie unsicher, scheint ihren Platz im Leben nicht zu finden.

"Aber eigentlich blieb ich eine kulturell allzu angepasste Dilettantin, ich besaß keine Rüstung, in der ich ruhig voranschreiten konnte, wie sie es taten."

Eine vielschichtige und emotionsgeladene Studie menschlicher Schwächen macht den Reiz dieses Romans aus. Der tagtägliche Versuch, aus einer gesellschaftlich vorbestimmten Situation auszubrechen, der Kampf um Anerkennung, um Selbstfindung wird eindringlich und fühlbar vermittelt. Auch wenn das #FerranteFever bei mir nicht ausgebrochen ist, tauche ich gern in die atmosphärische Geschichte ein und bin auf die Fortsetzung gespannt.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.02.2017
Gefährliche Empfehlungen / Xavier Kieffer Bd.5 (eBook, ePUB)
Hillenbrand, Tom

Gefährliche Empfehlungen / Xavier Kieffer Bd.5 (eBook, ePUB)


sehr gut

Geheimnisse um ein blaues Buch

Bei der Einweihung des Firmenmuseums des Guide Gabin in Paris wird die Leihgabe des seltenen Guide Bleu von 1939 gestohlen. Gastrokritikerin Valerie bittet ihren Freund, den luxemburgischen Koch Xavier Kieffer, um Hilfe. Brisant wird es, als auch der Französische Präsident Kieffer um ein geheimes Gespräch bittet. Auf der Suche nach dem Buch begibt sich Kieffer in große Gefahr, denn noch ahnt er nicht, dass es um mehr als nur einen Restaurantführer geht.

Dies ist bereits der fünfte Band des eigenwilligen Kochs Xavier Kieffer. Obwohl ich die vorherigen Bände nicht kenne, konnte ich sofort ins Lesevergnügen einsteigen. Tom Hillenbrand hat einen flüssigen Schreibstil, der sehr detailliert, fast schon detailverliebt, Szenen herausarbeitet. Die Mischung aus Reiseguide, Krimi und Geschichtsbuch mit kulinarischen Einschüben ist ungewöhnlich, aber gelungen. Vor allem Luxemburg und Frankreich Fans werden hier auf ihre Kosten kommen. Der Autor arbeitet mit viel Lokalkolorit, typischen Landesgerichten, Dialekt und Ortsbeschreibungen. Am Ende des Buches findet man dankenswerterweise ein Glossar über Küchenlatein, das besonders bei den ungewöhnlichen Gerichten hilfreich ist.

Zwei parallele Erzählstränge geben Einblick in das Geschehen. Die Kriegsjahre, in denen der Guide Gabin aus dem Jahr 1939 seine Schlüsselrolle erhält, werden durch die Erlebnisse eines geheim agierenden Amerikaners geschildert. Besonders die Franzosen und deren ungewohnte Mittel, dem Feind ein Schnäppchen zu schlagen, haben mir gefallen.

In der Gegenwart bereist Xavier Kieffer verschiedene Regionen, um das geheimnisvolle blaue Bauch wiederzubeschaffen. Statt einer Gourmetreise entwickelt sich seine Suche schnell zur Verfolgungsjagd, denn immer mehr dunkle Gestalten scheinen an dem Buch interessiert zu sein. Dabei gehen sie nicht gerade zimperlich vor und scheuen auch nicht vor Mord zurück. Obwohl Kieffer als Koch nun ganz und gar nicht in das Agentenmilieu passt, schlägt er sich tapfer und mit Raffinesse. Unterstützung erhält er von Pekka Vattanen, einem Freund und Stammkunden seines Restaurants in Luxemburg. Der trinkfeste finnische EU-Beamte trägt mit seinem lockeren Wortwitz sehr zum humorvollen Teil der Handlung bei.

Spannend steigert sich die Handlung zu einem lebensgefährlichen Plot mit überraschenden Elementen.

Obwohl nicht alle Szenen für mich schlüssig erklärbar sind, hat mich dieser Gourmetkrimi ungewöhnlich gut unterhalten und Lust auf einen Besuch in einem luxemburgischen Restaurant gemacht.

Bewertung vom 31.01.2017
Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen
Braslavsky, Emma

Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen


sehr gut

Ein Konglomerat unterschiedlichster Gruppierungen ist auf dem Weg die Welt zu verbessern. Doch wer an Menschlichkeit, Nachhaltigkeit und Wohlergehen denkt, liegt hier falsch. Macht, Geld und Prestige geben die Spielregeln vor, die den Besiedlungskampf um eine neu entdeckte staatenlose Insel einläuten. Es geht um Einzelschicksale, inneren und auslebenden Aussteigern.

