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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 04.06.2022
Eine andere Epoche
Ziegler, Ulf Erdmann

Eine andere Epoche


gut

Rädchen im Getriebe

Man ist unwillkürlich an Koeppens «Treibhaus» erinnert bei dem neuen Roman von Ulf Erdmann Ziegler, der unter dem Titel «Eine andere Epoche» vom Parlamentarismus in Deutschland erzählt. Hier geht es um weniger dramatische Ereignisse als 1953, wo in Bonn die Wiederbewaffnung zur Abstimmung anstand. Handlungsort ist nun natürlich Berlin, Handlungszeit sind die Jahre 2011 bis 2014, die SPD befand sich damals in der Opposition. Eine parteinahe Politikberaterin konstatierte lapidar: «Dass die SPD überhaupt einen Kanzler-Kandidaten aufstelle, zeuge von Wunderglauben». Auch wenn viele politische Akteure mit Klarnamen benannt sind, kann man das Buch durchaus als Schlüsselroman lesen.

Wegman Frost ist Büroleiter des SPD-Bundestags-Abgeordneten Andi Nair, der schon viermal das Direktmandat für seinen Wahlkreis nahe Hannover gewonnen hat, sein alter Freund aus Jugendtagen. Zu der damaligen Clique gehörte auch Flo Jansen, der einst als Kind aus Saigon gerettet wurde, nach dem Studium bei der FDP gelandet ist und nun als Wirtschaftsminister und Vizekanzler am Kabinettstisch sitzt. Erzählt wird aus der Perspektive Wegmans, der sich scherzhaft als ‹Indianer› bezeichnet, weil er aus einer Reservation in Idaho stamme, er wurde aber in Deutschland bei Pflegeeltern aufgezogen. Die Drei haben sich in Schaumburg-Lippe kennengelernt, nahe von Gerhard Schröders Geburtsort.

In der politischen Chronik jener Jahre gibt es einige markante Ereignisse, die der Autor strikt aus dem Blickwinkel seiner Figuren heraus schildert. Da ist vor allem der Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff, den die gegen ihn gerichtete Medien-Kampagne zur Aufgabe des Amtes bewogen hat. Später wurde er jedoch wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme vor Gericht freigesprochen. Ein großes Thema jener Jahre war auch die NSU-Affäre, die in einem Untersuchungs-Ausschuss unter dem Vorsitz von Andi Nair natürlich nicht aufgeklärt werden konnte. Alle Zeugen aus den Reihen von Polizei und Staatsschutz haben ‹gemauert›, um ihr eigenes Unvermögen und ihre hanebüchenen Fehler zu vertuschen. Ein Kollege aus der SPD Bundestags-Fraktion gerät wegen Besitz von Crystal Meth in die Schlagzeilen, und ganz zum Schluss verlässt einer der Protagonisten wegen offensichtlich berechtigter, schwerer Vorwürfe fluchtartig den Reichstag.

Kennzeichnend für Zieglers Erzählweise ist, dass er gerade den karriere- und bedeutungsmäßig am wenigsten hervorstechenden Wegman Frost in den Mittelpunkt stellt. Er ist Angestellter seines Freundes Andi Nair und arbeitet ihm zu, schreibt Reden für ihn und hält ihn auf dem Laufenden über die politische Stimmungslage hinter den Kulissen. Auch privat ist er eher eine unscheinbare Figur ohne Charisma, ein Wunder geradezu, dass sich die toughe Immobilien-Maklerin Marion mit ihm einlässt, ihn sogar bald schon in ihre noble Wohnung einziehen lässt. Deren altkluge Tochter Elli, in der man Uwe Johnsons Marie Cresspahl zu erkennen glaubt, versteht sich von Anfang an sehr gut mit Wegman und verwickelt ihn wissbegierig in manchmal allerdings gar zu tiefsinnig erscheinende Debatten zu Themen jenseits der Politik. Auffallen ist, dass Marion und auch ihre elfjährige Tochter als Charaktere ziemlich blass bleiben. Was übrigens auch für alle anderen, fast durchweg politischen Akteure gilt, deren Privatleben weitgehend ausgeklammert ist. Einzig Wegmans häufige Tagträume enthalten für ihn produktive Aspekte über die Tretmühle des politischen Alltags hinaus. Der Autor schreibt in einer angenehm lesbaren, klaren Sprache aus Sicht seines Helden, wobei er sich aber jeder moralischen Wertung enthält. Wegman Frost agiert als kleines Rädchen im Getriebe der großen Politik, er ist lediglich ein auf kleinste Details achtender Berichterstatter mit einem untrüglichem Sinn für politische Stimmungen. Und dass er sich am Ende sogar vornimmt, jetzt unbedingt mal Hannah Arendts Werk «Über die Revolution» zu lesen, ist fast schon ein revolutionärer Akt für ihn.

