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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 819 Bewertungen
Bewertung vom 14.12.2021
Böse Schafe
Lange-Müller, Katja

Böse Schafe


sehr gut

Brief an einen Toten

Als einer ihrer wichtigsten Romane wurde «Böse Schafe» von Katja Lange-Müller vom Feuilleton einhellig positiv aufgenommen, sein Thema ist das komplizierte Beziehungsgeflecht von gesellschaftlichen Außenseitern. Die in der Vorwendezeit in West-Berlin angesiedelte Liebesgeschichte zweier kaputter Typen überzeugt nicht nur durch die völlig unsentimentale, sprachlich nüchterne Umsetzung des Stoffs, sondern auch durch die intime Nähe zu den Figuren. Diese besonders intensive Wirkung wird vor allem durch die sehr spezielle Erzählform als fiktiver Brief an einen Toten erzeugt.

Die vierzigjährige Schriftsetzerin Soja, Republikflüchtling aus der DDR, die sich in Berlin mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, trifft 1987 am U-Bahnhof Nollendorfplatz auf Harry, der als schöner Mann, «blauäugig, bleich, aschblond», eine geradezu unwiderstehliche, spontane Anziehungskraft auf sie ausübt. In dem posthumen Brief, den sie ihm vier Jahre später schreibt und den wir als Roman lesen, sieht sie einen Film ablaufen und fragt selbstkritisch: «Hätte ich mich, als unser Film in Echtzeit lief, als wir zu fotografieren gewesen wären, nach deinen Empfindungen erkundigen sollen?» Denn wie sie merkt, gibt der schweigsame Traummann wenig preis von sich und bleibt ihr gegenüber sogar als Liebhaber merkwürdig zurückhaltend. Trotzdem ignoriert sie zunächst alle Indizien, bis dann nach und nach aber heraus kommt, dass er auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er eine zehnjährige Strafe wegen Raubüberfalls abzubüßen hat. Außerdem hat er auch gegen Bewährungs-Auflagen verstoßen, weil er seine Drogentherapie abgebrochen hat. Soja kämpft um eine neue Therapie für ihn, setzt sich selbstlos für ihn ein und unterstützt ihn sogar finanziell, obwohl sie selbst in eher prekären Verhältnissen lebt. Es dauert nicht lange, bis die nächste, bisher verschwiegene Hiobsbotschaft sie erreicht, die sie dann sehr direkt plötzlich auch selbst betrifft.

«Mein Lebensthema sind, glaube ich, die Widersprüche» hat die Autorin im Interview bekannt. Das wird hier verkörpert durch die große Liebe einer unbeirrbaren, starken Frau aus dem Osten zu dem kriminellen Junkie aus dem Westen, der ihre Gefühle in keiner Weise erwidert hat, wie sie ihm in ihrem Brief posthum vorwirft. Die Autorin lotet nüchtern aus, wie weit Hingabe tatsächlich gehen kann, ohne jedoch pathetisch zu werden, was in diesem Genre ja eher selten anzutreffen ist. In ihrem Rückblick auf den vierjährigen Abschnitt ihres Lebens mit Harry stellt Soja ihm existentielle Fragen, um zu verstehen, was für ein Mensch er wirklich war. Und trotz der durch sein Verhalten ihr gegenüber ausgedrückten, emotionalen Defizite wirkt dieser schräge Vogel nie unsympathisch, er strahlt auch in verstörenden Momenten immer noch einen gewissen Charme aus, und zwar nicht nur auf Soja, sondern erstaunlicher Weise auch auf den Leser. Der lange, quälende Sterbeprozess von Harry schließlich, der am Ende einsam stirbt und Soja mit seinen Habseligkeiten auch ein Schulheft mit Aufzeichnungen hinterlässt, ruft Mitgefühl beim Lesen hervor, er ist im Grunde eigentlich nur ‹ein armer Hund›. Harrys undatierte Notizen über seine Zeit mit ihr sind, kursiv abgesetzt und in kurzen Abschnitten über den gesamten Text verteilt, in den fiktiven Brief eingefügt. Es sind geradezu schreckliche Aufzeichnungen, die Soja da ahnungslos liest, denn in seinen insgesamt neunundachtzig Sätzen kommt sie mit keinem einzigen Wort vor, so als hätte es sie nie gegeben.

Eine derartige, nicht auf Gegenseitigkeit beruhende Amour fou wirft natürlich allerlei interessante Fragen auf. Kann man Sojas demütige Hingabe überhaupt noch Liebe nennen? Kann denn die nicht wiedergeliebte Liebende jemals glücklich gewesen sein? Neben seiner Liebesthematik ist «Böse Schafe» auch ein typischer Berlin-Roman mit stimmigen Milieu-Schilderungen. Dieser stilistisch ungewöhnliche, komplexe Roman ist eine unterhaltsame, bereichernde Lektüre.

Bewertung vom 12.12.2021
Wie der Soldat das Grammofon repariert
Stanisic, Sasa

Wie der Soldat das Grammofon repariert


gut

Bosnienkrieg aus Kindersicht

Gleich mit seinem autobiografisch geprägten Romandebüt «Wie der Soldat das Grammofon repariert» war der aus Visegrad in Bosnien-Herzegowina stammende Schriftsteller Saša Stanišić 2006 ungemein erfolgreich. Das Buch wurde in dutzende Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet, das Urteil des Feuilletons hingegen war gespalten. Von einigen Kritikern wurde der Autor als neue Stimme und talentierter Erzähler fast schon hymnisch gefeiert, von anderen wurde sein Debüt als missglückt oder als klischeehaft bezeichnet, und vom Krieg aus kindlicher Sicht zu erzählen ist natürlich immer anfechtbar.