Verschiedene Handlungsstränge, die willkürlich aufeinander folgen machen den Einstieg nicht leicht. Erst langsam erkennt man Zusammenhänge, taucht dann aber sogartig in das Geschehen ein. Emma Braslavsky setzt unterschiedliche Stilmittel ein, um die Handlungsstränge miteinander zu verbinden. Mal taucht ein Newsblog auf, dann wieder Dialoge eines Aussteigerpärchens im vermeintlichen Paradies. Unterschwellige Spitzen der Autorin greifen Wohlstandprobleme auf, nehmen Politik und Wissenschaft unter die Lupe und halten einem jeden den Spiegel vor. Kuriose und durchdachte Ideen wie ein vom Wind verwehtes Haar oder ein personalisierter Sturm würzen den gelungenen Schreibstil.

Eine Vielzahl von unterschiedlichsten Charakteren, die lebendig, skurril und dennoch glaubwürdig beschrieben werden, zeichnen den Roman aus. Ob Berliner Youngster, argentinisches Familienoberhaupt, Kaballah-Teilnehmerin oder Paradiesbewohner man folgt ihnen gern bei der Suche nach ihrer Lebenserfüllung.

Der argentinische Architekt Jivan und die karriereorientierte Umweltaktivistin Jo scheinen das perfekte Paar zu sein. Hinter ihrer glänzenden Fassade zeigen sich aber erste Risse, die dramatische Folgen nach sich ziehen werden. Durch den Erzähler taucht man immer tiefer in die verworrenen Ziele verschiedener Organisationen ein. Das vermeintliche Wohl der Menschheit gerät mehr und mehr in den Hintergrund. Ein Thema, das gerade wieder an Aktualität gewonnen hat.

"Wie merkwürdig sich der Fahrtwind ihnen in dieser Windstille entgegenstemmt, ihre Haare erfasst, kein Wind eigentlich, sondern die Zeit selbst, die nur als Wind spürbar wird, wenn man durch den Raum jagt und ihren Strom überholen will, wenn man schneller sein will, als sie fließen kann."

Die 19 Jahre alte Roana verbringt einen durch ihren Vater verordneten Zwangsaufenthalt in Argentinien. Der Familientradition folgend soll sie am Fuß eines Vulkans zu sich selbst finden. Am Ende führt ihr Weg nach Buenos Aires, den sie rückblickend aus der Gegenwart heraus erzählt. Jugendlich und unvoreingenommen schildert sie ihre Gedanken und Gefühle. Ihr ist man besonders verbunden, weil Roanas Zerrissenheit spürbar vermittelt wird.

Anfänglich völlig voneinander losgelöste Handlungen führen zu einem fulminanten abstrusen Finale.

Obwohl sich bei mir der Lesegenuss nicht sofort einstellen wollte, hat mir der kreative Stil, die enthaltene Botschaft und deren humorvolle Umsetzung sehr gefallen.

Bewertung vom 31.01.2017
Der Zug der Waisen
Kline, Christina Baker

Der Zug der Waisen


ausgezeichnet

Ein Zug voller Waisenkinder rollt im Jahr 1929 von New York Richtung Mittlerer Westen. Auch die neunjährige irische Immigrantin Vivian hofft darauf, ein neues Zuhause zu finden. Bis es so weit ist, muss sie einen schweren Weg gehen. Erst mit 91 Jahren vertraut sie sich der jungen Halbwaisen Molly an, mit der sie sich verbunden fühlt.

Christina Baker Kline hat ein trauriges und vergessenes Kapitel amerikanischer Geschichte zum Leben erweckt. Im Nachwort findet man von der Autorin zusammengestellte geschichtliche Details. Die Orphan Trains fuhren zwischen 1854 und 1929 in den Mittleren Westen, um unglaubliche 200.000 Kinder adoptionswilligen Paaren zuzuführen. Die von der „Children’s Aid Society“ vermittelten Kinder wurden allerdings häufig als billige Arbeitskräfte wie Sklaven gehalten. Hauptprotagonistin Vivian Daly ist eines dieser Kinder und steht für eine Generation ohne Liebe und Geborgenheit. Der zweite Handlungsstrang führt in die Gegenwart zu Molly, einer aufmüpfigen 17-jährigen Halbwaisen, die von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gereicht wird. Sie steht kurz davor, wieder aus einer Familie zu fliegen. Ihre letzte Chance sind Sozialstunden, die sie bei Vivian auf dem Dachboden mit Entrümpelungsarbeiten ableisten soll.

Das Schicksal einer alten Dame und die Selbstfindung eines Teenagers werden von der Autorin gekonnt miteinander verwoben. Einfühlsam, leise und gefühlvoll entwickelt sich eine Freundschaft, mit der niemand gerechnet hat. Eigentlich soll Molly nur den Dachboden für Vivian entrümpeln. Doch je länger die beiden Frauen die alten Dinge betrachten, desto näher kommen sie sich. Mit jedem Fundstück kehren mehr Erinnerungen zurück und Vivian beginnt, Molly von ihrem Leben zu erzählen. Die Handlungsstränge werden durch Kapitel und Jahreszahlen getrennt erzählt, sodass man der Geschichte gut folgen kann.