Bewertung vom 01.06.2022
Zebra im Krieg
Vertlib, Vladimir

Zebra im Krieg


weniger gut

Der Pisser

Mit dem Zusatz «Nach einer wahren Begebenheit» hat der österreichische Schriftsteller Vladimir Vertlib für seinen neuen Roman «Zebra im Krieg» auf einen realen Bezug hingewiesen. Durch die offizielle Bagatellisierung der aggressiven Kämpfe im Roman als «erweiterte Polizeiaktion gegen Terroristen» wird überdeutlich auch auf den Ukrainekonflikt verwiesen. Es geht in diesem Roman um politischen Totalitarismus, dem heute mit seiner digitalen Variante im Internet eine nicht minder gefährliche, mediale Spielart als weiteres Lügenbabel zur Seite steht.

In einem quasi rechtsfreien Raum toben sich Hassprediger aller Couleur aus, so auch der arbeitslose Flugzeug-Ingenieur Paul Sarianidis. Der weiß mit seiner vielen Freizeit nichts Besseres anzufangen, als sich in einschlägigen Internet-Foren herumzutreiben und als Blogger seine Meinung in die Welt hinaus zu posten. In seiner nicht benannten balkanischen Hafenstadt tobt ein Bürgerkrieg, die multiethnische Einwohnerschaft sitzt in der Falle, man kann die umzingelte Stadt nicht mehr verlassen, die Rebellen haben sie vorübergehend in ihre Gewalt gebracht. Und ausgerechnet gegen den charismatischen Führer dieser Aufständischen hat Paul einen Hass-Kommentar geschrieben, in dem er ihn auf das Übelste beschimpft. Prompt stehen plötzlich Milizionäre vor der Tür des Mitte-Dreißigjährigen, die ihn zum Verhör mitnehmen. Dort trifft er auf sein verbales Opfer, den Rebellenführer Boris Lupowitsch, der ihn nun seinerseits beschimpft und derart bedroht, dass Paul sich vor Angst in die Hosen macht. All das wird mit zwei Kameras akribisch gefilmt und anschließend ins Netz gestellt. Paul erntet Hohn, Spott und eine traurige Berühmtheit als «Der Pisser». Dieses Begebnis ist nach Aussage des Autors übrigens authentisch. Der mit einer Ärztin verheiratete, mit Tochter und der eigenen Mutter zusammenlebende Paul wird nun auch zu Hause gescholten. Er hat die ganze Familie blamiert, was ihm besonders seine über alles geliebte, zwölfjährige Tochter Lena sehr übel nimmt.

Dieser dystopische Roman ist als Persiflage auf die Vorgänge in der Ost-Ukraine angelegt. Das Augenmerk des Autors liegt allerdings nicht auf dem politischen Machtpoker, sondern auf den dämonischen Kräften in den Köpfen der Bevölkerung, die sich im Internet eine Bühne suchen, um dort ihre vorgefassten Meinungen weiter anzuheizen, statt an einem Konsens mitzuwirken, um die Gegensätze zum Wohle aller zu überwinden. Als stadtbekannte Figur wird «Der Pisser» bei einem seiner ruhelosen Streifzüge durch die zerschossenen Straßen von einem grölenden Mob, zusammen mit der Intendantin des Theaters, symbolisch in einer vor Deck starrenden Bio-Mülltonne ‹entsorgt›. Pauls Versuche, sich mit Hilfe zweier PR-Spezialsten von seinem peinlichen Image zu befreien, scheitern kläglich, er wird nur finanziell ausgenommen von ihnen. «Ich will einmal im Leben das Richtige tun», beschießt der Antiheld und kümmert sich fortan um die alten jüdischen Hausnachbarn, die abgeholt worden sind. Es gelingt ihm tatsächlich, das Paar frei zu bekommen. Sie vertrauen ihm daraufhin ihren bescheidenen Schatz an, neben persönlichen Erinnerungsstücken vor allem 3000 Dollar, die er nach ihrem Tod der in den USA lebenden Tochter zukommen lassen soll, ehe sie der korrupte Staat kassiert.

Pauls multikulturelle Heimatstadt, ein Schmelztiegel aus griechischen, ukrainischen und koptischen Vorfahren sowie Russen, Armeniern, Türken, Juden und anderen Ethnien mehr, hat seinen Status als kosmopolitischer Sehnsuchtsort längst verloren. Nachdem in den Kämpfen auch der Zoo zerstört wurde, laufen plötzlich exotische Tiere durch die Stadt, so das titelgebende Zebra als Symbol für Friedfertigkeit. Die vom Autor als geharnischte Kritik an der Enthemmung in den sozialen Medien samt ihren Folgen angelegte Geschichte bleibt in der Form leider fragwürdig. Sie ist weder als Satire noch als Gesellschaftskritik wirklich überzeugend und wirkt in ihrer Slapstickartigkeit oft einfach nur albe