Die Geschichte wird aus der naiven Perspektive des phantasiebegabten Schülers Aleksandar, Koseform Saša (sic!), in Ich-Form erzählt. Er wächst in Visegrad wohl behütet im Kreis seiner weitverzweigten Familie auf. Es beginnt mit dem Tod von Opa Slavko, einem glühenden Tito-Verehrer, mit dem Aleksandar innig verbunden war, aber auch der Zauberstab des Jungen vermag den Opa nicht wieder lebendig zu machen. Im Jahr 1991 gewinnt der Junge mit seinem ganz speziellen Köder den örtlichen Angler-Wettbewerb in der Drina und ist damit überraschend für die Landesmeisterschaften in Osijek qualifiziert. Aber daraus wird wohl nichts, denn dort herrscht bereits Krieg. Der erreicht schon im nächsten Frühjahr auch Visegrad und vertreibt die Eltern von dort, weil die Mutter muslimischer Herkunft ist und damit von ethnischen Säuberungen durch die Serben bedroht wird. Die Familie emigriert nach Heidelberg, wo bereits ein Onkel wohnt. Das unter Tito mit harter Hand durchgesetzte, aber letztendlich Utopie gebliebene, angeblich multikulturelle Jugoslawien wird nun in einen kleinstattlichen Flickenteppich zerrissen. Im Strudel der kriegerischen Ereignisse erscheint die unbändige Fabulierlust des Jungen mit ihren amüsanten, zum Teil haarsträubenden Szenen äußerst grotesk, bezogen auf das Kriegsgeschehen im Hintergrund. So wenn beispielsweise in einer Kampfpause die Serben und Bosnier aus ihren Stellungen hervor kriechen und sich auf ein Fußballspiel gegeneinander verständigen. Besonders absurd wird es, als dabei ein Spieler den Ball ins Aus schießt, in ein Minenfeld, aus dem er ihn nun auch selbst wieder herausholen muss, er bekommt dafür sogar eine kugelsichere Weste gereicht. Die ist allerdings für den Ball gedacht, denn der ist mitten im Krieg unersetzlich, der einzige jedenfalls, den die Soldaten noch haben.

Der unbedarfte Heranwachsende berichtet aus seiner Schlüsselloch-Perspektive von einer bunten Welt voller verrückter Geschehnisse und fragwürdiger Erinnerungen, was natürlich in krassem Gegensatz steht zu dem grauenvollen, aber realen Kriegsgeschehen, über das da abwechselnd ebenfalls berichtet wird. Mit überbordender Fabulierlust werden hier viele kleine, oft in sich abgeschlossene Episoden und Kurzgeschichten erzählt. Das reicht vom in flagranti entdeckten Seitensprung über die feierliche Einweihung des neu angebauten Wasserklosetts bis zum ausgelassen Dorffest, das dann plötzlich in einer Schießerei endet. Dabei agiert ein skurriles Figurenensemble, dessen wunderliche Charaktere nicht nur durch ihre balkantypische Sauf- und Fresslust, sondern auch durch allerlei körperliche und geistige Anomalien geprägt sind.

Kennzeichnend für den sehr speziellen Erzählstil von Sasa Stanisic ist eine verblüffende Unmittelbarkeit, die er auslöst, man fühlt sich ganz dicht am Geschehen, so grotesk das im Einzelnen auch sein mag. Störend ist das oft pittoreske Abgleiten in den puren Balkan-Kitsch, aber auch das narrative Konstrukt mit Passagen in Briefform, Gedichten und allerlei Listen erscheint mehr um größtmögliche Originalität bemüht als um einen logischen, nachvollziehbaren Erzählfluss. Die über all dem liegende heitere Note kollidiert natürlich mit den Kriegsgräueln, aber schon der Titel weist ja deutlich darauf hin, dass dies ein Schelmen-Roman ist, und als solcher sollte er dann natürlich auch gelesen werden.

Bewertung vom 09.12.2021
Der Mond und das Mädchen
Mosebach, Martin

Der Mond und das Mädchen


schlecht

Veritables Fiasko

Als letzter der als ‹Frankfurt-Zyklus› bezeichneten fünf Romane von Martin Mosebach hat der 2007 erschienene Band «Der Mond und das Mädchen» von der Verleihung des Büchnerpreises an den Autor profitiert. Im Feuilleton wurde sein eigentlich zutreffender als Novelle anzusehendes Buch allerdings überwiegend negativ besprochen, der sich selbst als Reaktionär bezeichnende, konservative Autor war und ist literarisch heftig umstritten.