Besonders Vivian wirkt sehr authentisch und lebendig. Zusammen mit ihr durchlebt man all die schrecklichen Dinge, die ihr widerfahren sind.

"Keine Erwartungen zu haben macht das Ganze leichter zu ertragen. Ich bin überzeugt, dass ich am Ende wieder im Zug landen werde, um an der nächsten Station wieder ausgeladen, mit den anderen verbleibenden Kindern vorgeführt und dann wieder zurück in den Zug verfrachtet zu werden."

Tief getroffen hat mich, wie dieses kleine Mädchen sich selbst eine Gefühllosigkeit auferlegt, um überleben zu können. Als erwachsene Frau trifft sie ein weiterer Schicksalsschlag, von dem sie sich nie ganz erholen wird und ihre Gefühle endgültig für sich behält.

Mich hat dieser Roman sehr berührt. Im Anschluss habe ich noch viel über die Orphan Trains gelesen und bin froh, durch diese Geschichte mehr darüber erfahren zu haben.

Bewertung vom 20.01.2017
Martin Luther
Nielsen, Maja

Martin Luther


sehr gut

Passend zum Reformationsjubiläum vermittelt das reich bebilderte Sachbuch einen Einblick in das Leben und Wirken Martin Luthers. Maja Nielsen schildert in verständlichen Worten, wie Martin Luther seinen vom Vater vorbestimmten Lebensweg für die Kirche verließ und zum Reformator wurde. Dank der gelungenen Illustrationen von Anne Bernhardi kann man sich sehr gut vorstellen, wie Luther lebte. Empfohlen ist das Buch für Leser von 12 bis 15 Jahren.

Durch viele Infoboxen, die den Sachtext begleiten, werden auch schwierige Sachverhalte gut verstanden. Für meine Kinder war es interessant zu erfahren, dass durch die Bibelübersetzung und seine zahlreichen Schriften Luther unsere heutige Sprache prägte und bis dahin unbekannte Wörter wie Lästermaul, Machtwort, friedfertig oder Lückenbüßer schuf. Vergessen wird aber auch nicht darauf hinzuweisen, dass Luther nicht nur positiv in der damaligen Zeit aufgefallen ist und heute auch kritisch gesehen wird. Hilfreich sind hier die zahlreichen und durchaus kritischen Kommentare von Margot Käßmann, die auch als Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für das Reformationsjubiläum 2017 tätig ist.

Am Ende des Buches findet sich eine Chronik zu Luthers Leben in Kurzform, um sich noch einmal einen Gesamtüberblick verschaffen zu können. Viele Tipps wie Museums- und Webadressen oder Film- und Buchhinweise machen neugierig, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen.

Zum Einstieg in das Thema Reformation ist das Buch sehr gut geeignet.

Bewertung vom 15.01.2017
Das Fahrrad
Jeong, Haseop

Das Fahrrad


ausgezeichnet

Die Geschichte des Fahrrades - Vom Drahtesel zum Hightech-Produkt

Was ist ein Fahrrad und warum wurde es für die Menschen auf der ganzen Welt so wichtig? Diese Frage stellt sich heute fast niemand mehr, so selbstverständlich sind die Fahrräder auf unseren Straßen geworden.

Dieses hochwertige Sachbilderbuch von Haseop Jeong empfohlen für die Altergruppe 10 - 12 Jahren beginnt mit dem Laufrad und endet mit modernen E-Bikes. Wunderschöne - an alte Skizzen erinnernde - Illustrationen von Cho Seunyeon zeigen den vielseitigen Einsatz von Fahrrädern. Über ein altes Feuerwehr-Fahrrad mit aufgerolltem Schlauch mag man heute schmunzeln, damals war es vielleicht die schnelle Rettung, bevor ein Haus abbrannte. Man erfährt, wie mutig Frauen und Männer schon Anfang des 19. Jahrhunderts sich allein auf ihrem Fahrrad auf Weltreisen begeben haben. Auch im Sport finden sich heute noch Rennräder, die viele Menschen begeistern.

Am Ende wird auf die Verkehrssicherheit mit den wichtigsten Vekehrszeichen hingewiesen und Tipps fürs Radfahren gegeben. Adressen von Museen, Fahrradclubs, Radreisen und anderen interessanten Dingen rund ums Rad runden die Informationen ab.

Meinen Söhnen hat besonders der Bericht über die heutigen Fahrradhauptstädte und über den Hovenring in den Niederlanden gefallen. Die Zeichnung veranschaulicht, dass in der Zukunft vielleicht bald den Radfahrern mehr Platz auf den Straßen eingeräumt wird.

Dieser tolle Sachbuch-Schatz ist nicht nur für kleine Fahrrad-Fans zu empfehlen.