Bewertung vom 29.05.2022
Der Silberfuchs meiner Mutter
Hotschnig, Alois

Der Silberfuchs meiner Mutter


weniger gut

Wahrheit gibt es ja sowieso nicht

In seinem neuen Roman «Der Silberfuchs meiner Mutter» erzählt der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig eine berührende Geschichte. «Dieses Buch gäbe es nicht ohne die Begegnung mit dem Schauspieler Heinz Fitz, der es mir erlaubt hat, entlang seiner Lebensgeschichte diesen Roman frei zu entwickeln», erklärt er in seiner Danksagung. Ich-Erzähler des Romans ist, wenig originell, Heinz Fritz, ebenfalls Schauspieler, der erst als Sechzigjähriger seinen richtigen Vater kennengelernt hat und zeitlebens auf den äußerst dürftigen Spuren seiner Herkunft das Schicksal seiner Mutter Gerda aufzuklären sucht.

Der einzige konkrete Beleg ist ein Dokument der Lebensborn-Organisation der SS, die in ihrem Arierwahn seine norwegische Mutter mit ihrem Sohn über Oslo, Kopenhagen, Berlin, München nach Hohenems in Vorarlberg geschickt hat, zur Familie seines Vaters. Der war Anfang 1942 als Obergefreiter verwundet nach Kirkenes im Norden Norwegens gekommen, sie war Krankenschwester dort und hatte sich mit dem Feind eingelassen. Das äußere Symbol ihrer Verbundenheit war der Silberfuchs, den Anton ihr dort geschenkt hat. Als sie dann schwanger wurde, hat ein Teil ihrer Familie sie als «Nazi-Hure» brüsk verstoßen. Aber auch in Hohenems ging es ihr nicht besser, die schöne Frau wurde von der österreichischen Familie ihres Geliebten als «Norweger-Hure» zunehmend abgelehnt, teils spielten allerdings auch religiöse Gründe eine Rolle dabei. Und sogar der leibliche Vater distanzierte sich plötzlich von ihr. Das Kind sei nicht von ihm, behauptete er, sondern von einem Russen, der ertrunken sei. Sie musste sich also allein durchschlagen, ein Zurück nach Norwegen gab es für sie als Kollaborateurin nun nicht mehr. Ende 1942 kam dann Heinz zu Welt, aus gesundheitlichen Gründen brachte sie ihn bei einem Bauern unter und sah ihn erst 4 Jahre später wieder. Als seine Mutter wieder heiratet, leidet Heinz sehr unter dem übergriffigen, sadistischen Stiefvater. Seinen leiblichen Vater aber hat er nur zweimal im Leben kurz gesehen, er hat jeden Kontakt abgelehnt.

Dieser Roman ist der breit angelegt Versuch des Ich-Erzählers, aus den offensichtlichen Lügen, ungeheuren Begebenheiten und aus den allerkleinsten Erinnerungs-Fetzen seine eigene Biografie zu rekonstruieren. Nicht nur seine Mutter, auch er selbst kommt in seelische Abgründe, begeht sogar unbeholfene Suizid-Versuche. Gleichwohl verbinden sie die Bücher, die Mutter liest ihm aus «Peer Gynt» vor, später auch aus «Andorra», und weckt damit sein Interesse an Literatur. Begeistert spielen sie einzelne Szenen nach, womit der berufliche Lebensweg von Heinz bereits vorgezeichnet ist. Er strebt eine Laufbahn als Schauspieler an und bereitet sich mit Hilfe seiner diversen Brot- und Butter-Jobs auf die Schauspiel-Schule vor.

«Bis ich mit sechzig Jahren, erst mit sechzig meinen richtigen Vater kennengelernt habe, diesen Anton Halbsleben in Hohenems, durch einen Theaterportier, der auch aus Hohenems war.» Unbekümmert um Grammatik verwendet Alois Hotschnig schon im ersten Satz eine holperige, häufig stockende, monologische Sprache. Die ist dazu angetan, dem Denken seines wurzellosen Helden einen Möglichkeits-Raum zu schaffen, um moralische und ethische Grenzen zu überwinden. «Wen lässt der Autor sprechen und wie» ist für Hotschnig die entscheidende stilistische Frage. In diesem düsteren und beklemmenden Psychogram geht es um die verzweifelte Suche eines zutiefst zerrissenen Menschen nach Liebe. Das Einzige übrigens, was zählt, denn Wahrheit gibt es ja sowieso nicht. Prompt wird das dann bestätigt, wenn ganz am Ende mit dem plötzlichen Auftauchen von Briefen der Mutter einige der bisherigen Gewissheiten ins Wanken kommen. Neben dem sperrigen Stil stören auch die seltsam blutleer bleibenden Figuren bei der Lektüre, was übrigens auch für beide Protagonisten gilt, vor allem aber ist ein nur rudimentäres Handlungsgerüst das größte Manko für den enttäuschten Leser.