Erzählt wird die Geschichte eines frisch vermählten, jungen Paares, das aus beruflichen Gründen von Hamburg nach Frankfurt am Main zieht, wo Hans nach dem Studium seine erste Stelle als Banker antritt. Sein vielversprechender neuer Job hindert ihn daran, mit Ina auf Hochzeitsreise zu gehen, und so reist sie mit ihrer verwitweten Mutter allein nach Ischia, während Hans sich derweil auf Wohnungssuche begibt. Nach vielen desillusionierenden Besichtigungen mietet er schließlich kurz entschlossen eine wenig attraktive, teilmöblierte Wohnung im vierten Stock eines Altbaus an einer verkehrsreichen Straße, in Nähe des Hauptbahnhofs gelegen. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr erleidet Ina einen Schock, als sie bei der Besichtigung der neuen Wohnung in ihrem künftigen Schlafzimmer eine verendete Taube findet, die sich wohl während des Gewitters dorthin verirrt hatte und nicht mehr hinaus fand, - für sie ein böses Omen! Da sie als Kunsthistorikerin noch keinen adäquaten Job gefunden hat, macht sie sich erstmal voller Elan und mit viel Geschick an die Einrichtung der provisorisch renovierten Wohnung. Danach aber fühlt sie sich nicht nur unausgelastet, sondern auch sehr einsam in dieser fremden Stadt, sie wird allmählich trübsinnig. Hans beginnt ihr auszuweichen und geht nach Feierabend gerne mal in den Schnellimbiss unten im Haus, den ein Äthiopier bewirtschaftet. Dort trifft sich im Hinterhof eine illustre Gesellschaft, zu der neben dem marokkanischen Hausverwalter Souad mit Frau Mahmoudi auch die Frau des Hausbesitzers gehört, ergänzt um diverse andere trinkfreudige Lebenskünstler und fragwürdige Existenzen. Das im Stockwerk unter ihnen wohnende Paar, ein Kunsthistoriker und eine junge Schauspielerin, lädt die neuen Mitbewohner zu einem Begrüßungstrunk ein, und durch eine Verkettung von Zufällen kommt es zu einem spontanen Seitensprung von Hans mit der Nachbarin, der glücklicher Weise unentdeckt bleibt. Diese Geschichte einer hoffnungsvoll beginnenden Ehe endet damit, dass die mittlerweile völlig desorientierte Ina, von einer ziellosen Wanderung bei Vollmond zurückkehrend, dem bei der Hinterhof-Clique sitzenden Hans eine Bierflasche über den Kopf haut.

Bis hierhin wäre das Buch eine klassische Novelle mit dem gattungstypisch unerhörten Ereignis am Ende. Aber der notorisch konservative Martin Mosebach hat noch eine Seite als letztes Kapitel angefügt, in dem die Schwiegermutter in ihrem Weihnachts-Rundbrief von Hans und Ina berichtet, die jetzt mit zwei Kindern in einer schmucken Villa im Taunus wohnen würden. Den spektakulären Gegensatz dazu bildet vorher das multi-ethnische und durch das Nachbarpaar auch intellektuell-kulturell geprägte Figuren-Ensemble der zuvor erzählten Geschichte. Deren allesamt exotische Figuren ergehen sich in vielerlei Gesprächen und Diskussionen zu persönlichen Problemen und Alltagssorgen ebenso wie zu philosophischen Fragen. Wiederkehrende Thematik bei Mosebach ist auch hier die Stadt, deren unter anderem durch Migration bedingten, ständigen Wandel er mit scharfem Blick für Details schildert.

In diesem ironisch grundierten Roman werden elementare Fragen nach gesellschaftlicher Orientierung aufgeworfen und unverkennbar reaktionär beantwortet, wobei auch mystische Elemente eingeflochten sind. Die unterhaltsame Multikulti-Geschichte mit ihrer Infragestellung der bürgerlichen Ehe wird stilistisch altväterlich und teilweise arg plakativ erzählt. Das unsägliche Ende aber rückt sie ins Kitschige und degradiert sie damit literarisch zum einem veritablen Fiasko.

Bewertung vom 06.12.2021
Im Menschen muss alles herrlich sein
Salzmann, Sasha Marianna

Im Menschen muss alles herrlich sein


gut

Unsentimentale Migrations-Geschichte

Mit dem bei Tschechow entlehnten Titel «Im Menschen muss alles herrlich sein» hat die in Wolgograd geborene Sasha Marianna Salzmann in ihrem zweiten Roman ironisch auf die Realität in der Sowjetunion hingewiesen. In dieser korrupten, menschen-verachtenden Diktatur wirkte die Aufforderung, etwas aus sich zu machen, nämlich wie der blanke Hohn. Die zwei Generationen umfassende Geschichte überspannt einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten und demonstriert die Verhältnisse am Beispiel zweier Freundinnen und ihrer Töchter während der 1970er bis in die 1990er Jahre sowie ihre Schicksale nach der Emigration bis ins Jahr 2015.