Bewertung vom 21.05.2022
Die Geschichte von der 1002 Nacht
Roth, Joseph

Die Geschichte von der 1002 Nacht


gut

Ein verhängnisvoller Besuch

Mit seinem 1939 posthum erschienenen Roman «Die Geschichte der 1002. Nacht» hat Joseph Roth der morgenländischen Sammlung von Erzählungen eine ironische Ergänzung hinzugefügt. Das Buch wurde von Peter Beauvais 1969 für das Fernsehen verfilmt und gehört heute zu den zahlreichen Klassikern aus der Feder des österreichischen Autors, der für seinen vom Journalismus geprägten Erzählstil bekannt ist.

Mit großem Gefolge reist der Schah von Persien nach Wien, besucht also ein aus seiner Sicht exotisches Land. Auf einem zu seinen Ehren veranstalteten Ball entdeckt er unter den illustren Gästen eine wunderschöne blonde Frau. Der über einen Harem von 365 Frauen verfügende Potentat gibt seinem Großwesir den Auftrag, ihm diese Schönheit noch heute Nacht zuzuführen. Gräfin W. ist eine verheiratete Dame, die von allen Männern verehrt wird. Undenkbar für den entsetzten Polizeipräsidenten, an den sich der Großwesir gewandt hat, der Dame ernsthaft einen solchen Wunsch vortragen zu lassen. Stattdessen wendet er sich ratsuchend an Baron Taittinger, ein zur besonderen Verwendung bei Hofe abgestellter Rittmeister. Dem gelingt es zunächst, Graf und Gräfin W. zum sofortigen Verlassen des Balls zu bewegen. Eine ehemalige Geliebte von ihm hat eine frappante Ähnlichkeit mit der Gräfin, sie könnte deren Zwillings-Schwester sein. Die einfältige Mizzi arbeitet im Kurzwarengeschäft ihres Vaters und gelegentlich auch noch in einem anrüchigen Etablissement, also die Idealbesetzung für das von Taittinger vorgeschlagene Täuschungs-Manöver. Der Polizeipräsident ist begeistert, kümmert sich um alles weitere, und der Schah ist nach der ersehnten Liebesnacht so zufrieden, dass er seiner blonden Bettgefährtin eine sündhaft teure Perlenkette als Geschenk zukommen lässt, sie ist über Nacht eine reiche Frau.

Damit nimmt das Unglück seinen Lauf. In einer gekonnt angelegten, turbulenten Handlung beschreibt Joseph Roth das Unheil, welches sowohl bei Mizzi als später auch bei Taittinger, von dem sie ein missratenes Kind hat, und bei vielen weiteren Figuren durch dieses monströse Geschenk ausgelöst wurde. Ein mieser Schreiberling der Zeitung versucht aus der peinlichen Geschichte Profit herauszuschlagen, ein Betrüger schmeichelt sich bei Mizzi ein und wird nicht nur ihr Liebhaber, sondern auch ihr Geschäftspartner. Er verkauft in ihrem Laden gefälschte Brüsseler Spitzen, überredet auch Mizzis geldgierige Bordellmutter, sich finanziell zu beteiligen und plündert die kleine Firma planmäßig aus. Als schließlich alles auffliegt, landet auch Mizzi im Gefängnis. Und sogar auf Taittiger fallen die Schatten der Affäre zurück, er muss den Dienst quittieren. Leichtsinnig wie er ist, hat er zudem sein Gut sträflich vernachlässigt, ist überschuldet und findet sich auch im Privatleben nicht mehr zurecht. Als er sich Jahre später für eine Rückkehr in den Dienst bewirbt, wird bekannt, dass der Schah einen weiteren Besuch in Österreich plant, die deshalb hervorgeholten, alten Akten werden ihm nun erneut zum Verhängnis.

Die Ende des 19ten Jahrhunderts angesiedelte Geschichte ist eine ironische Gesellschafts-Studie der k. u. k-Monarchie mit ihrer Doppelmoral. Geld allein macht nicht glücklich, ist die Devise von Joseph Roths letztem Roman. Als großer Moralist seziert er die Verstrickungen der damaligen Gesellschaft und ihre typischen Verhaltensmuster, wobei seine Ironie nicht ins Amüsante abgleitet, sondern eher melancholisch die bedauernswerten Zustände beleuchtet. Die berechtigte Frage manch männlichen Lesers, was den Schah so an den Frauen seiner Gastgeber gereizt habe, wird im Roman sehr einleuchtend beantwortet: «Jede einzelne war lockender als ein ganzer Harem, angefüllt mit 365 rätsellosen, geheimnislosen, gleichgültigen Leibern. […] Welch vertrackte Raffiniertheit, die Gesichter der Frauen nicht zu verhüllen! […] Jede einzelne ein behüteter Edelstein». Dieses Buch mit dem originellen Titel ist auch heute noch eine lohnende Lektüre!

Bewertung vom 18.05.2022
Der Feuerturm
Florescu, Catalin Dorian

Der Feuerturm


weniger gut

Der Turm schützt uns

Um den neuesten Roman des rumänisch-stämmigen Schriftstellers Catalina Dorian Florescu mit dem Titel «Der Feuerturm» ist es merkwürdig still. Das deutsche Feuilleton hat sich vornehm zurück gehalten, während andere Bücher oft ja eilfertig schon unmittelbar nach ihrem Erscheinen besprochen werden. Erzählt wird hier die Geschichte einer rumänischen Familie über fünf Generationen hinweg, in der die Männer traditionell bei der Feuerwehr sind. Es ist auch ein Gesellschafts-Roman, und ein typischer Stadt-Roman obendrein, eine Hommage an Bukarest.

Der Roman wird eingeleitet mit der Legende von Iane, einem Unglücksboten, der aus dem Wald gelaufen kam und die Stadt vor einem nahenden Unheil warnen wollte. Auch der titelgebende Feuerturm hat eine solche Alarmfunktion, er wurde 1892 fertig gestellt und bietet mit 42 Meter Höhe eine weite Aussicht über Bukarest. Der dort oben diensthabende Feuerwehrmann alarmiert im Brandfall seine Kollegen und gibt ihnen Hinweise auf den genauen Ort des Brandes. «Dieser Turm ist eine Metapher für die Widerstandskraft der Menschen» hat der Autor erklärt. Im Roman fungiert er als Leitmotiv, um ihn rankt sich ein dichtes Geflecht von zeitlich vor und zurück springenden Geschichten und Episoden.

Ich-Erzähler ist der 1932 geborenen Victor Stoica, der froh ist, dass sein älterer Bruder Alex, der unumstößlichen Tradition folgend, Feuerwehrmann wird, er selbst hatte wenig Lust dazu. Lieber studiert er Geschichte. Im Laufe der Zeit wechseln sich, begleitet von heftigen Unruhen, die verschiedenen Regime ab. Als die Kommunisten zunehmend angefeindet werden, finden die Freiheitlichen auch auf der Uni Anhänger, zu denen auch Victor gehört. Prompt wird er als Klassenfeind denunziert, - er ahnt, wer dahinter steckt. Man holt ihn zu Verhör, er durchleidet eine unmenschliche Untersuchungshaft. Beim Prozess stellt sich sein stärkster Belastungs-Zeuge als jemand aus seinem unmittelbaren Umfeld heraus. Homo homini lupus! Denunziant und Zeuge stehen beide natürlich ebenfalls unter dem Druck der Securitate. Als er acht Jahre später entlassen wird, gibt er seine düsteren Rachepläne auf, er sucht nur noch ein ruhiges Plätzchen. Das findet sich bei einem jüdischen Schneider, der ihn einstellt, obwohl er gar nicht schneidern kann, er sucht eigentlich nur einen Gesprächspartner. Erst als der alte Schneider sein Ende nahen spürt, bringt er Victor, im Crashkurs sozusagen, das Schneidern bei, Victor soll das kleine Geschäft fortführen. Dort lernt er dann auch seine spätere Frau kennen, mit der er schließlich ein Kind hat und in einen Plattenbau zieht.

Man hilft sich gegenseitig in diesem Unterschichten-Milieu, da werden auch schon mal verhungernde Kinder von der Straße in die Familie aufgenommen. Das geschilderte Elend ist unsäglich und wird über die Zeiten hinweg im Kommunismus vom geradezu absurden Mangel als neuer Drangsal abgelöst. Bei alldem wirkt die Feuerwehr-Dynastie der Stoicas wie ein Fels in der Brandung, mit dem Turm als Symbol. Wobei die Frauen die dominante Rolle einnehmen, immer gestützt auf eine bedingungslos gläubige Religiosität, man läuft oft mehrmals am Tag in die Kirche und spricht für jeden Wunsch direkt den dafür zuständigen Schutzpatron an. Florescu bildet sehr überzeugend das Leiden unter der ständigen Fremdherrschaft Rumäniens ab, schildert detailreich das bunte Leben in den Gassen, das Gewusel auf den Märkten der Stadt. Was dann aber, durch allzu häufige Wiederholungen überstrapaziert, irgendwann langweilig wird. Neben den wilden Zeitsprüngen erschwert auch eine Überfülle von oft schwer einzuordnenden Figuren das Lesen. Die rumänischen Begriffe und Sätze tun ein Übriges, das schmalbrüstige Glossar hilft da meistens nicht. Was die Spannung anbelangt, nimmt der Roman erst im letzten Drittel etwas an Fahrt auf und lässt einen roten Faden erkennen. «Der Turm schützt uns» heißt es ganz am Ende, als Victor nach seiner aufmüpfigen Tochter sucht in den Wirren des Umbruchs von 1989.