Die Feier zum 50ten Geburtstag von Lena, der wichtigsten Protagonistin, umschließt diesen zweiteilig aufgebauten Roman klammerartig. Im ersten Teil wird von ihrer Kindheit in Gorlowka erzählt, dem ehemaligen Kaliningrad in der heutigen Ukraine. Während der Sommerferien staunt sie bei ihrer Großmutter in Sotschi über die mondäne Gesellschaft in dem Badeort, die in krassem Kontrast steht zu den ärmlichen Verhältnissen, in denen ihre Oma dort lebt. Später verbringt die herausragende Schülerin ihre Ferien jeweils in einem Pionierlager und beendet schließlich die Schule mit Auszeichnung. Trotzdem fällt sie durch die Aufnahmeprüfung für ein Medizinstudium. Erst im zweiten Anlauf wird sie angenommen, weil ihre Mutter als Leiterin eines Chemiewerkes all ihre Beziehungen hat spielen lassen. Und wie Lena später als Ärztin erkennen muss, ist auch das Gesundheitswesen durch und durch korrupt. Mit 24 heiratet sie schließlich eine Partybekanntschaft und bekommt ihre Tochter Edita. Irgendwann gibt sie dann dem Drängen ihres jüdischen Mannes nach, in den Westen auszuwandern, sie landen in Jena. Eines Tages ruft dort die ehemalige Friseuse Tatjana an, eine gute Freundin ihrer Cousine aus Mariupol. Ihr deutscher Freund hat sie in Berlin sitzenlassen, nachdem sie schwanger wurde und Nina geboren hat. Nun bittet sie Lena um Hilfe und bekommt sie auch, die beiden Frauen werden beste Freundinnen. Ihre Töchter aber können wenig miteinander anfangen, die lesbische Edita als ewiges Enfant terrible und die eigensinnige Journalistin Nina sind gar zu verschieden.

Eingebettet in diese multiperspektivisch erzählte Geschichte mit den doppelten Psychogrammen ihrer sich ebenso russisch-ukrainisch wie deutsch fühlenden Protagonistinnen sind genau beobachtete Szenen aus dem Alltag der völlig ungleichen Figuren. Allen gemeinsam sind ihre Probleme, sich in die deutsche Gesellschaft einzuleben, mit der sie sich streng rational auseinander setzen müssen, während die Heimat rein emotional beurteilt wird. Über Kinder heißt es an einer Stelle im Buch geradezu defätistisch: «Das Leben läuft einem aus dem Ruder, also setzt man ein weiteres Glied in diese Kette, in die man selbst eingespannt wurde. Dann ist man wenigstens dort nicht der letzte Depp, da kommt noch eine nach mir». Diese desaströsen Mutter-Tochter-Beziehungen sind einerseits geprägt von Verlusterfahrungen der Mütter und andererseits von der schwierigen Identitätssuche der Töchter. Die Männer aber sind allenfalls Randfiguren in diesem vielschichtigen Roman, über sie verliert die sich selbstbewusst als ‹nonbinär› outende Autorin kaum ein Wort.

Der unsentimental erzählte Roman zeichnet mit geradezu sezierendem Blick und in wunderbar einprägsamen Bildern ein Panorama des auf die Perestroika folgenden Chaos, an den sich für die Migrantinnen ein dornenreicher Neuanfang anschließt. Ihr schwieriges Leben war mitbestimmt von ethnischen Spannungen und den politischen Konflikten im Donbas und im Kaukasus. Erzählerisch fehlt es aber auch nicht an Humor, wie er am deutlichsten bei der jüdischen Geburtstagsfeier am Ende zum Tragen kommt. Im zweiten Teil des Romans verliert sich diese Fabulierlust allerdings ein wenig und es entstehen Lücken im Erzählfluss dieses äußerst komplex gebauten Romans, der fast alles fühlbar macht, aber so gut wie nichts erklärt.

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Bewertung vom 29.11.2021
Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang
Carey, Peter

Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang


gut

Robin Hood in Australien

Für seinen Roman «Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang» erhielt der australische Schriftsteller Peter Carey 2001 den Booker Prize. Der als bedeutendster lebender Autor seines Landes angesehene Romancier ist damit einer der vier Autoren die den seit 1969 vergebenen Buchpreis zweimal erhalten haben. Wie fast immer bei diesem Autor ist sein Roman inhaltlich auf seine Heimat bezogen hier auf den legendären 1854 geborenen ‹Staatsfeind› Ned Kelly der zu den als Bushranger bezeichneten Outlaws gehörte. Solch berühmte historische Figuren werden ja gern wie auch in dieser fiktiven Autobiografie zum Robin-Hood-artigen Volkshelden verklärt Ned Kelley habe sich ja nur gegen die Willkür der verhassten Kolonialbehörden aufgelehnt. Diesen nationalen Mythos hat der Autor durch seinen Roman auch international bekannt gemacht.

In 17 als Päckchen bezeichnete ‹Papierbögen› unterteilt schildert der Romanheld tagebuchartig seiner Tochter die ihn nie kennen gelernt hat seine «wahre Geschichte». Als Sohn irischer Einwanderer die als Squatter genannte Farmer ein armseliges Leben am unteren Ende der sozialen Hierarchie fristen muss Ned schon mit zwölf Jahren als Halbwaise in dem vaterlos gewordenen Haushalt mitarbeiten. Seine Mutter von ihm über alles geliebt bessert mit dem Verkauf von selbst gebranntem Schnaps und gelegentlichen Liebesdiensten an zweifelhaften Mannsbildern die meist leere Haushaltskasse ein wenig auf. Einer von ihren Freiern ist der legendäre Harry Power der Ned auf ihren Wunsch hin unter seine Fittiche nimmt bei ihm soll er das Handwerk des ‹Bushrangers› lernen. Nach diversen Gaunereien und Viehdiebstählen bei den Reichen die er mit einigen ihm treu ergebenen Ganoven mit seiner Gang gemeinsam begeht erschießt er bei einem Schusswechsel einen Polizisten und wird fortan von einem wachsenden Aufgebot der Polizei verfolgt. Durch einen raffiniert ausgetüftelten Bankraub in den er die ganze ihm wohlgesinnte Bevölkerung einer Kleinstadt als Publikum mit einbezieht verschafft er sich das benötigte Geld für seine geplante Auswanderung. Dazu kommt es aber nicht mehr denn die Behörden schicken schließlich eine ganze Hundertschaft Polizisten mit der Eisenbahn in die kleine Stadt wo es dann in bleihaltiger Luft zum Showdown kommt.

Peter Carey hat seine in Briefform angelegte fiktive Autobiografie in einer seinem ungebildeten Helden angemessenen Sprache verfasst um größtmögliche Authentizität vorzutäuschen. Und so finden sich in seinem Text außer den Punkten an den Satzenden weder Kommata noch sonstige Satzzeichen. Was beim Lesen zunächst mal irritierend ist obwohl man sich daran gewöhnen kann diese Rezension mag als Beispiel dafür dienen. Durch eingestreute Zeitungsberichte und schriftliche Eingaben an die Behörden wird der beabsichtigte Realitäts-Effekt noch verstärkt. Ned Kelly wird psychisch als weitgehend emotionsloser Typ dargestellt der außer seiner mit ihm ödipal verbundenen Mutter für die er wirklich alles tut niemanden vorbehaltlos liebt nicht mal seine Frau.

In der Frage ob Ned Kelly ein verabscheuungswürdiger skrupelloser Verbrecher ist oder eine Art selbstloser Freiheitskämpfer für die unterdrückte irische Minderheit nimmt der Autor deutlich die Position seines Ich-Erzählers ein. Er relativiert dessen Taten als moralisch vertretbar als eine durch den Unrechts-Staat selbst heraufbeschworene politische Revolution der sich ja auch viele Gleichgesinnte angeschlossen hätten er stilisiert ihn damit quasi als Opfer. Der mit seinem abenteuerlichen Geschehen an Western erinnernde Roman ist unterhaltsam und historisch bereichernd auch wenn er zuweilen satirisch überzeichnet scheint. Man könnte zum Beispiel die eisernen Rüstungen der Bande beim letzten Gefecht so deuten wird im Internet aber eines Besseren belehrt. Neds von Kugeln zerbeulter Schutzpanzer kann tatsächlich als Kultgegenstand in einem Gefängnis-Museum besichtigt werden.

Bewertung vom 26.11.2021
Erbin des verlorenen Landes (eBook, ePUB)
Desai, Kiran

Erbin des verlorenen Landes (eBook, ePUB)


weniger gut

Postkoloniale Lethargie

Mit ihrem zweiten Roman «Erbin des verlorenen Landes» gewann die indischstämmige Schriftstellerin Kiran Desai 2006 den britischen Booker Prize. Darin zeichnet sie ein nüchternes, deprimierendes Bild der indischen Gesellschaft, wovon schon der Buchtitel kündet. Die nach China zweitgrößte Nation der Welt wird im Umbruch zwischen archaischen Traditionen, nachwirkendem Kolonialismus und überfordernder Globalisierung am Beispiel von Menschen aus den unteren sozialen Schichten beschrieben.

Zeitlich ist dieser resignative Roman Mitte der 1980er Jahre angesiedelt, Handlungsort ist Kalimpong, eine kleine Stadt im Distrikt Darjeeling des Bundesstaates Westbengalen. Historischer Hintergrund ist der Aufstand der Gurkhas, und es beginnt denn auch gleich dramatisch mit einem Überfall der Rebellen auf einen pensionierten Richter, der mit seinem Koch in ärmlichsten Verhältnissen in einem abgelegenen, verfallenen Haus lebt. Die magere Beute der jungen Aufständischen aus Nepal sind drei uralte, nicht mehr brauchbare Gewehre, ansonsten ist dort nichts zu holen für sie. Der wortkarge, desillusionierte Jurist hatte in Cambridge studiert, heute spielt er Schach mit sich selbst und lebt völlig zurückgezogen. Er hat seine 17jährige Enkelin Sai bei sich aufgenommen, die als Waise eine strenge christliche Klosterschule mit grotesken Erziehungsmethoden besucht hatte. Darunter hat sie sehr gelitten und sich beim Großvater dann wieder in ein naives Naturkind zurückverwandelt, das sich als «Erbin des verlorenen Landes» fühlt. Um sie in Mathematik und den Naturwissenschaften weiterzubilden, engagiert der Richter den Hauslehrer Gyan. Prompt verliebt sich die pubertierende Sai in den schüchternen jungen Mann. Doch aus all ihren Blütenträumen wird nichts, denn Gyan schließt sich den Aufständischen an, deren Ziele er für legitim hält. In einer zweiten, in New York angesiedelten Handlungsebene wird alternierend vom Sohn des Kochs berichtet, der sich als illegaler Migrant mit ständig wechselnden Gelegenheitsjobs durchschlagen muss. In den Briefen an den Vater schreibt er von seinem Glück in der Neuen Welt und gaukelt dem alten Mann Erfolge vor, lebt in Wahrheit aber im unsäglich primitiven Milieu der Tellerwäscher, ohne jede Chance auf Besserung.