Bewertung vom 11.05.2022
Die weiße Garde
Bulgakow, Michail

Die weiße Garde


gut

Hochaktuell

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine kommt dem Romandebüt «Die weiße Garde» von Michail Bulgakow plötzlich erhöhte Aufmerksamkeit zu, werden darin doch einige der Hintergründe für das aktuelle kriegerische Geschehen beleuchtet. Das 1924 erschienene Buch diente als Vorlage für das Theaterstück «Die Tage der Turbins», womit auch gleich die Protagonisten des autobiografisch inspirierten Romans genannt sind, die drei Geschwister Turbin. Thematisch wird in dieser Geschichte das politische Chaos behandelt, welches die Oktober-Revolution und der Zerfall des Russischen Reiches auf dem Gebiet der Ukraine ausgelöst haben. Es wurde schließlich mit dem Sieg der Roten Armee beendet.

Im Winter des Jahres 1918 herrscht in der Großen Stadt, wie Kiew im Roman immer nur genannt wird, ein Bürgerkrieg mit mehreren Fronten. Dem Marionetten-Regime des von Deutschland gestützten, konservativen russischen Staatsoberhauptes stehen unversöhnlich die revolutionären Bolschewiki gegenüber, eine dritte Kriegspartei bilden die links orientierten, ukrainischen Nationalisten unter Petljura. Nach dem Rückzug der Deutschen flieht der Staatschef und überlässt seine Soldaten einem aussichtslosen Kampf. Der 28jährige Militärarzt Alexej und sein elf Jahre jüngerer Bruder, aufopfernd unterstützt von ihrer Schwester Jelena, geraten in einen wilden Strudel völlig unübersichtlicher Kämpfe mit verschiedenen Fronten. Während manche der russischen Kommandeure sich dem aussichtslosen Kampf stellen, lösen andere resigniert ihre Einheiten auf und schicken die Soldaten nach Hause. Der auf der Flucht schwer verletzte Alexej wird von einer unbekannten Frau gerettet. Während dessen nehmen die siegreichen ukrainischen Nationalisten unter Petljura Kiew ein und richten unter den als russische Offiziere enttarnten Zivilisten, und vor allem auch an den Juden, ein beispielloses Massaker an. Der inzwischen geheilte Alexej schließt sich, als Zivilist unerkannt, den ukrainischen Nationalisten an und wird als Militärarzt eingesetzt. Einer seiner Patienten ist schließlich ein für seine Brutalität besonders berüchtigter Oberst, aus Rache erschießt er ihn und muss erneut flüchten. Zu Hause stellt er fest, dass sein Bruder und auch Schwester Jelena mit ihrem Mann die gemeinsame Wohnung verlassen haben. Die wenigen Überlebenden unter seinen Freunden haben sich der «Weißen Garde» im Donbass angeschlossen. Als Alexej schließlich seine Retterin wiederfindet, marschiert schon die Rote Armee in Kiew ein.

Bei der Lektüre wird deutlich, welch unterschiedliche Vorstellungen in der Bevölkerung herrschten während dieser turbulenten Umbruchzeit. Die Konservativen trauerten dem Zarenreich nach und hätten am liebsten alles so gelassen wie es war, die Bolschewiken wollten stattdessen den Sozialismus verwirklichen. Unversöhnlich standen sich auch die Separatisten mit ihrem Traum vom eigenen Staat und die sich einem russischen Staat zugehörig fühlenden Ukrainer gegenüber. Der Roman wird aus der Perspektive der strikten Gegner all dieser revolutionären Umwälzungen geschildert, er verdeutlicht zudem die Unwägbarkeiten, die den Menschen derart schicksalhafte Entscheidungen schwer machen. Bulgakow lässt die kontroversen Meinungen in Dialogform aufeinander treffen, wobei vieles im Konjunktiv gesagt wird, denn die Nachrichtenlage ist äußerst unzuverlässig, was einen bisher festen Standpunkt schnell erschüttern kann.

Wie der Übersetzer Alexander Nitzberg erklärt hat, erzählt dieser Roman keine Geschichte, «vielmehr entwirft er Räume und Bildsphären». Obwohl er in seinem üppigen Anhang auf 94 Seiten mit hilfreichen Anmerkungen das Verständnis für den Leser erleichtert, bleibt letztendlich doch so manche subtile Anspielung oder sprachliche Besonderheit unentdeckt. Mit einer Syntax voller narrativer Extravaganzen, zu denen die absurde Erzählperspektive gehört, hat Bulgakow sich mit seinem Debüt als Meister des phantastischen Realismus etabliert. Es setzt jedoch geduldige Leser voraus.