Dieses kunstvoll komponierte Panorama eines Indiens der trügerischen Idylle erzählt von naiven Illusionen, die zu desillusionierenden Irritationen seiner Protagonisten führen. In einer derart veränderten Welt können sie sich nicht mehr zurechtfinden. Sie trauern einer Vergangenheit nach, in der die grandiose Natur und die vitalen Lebensansprüche der in ihr lebenden Menschen harmonisch in Einklang zu sein schienen. Diese Ursprünglichkeit ist verloren gegangen, und die heraufziehenden Veränderungen verheißen nichts Gutes für die kleinen Leute, sie fühlen sich politisch und ökonomisch abgehängt, für sie ist die Welt aus den Fugen geraten. Entstanden ist dieser Frust nach dem Abzug der Briten, dessen befreiende Wirkung nicht zu mehr Würde für die untersten Schichten geführt hat, der sie vor allem aber auch nicht aus ihrem Elend befreit hat.

Der postkolonialistische Roman entwickelt sich fragmentarisch aus vielen, rasch wechselnden, kurzen Szenen, wobei das Augenmerk der auktorial erzählenden Autorin weniger auf ihren Protagonisten ruht, deren Lebenslinien sie miteinander verknüpft, als auf der exotischen Szenerie, in der sie sich durchs Leben schlagen müssen. Dieses Kaleidoskop lebensbunter Bilder überdeckt allerdings das bedauerliche Fehlen einer politischen Würdigung der geschilderten Begebenheiten sowohl in Indien wie auch in den USA. Es wird unterstellt, dass alles schicksalhaft miteinander verbunden und historisch vorbestimmt sei, was dann auch die Lethargie der als selbstgenügsam dargestellten Bevölkerung erklären soll. Störend sind aber vor allem die vielen Klischees, die hier bedient werden, wobei deren überreichlich vorhandenes Ekelpotential das Lesen alles andere als erfreulich m

Bewertung vom 23.11.2021
Der weiße Tiger
Adiga, Aravind

Der weiße Tiger


sehr gut

Moralisch absurder Schelmenroman

Mit seinem sozialkritischen Schelmenroman hat der indische Schriftsteller Aravind Adiga ein provozierendes Debüt geschrieben, das 2008 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, nachdem es in Indien bereits lange vorher schon ein Riesenerfolg war. Ganz offensichtlich hatte der Autor damit in seiner Heimat einen Nerv getroffen. Er wurde aber auch massiv als Nestbeschmutzer kritisiert: «Ich wusste, dass es Kritik geben würde» hat er im Interview erklärt. «Ich habe damit gerechnet. Wäre sie ausgeblieben, hätte ich sicher etwas falsch gemacht. Stellen Sie sich ein Buch vor, das 1938 in Deutschland Lob von allen Seiten bekommen hätte. Da könnte man auch sicher sein, dass etwas daran nicht stimmen kann». Sein Roman sei «auch eine Reaktion auf die Bollywood-Kultur des indischen Films und der indischen Literatur, die die Armut vollkommen ausblendet».

Held dieser satirisch überhöhten Geschichte aus dem sozialen Untergrund ist der junge Balram, Sohn eines Rikschafahrers und der klügste Junge in Laxmangarh. Als Ich-Erzähler berichtet er dem chinesischen Ministerpräsidenten, der in Kürze die Stadt besuchen wird, in Briefform sieben Nächte lang, - Scheherazade lässt grüßen, von seinem Aufstieg, der in Indien ebenso selten sei wie ein weißer Tiger im Dschungel. Er gehört zu den wenigen Underdogs, denen ein solcher sozialer Aufstieg gelingt in diesem von einer allgegenwärtigen Korruption gebeutelten Land. Neben dem Glück, das auch dazugehört, ist es sein unbedingter Erfolgswille, der ihm den wundersamen Weg nach oben ebnet, er bezeichnet sich deshalb selbst als «Der weiße Tiger». Durch Zufall erhält er beim Sohn eines der drei lokalen Großgrundbesitzer einen Job als Chauffeur und kommt mit ihm nach Delhi. Damit gehört er zur privilegierten Dienerschaft seines zwielichtigen Herrn, der seinen immensen Reichtum mit illegalem Kohleabbau verdient, für den üppige Schmiergeld-Zahlungen fällig werden. Ebenso korrupt sind die Steuerbehörden, die ihre hohen Einkommensteuer-Forderungen gegen reichlich Bargeld auf erträgliche Höhen reduzieren. Mit Schmiergeld lässt sich sogar ein tödlicher Autounfall mit Fahrerflucht aus der Welt schaffen, den die Ehefrau seines Arbeitgebers verursacht hat. Sie überfährt in Delhi nachts im Suff ein Kind auf dem Fahrrad. Balram muss ein Schuld-Anerkenntnis unterschreiben, das dann aber gar nicht benötigt wird. Denn Schmiergeld hilft natürlich auch hier aus der Klemme, die Polizei spricht von mangelhafter Beleuchtung des Rades und stellt die Ermittlungen ein. Um der ewigen Armutsfalle zu entgehen, beschließt Balham eines Tages, seinen Herrn auf einer der Schmiergeld-Fahrten zu töten und mit dem für seine Verhältnisse immensen Geldbetrag unterzutauchen, um sich selbstständig zu machen. Er gründet in Bangalore einen schon bald florierenden Taxidienst für die nächtlich arbeitenden Angestellten in den Callcentern von großen US-Unternehmen.