Bewertung vom 08.05.2022
Effingers
Tergit, Gabriele

Effingers


ausgezeichnet

Literatur-Skandal

Das Opus magnum «Effingers», der zweite Roman von Gabriele Tergit, wurde seit der Erstausgabe 1951 mehrfach neu aufgelegt, zuletzt 2019. Der Publikums-Erfolg jedoch blieb trotz euphorischer Besprechungen im Feuilleton weitgehend aus. Hatte Thea Dorn Recht, als sie erklärte: «Dass dieses Buch nicht längst fester Bestandteil des deutschen literarischen Kanons ist, halte ich für einen Skandal». 50 Jahre davor erschien mit «Die Buddenbrooks» der erste «Gesellschaftsroman in deutscher Sprache von Weltgeltung». Ohne Zweifel ist «Effingers» in diesem Genre inzwischen ebenfalls ein Klassiker, nach Heinz Schlaffers Definition also «gleichermaßen vergangen, erinnert und gegenwärtig», diese Neuauflage beweist es!

Über vier Generationen hinweg, von 1878 bis 1948, wird in diesem opulenten Roman eine breit aufgefächerte Familien-Chronik aus der großbürgerlichen, jüdischen Berliner Gesellschaft erzählt. Als Klammer um das Geschehen dient anfangs und zum Schluss je ein Brief eines der markantesten Protagonisten, des Sohnes Paul aus der Uhrmacher-Familie Effinger im Städtchen Kragsheim. Anfangs ist er als 17Jähriger noch ein Lehrling voller Tatendrang, am Ende wartet er als 81jähriger, einst erfolgreicher Industrieller auf seine Deportation ins Vernichtungslager. Er habe «an das Gute im Menschen geglaubt», schreibt er resigniert, «Das war der tiefste Irrtum meines verfehlten Lebens». Der im Buch abgedruckte Stammbaum führt als zweiten Zweig den Bankier Markus Goldschmidt aus Berlin als Stammvater der Familie auf. Anders als bei Thomas Mann geht hier aber eine ganze Welt unter als Folge des politischen Wahnsinns eines verbrecherischen Diktators, nicht nur eine zunehmend degenerierte Kaufmanns-Familie.

Über weite Strecken liest sich dieser Roman als detaillierte deutsche Gesellschafts-Studie über mehrere politische Epochen hinweg, deren markanteste die wilhelminische Ära mit Erstem Weltkrieg, Weimarer Republik und Inflationszeit, Machtübernahme der Nazis und Zweiter Weltkrieg sind. Diese politischen und gesellschaftlichen Umbrüche spiegeln sich im Leben der Effingers wieder, wobei die ökonomische Bandbreite vom einfachen Uhrmacher oder Krämerladenbesitzer bis zum Bankier und Großindustriellen reicht. Die Religion betreffend geht die Spanne vom strenggläubigen bis zum nicht praktizierenden Juden, wobei allerdings anzumerken ist, dass die Religion, ganz anders als vielfach behauptet, nur eine völlig nebensächliche Rolle spielt in dieser Familiensaga. Nur an wenigen Stellen, zunehmend natürlich gegen Ende, hat sie überhaupt mal Einfluss auf das Geschehen. Stattdessen sind es die üblichen Fährnisse des Lebens, die im Blickpunkt stehen, allem voran die Ehe als sinnstiftend für die Frauen früherer Zeiten. Überhaupt erstarkt die weibliche Emanzipation im chronologischen Ablauf von geradezu unglaublicher Spießigkeit, mit Anstandsdame beim Spaziergang des künftigen Paares, bis hin zur selbstbewussten Entscheidung, was den Ehepartner und vor allem Studium oder Berufswahl anbetrifft. Nicht verheiratet zu sein oder Liebhaber zu haben ist dann irgendwann kein Makel mehr für die selbstbewusst gewordene Frau.

Man merkt sprachlich den journalistischen Hintergrund der Autorin, der dialogreiche Roman wird präzise und ohne Ausschmückungen in kurzen Kapiteln, aber mit scharfem Blick für Details erzählt. Neben dem abgedruckten Stammbaum sei ergänzend das äußerst hilfreiche ‹Literaturlexikon› empfohlen, auf dessen diesem Werk gewidmeter Internet-Seite nicht weniger als 131 Roman-Figuren detailliert beschrieben werden. Als lebensnahe Informations-Quelle über die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse ist «Effingers» durchaus mit entsprechenden Werken Fontanes vergleichbar, und erfreulicher Weise auch ähnlich genüsslich und den Horizont erweiternd zu lesen. Dazu tragen besonders die klugen philosophischen und kulturellen Erörterungen bei, die viele Lebensbereiche und Geisteshaltungen abdecken. Thea Dorn hat völlig Recht, ein Skandal!

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Bewertung vom 03.05.2022
Heimweg
Martenstein, Harald

Heimweg


gut

Hintersinnige Heimkehrer-Geschichte

Mit dem Roman «Heimweg» hat der vor allem als streitbarer Journalist und Kolumnist bekannte Schriftsteller Harald Martenstein im zarten Alter von 53 Jahren sein überzeugendes Debüt als Romancier vorgelegt. Es ist ein Schlüsselroman, dessen Protagonisten er der eigenen Familie entliehen hat. Im Interview mit der FAZ hat er erklärt, er sei ein schlechter Geschichten-Erzähler: «Ich schmücke aus und schneide weg, was übersteht». Entstanden ist dabei ein Buch über die Bundesrepublik Deutschland der fünfziger bis siebziger Jahre, die ja, als Zeit des Wirtschafts-Wunders verklärt, nur Gewinner zu haben schien. Es habe ihn gereizt, sie als Verlierer-Geschichte zu erzählen, ihre Lebenslügen zu entlarven.