Diese bitterböse Geschichte ist zutiefst unmoralisch, vermittelt sie doch die fragwürdige Botschaft, der Weg aus dem Elend kann nur durch Gewalt gelingen. Adiga reduziert das Kastensystem auf die sich unversöhnlich gegenüber stehenden Gegensätze einer Bevölkerung zwischen Oben und Unten, Licht und Finsternis. In vielen Szenen wird detailfreudig ein Panorama Indiens gezeichnet, dass mit verstörenden Bildern das unsägliche Elend schildert. Daran ändern auch alle politischen Reformen nichts, die Wähler seien «wie Eunuchen, die über das Kamasutra streiten», heißt es im Roman. Kein Wunder, dass Balram Chinas politisches System für das bessere hält.

Satirisch überzeichnet, aber mit viel schwarzem Humor angereichert, wird hier sarkastisch knapp aus der sozialen Frosch-Perspektive über das von der Bevölkerung her zweitgrößte Volk der Welt berichtet. Dabei steht der Hühnerkäfig als Metapher für die Duldsamkeit des indischen Volkes. Zweifellos ein wichtiges Buch, das auf amüsante Art den Horizont weitet und das Genre Schelmenroman moralisch ad absurdum führ

Bewertung vom 19.11.2021
Der blinde Mörder
Atwood, Margaret

Der blinde Mörder


gut

Ambivalente Familiensaga

Die im englischsprachigen Raum vielfach geehrte, kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood hat für den Roman «Der blinde Mörder» im Jahre 2000 ihren ersten Booker Prize erhalten. Im Jahre 2019 erhielt sie dann ihren zweiten, sie gehört damit zu den vier Autoren, die ihn zweimal verliehen bekamen. Obwohl also hochgeehrt im englischen Sprachraum, ist die Rezeption im deutschen eher verhalten, insbesondere das Feuilleton zeigt sich hier skeptisch. Warum eigentlich?

Wie immer bei Atwood stehen in dieser drei Generationen umfassenden Geschichte die Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft im Mittelpunkt. In Rückblenden erzählt die 84jährige Iris als Ich-Erzählerin, wie sie und ihre jüngere Schwester Laura in den 1930er Jahren als wohlbehütete Töchter eines erfolgreichen Fabrikanten in Ontario aufwachsen. Als in der Depression die Firma an den Rand des Ruins gerät, heiratet Iris auf Druck des Vaters den neureichen Geschäftsmann Richard. Die fünfzehnjährige, als schwierig geltende Laura hat derweil eine heimliche Affäre mit Alex, einem gesuchten kommunistischen Aktivisten, dem eine Brandstiftung angelastet wird. Aber auch Iris verfällt ihm sexuell. Er lebt im Untergrund und zieht später mit einer kanadischen Brigade in den Krieg. Gegen Kriegsende fällt er, und als Laura erfährt, dass er auch mit Iris ein Verhältnis hatte, bringt sie sich um. Die schon einige Zeit getrennt von ihrem Mann lebende Iris entdeckt ein skandalträchtiges Roman-Manuskript von Laura mit dem Titel «Der blinde Mörder». Darin wird auktorial und mit namenlosen Figuren sehr freimütig von ihrer skandalösen Affäre erzählt, die hier als zweite Erzählebene eingeflochten ist. Nicht genug damit, ist in dieser Binnen-Geschichte eine weitere enthalten, in der Alex nach dem Sex der Geliebten Teile seiner dystopischen Story erzählt, mit Frauen in einer grotesk untergeordneten Sklavenrolle, er hält sich damit finanziell über Wasser. Ergänzend werden für die politischen Hintergründe und gesellschaftlichen Ereignisse immer wieder fiktive Zeitungs-Meldungen eingefügt, die dem Erzählten einen authentischen Touch verleihen. Das Ganze ist das handgeschriebene Manuskript von Iris, die 1999 stirbt. Sie wendet sich damit direkt an ihre in der Welt herumgeisternde Enkelin, um ihr all ihre Erinnerungen nun eben in Schriftform zu hinterlassen, wenn sie ihr schon nicht persönlich davon erzählen kann.

Mit ihrer kunstvoll verschachtelten Erzähl-Struktur breitet die Autorin in diesem Roman das üppige Panorama einer tragischen Familien-Geschichte vor dem Leser aus, angereichert mit einem interessanten sozialen und historischen Hintergrund. Gleichzeitig ist diese Saga vom allmählichen Niedergang einer einst stolzen, reichen und glücklichen Familie auch ein opulentes Sittenbild des zwanzigsten Jahrhunderts, das motivisch unwillkürlich an Thomas Mann erinnert. Der Roman ist überfrachtet mit Nebensächlichem, man weiß als Leser genau, dass die Zigaretten in einer silbernen Schatulle im Wohnzimmer verwahrt werden, weil man es gefühlt hundert Mal gelesen hat. Für männliche Leser fast unerträglich sind die ausufernden Schilderungen der Garderobe aller weiblichen Figuren, ihr Seelenleben wird hingegen sträflich vernachlässigt. Besonders die Ich-Erzählerin Iris bleibt als Mensch farblos, eine blutleere Figur ohne nennenswerte Entwicklung, und das über Jahrzehnte hinweg.

Beeindruckend jedoch ist die funkelnde Sprache, in der hier erzählt wird, angereichert mit stimmigen Metaphern und wunderbar schwarzem Humor, der besonders in der Rahmen-Geschichte der betagten Iris mit sarkastischen Anmerkungen überzeugt. Die für klare Worte bekannte Autorin spart auch nicht mit harscher gesellschaftlicher Kritik, so wenn sie zum Beispiel vom protzigen abstrakten Gemälde eines Neureichen spricht, «zusammengesetzt aus kostspieligen bunten Klecksen». Da verzeiht man dieser ambivalenten, aber auch unterhaltsamen Familiensaga dann gern ihre unübersehbaren, kleinen Schwächen.

Bewertung vom 14.11.2021
Der Friedhof der vergessenen Bücher
Ruiz Zafón, Carlos

Der Friedhof der vergessenen Bücher


gut

Ein Buch wie eine Kathedrale

Der Ruhm des spanischen Schriftstellers Carlos Ruiz Zafon gründet sich auf den ersten Band einer Tetralogie, deren geheimnisvoller Ort «Der Friedhof der vergessenen Bücher» ist, zu dem unter gleichem Namen mit dem vorliegenden Erzählband nun posthum eine Ergänzung erschienen ist. Es handelt sich um «eine tief unter Barcelona verborgene Bibliothek, in der die Bücher darauf warten, ihre Seele an ihren Leser weiterzugeben». Die vier Romane bilden einen breitgefächerten Erzählkosmos, in dem die Bücher selbst sich ihre Leser suchen, nicht umgekehrt. Mit dem vorliegenden Band weiterführender, ergänzender Geschichten sollte dieser labyrinthische Kosmos nach dem Willen des früh verstorbenen Autors weiter wachsen.

Mit Abstand erfolgreichster Roman war der unter dem Titel «Der Schatten des Windes» erschienene, erste Teil der Tetralogie, der in 36 Sprachen übersetzt mehr als 15 Millionen Mal verkauft wurde. Einige von dessen Figuren, aber auch von den drei Folge-Romanen, finden sich hier ebenso wieder wie viele Themen und Motive der Tetralogie. Mit sieben bisher unveröffentlichten der insgesamt elf Erzählungen stellen sie ein letztes Geschenk des Autors an seine treuen Leser dar. Carlos Ruiz Zafon hat dazu erklärt: «Für mich ist der Friedhof der vergessenen Bücher so etwas wie die Verkörperung der Erinnerung, der Identität. Das geht weit über Bücher oder Literatur oder geistige Welten hinaus».

In «Blanca und der Abschied» geht es um die Liebe des angehenden Dichters David Martin , in «Namenlos» erfahren wir von dessen tragischer Geburt, die dritte Geschichte handelt von einem selbstlosen Arzt, dem es übel ergeht, und in der nächsten erzählt David Martin seinen Mitgefangenen «eine Geschichte von Büchern, Drachen und Rosen». Eine längere Erzählung handelt vom Fürst des Parnass, es folgt «Eine Weihnachts-Geschichte», wir sehen «Alicia im Morgengrauen» und erleben «Graue Männer» als Auftragskiller. Nach einer Liebesaffäre in «Die Frau aus Dunst» folgt mit «Gaudi in Manhattan» eine Hommage auf den berühmten Architekten. «Ist dir mal aufgefallen, dass die Leute immer mehr verblöden, je intelligenter die Handys werden?» fragt eine Rothaarige in Manhattan den Ich-Erzähler der kurzen, letzten Geschichte mit dem Titel «Apokalypse in zwei Minuten». Das Ende sei gekommen, aber da er «nie im Finanzsektor gearbeitet habe», gestehe sie ihm drei Wünsche zu. «Ich will wissen, was der Sinn des Lebens ist. Ich will wissen, wo es das beste Schokoladen-Eis der Welt gibt. Und ich will mich verlieben». «Die Antwort auf die beiden ersten Wünsche ist dieselbe», sagt die Rothaarige, und der Erzähler ergänzt: «Was den dritten Wunsch betraf, gab sie mir einen Kuss».

Barcelona bildet den örtlichen Ausgangspunkt fast aller Geschichten von Zafon, die er mit gedrechselten Worten in vergilbten Bildern beschreibt. Da ist von engen, labyrinthischen Gassen die Rede, von düsteren Fassaden, die in Nebelschwaden verschwinden. Fast immer fällt auch Schnee in seinen Beschreibungen, so als ob wir in Moskau sind und nicht in einer Stadt mit Mittelmeerklima, Licht und Sonnenschein passen nicht zur düsteren Welt Zafons. Ein immer wiederkehrendes Motiv sind bei ihm auch die Bücher, und meist ist ein satanischer Verleger namens Corelli in das Geschehen verwickelt, ihn mag der Autor, wie er erklärt hat, ganz besonders. Es ist diese unheimliche, geisterhafte Atmosphäre, die sein Markenzeichen darstellt und seine phantastische Erzählbühne stimmungsmäßig grundiert. Dabei gerät er mitunter deutlich in die Gefilde der Trivial-Literatur, was er durch einen Vergleich zu relativieren sucht: «Ein Roman sollte wie eine gotische Kathedrale sein, bestehend aus Worten und Geschichten und Figuren: Man geht hinein und man denkt nicht über die Mathematik oder Physik des Bauwerks nach». Und tatsächlich erzeugt er einen publikums-wirksamen Lesesog, der dafür sorgen dürfte, dass seine Bücher wohl nie auf dem «Friedhof der vergessenen Bücher» landen werden.