Joseph, der Großvater des Ich-Erzählers, kommt als Heimkehrer aus russischer Kriegs-Gefangenschaft mit einem Lungendurchschuss und zwei steifen Fingern am Bahnhof an. «Er war geradezu in Topform, verglichen mit einigen anderen armen Teufeln in seinem Eisenbahnwagon». Daheim erwartet ihn ein Blutbad. Ein unbekannter Mann öffnet ihm die Wohnungstür, er findet seine Frau Katharina nackt in einer Blutlache liegend, der Fremde hat ihr in den Hals geschossen. Sie überlebt den Streifschuss. Eine Eifersuchtstat, wie sich herausstellt, der Mann ist einer der vielen Liebhaber seiner im Rotlichtmilieu arbeitenden Ehefrau. Sie tritt in der Rheingoldschänke ihrer Schwester Rosalie als Schleiertänzerin auf. Das Ehepaar versöhnt sich schon bald wieder, er lässt seiner schönen Frau ihre Freiheiten, und bald findet er auch eine einfache Arbeit. Genügsam wie er ist, reichen ihm die bescheidenen Verhältnisse, in denen sie leben. Er liest viel und widmet sich seinen Wellensittichen, nebenbei wirkt er auch als Hausmeister. Rosalie findet einen gutsituierten Mann unter ihrer Kundschaft, den ihre anrüchige Vergangenheit nicht stört, sie verkauft ihr Etablissement und heiratet ihn.

In Rückblicken werden, auch weit zurückreichend, düstere Kapitel der Familiengeschichte aufgerollt. Zu denen gehört der Mord des Urgroßvaters an seinem Sohn, ferner ein Selbstmord und die Exekution eines Kommissars der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Den musste Joseph als Truppführer aufgrund des geheimen Kommissar-Befehls erschießen lassen, wobei er auch noch ohne Not einen Knaben tötete, der sich in der Nähe herumtrieb. Außer seiner Frau hat er Niemandem je davon erzählt. Schließlich beginnt mit der zunehmenden Demenz von Katharina auch die erzählte Geschichte ins Mystische abzugleiten, tauchen Geister der Vergangenheit als Besucher auf, lebende Tote sozusagen. Darunter befindet sich auch der einst in Russland ermordete Knabe, der Ich-Erzähler des Romans, mit dem Joseph jedoch vereinbart hat, er solle sich als sein Enkel ausgeben. Und auch Kuhlenkampf, Freddy Quinn und Rudolf Schock gehören dazu, genüsslich decouvriert der Autor die aus heutiger Sicht auch medial dröge Nachkriegszeit. Ironisch, fast schon zynisch schickt er seine Figuren in eine der damaligen wirtschaftlichen Entwicklung entgegen gesetzte Abwärtsspirale aus Problemen und Pleiten, Krankheit und Tod.

Er habe, hat der Autor dazu erklärt, die Metapher von den Geistern der Vergangenheit «halt wörtlich genommen», zurück reichend bis zum Urgroßvater und zu Heigl, dem bayrischen Robin Hood. Das zeigt sich sprachlich in den Vergleichen mit der Gegenwart, die dann oft mit «Heute würde man …» eingeleitet werden und so den zeitlichen Abstand verdeutlichen. Anfangs wie ein ironisch erzählter, ins Triviale abzugleiten drohender Roman, erweist sich diese Heimkehrer-Geschichte später zunehmend als klug konstruiert und hintersinnig. Das entscheidende Merkmal ist die darin ausgedrückte moralische Unbestimmtheit, die viel Raum lässt für eigene Interpretationen. Bei denen sollte man aber trotz der erst im weiteren Verlauf des Geschehens zum Tragen kommenden, mystischen Elemente die journalistisch geprägte Nüchternheit des Autors nicht ganz unberücksichtig lassen, auch wenn da so ausg

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Bewertung vom 30.04.2022
Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist
Loschütz, Gert

Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist


gut

Und täglich grüßt das Murmeltier

Der soeben unter dem Titel «Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist» veröffentlichte Roman von Gert Loschütz hat eine weit zurückreichende, editorische Vorgeschichte. Das Buch basiert auf dem gleichnamigen Hörspiel aus dem Jahre 1988, das zwei Jahre später unter dem Titel «Flucht» erstmals als Roman veröffentlicht wurde. Wie der Autor in seiner Nachbemerkung schreibt, stand der damalige Titel in deutlichem Zusammenhang mit den Absetz-Bewegungen aus der DDR. Angesichts der heutigen, ganz anders gelagerten Flucht-Problematik «ist der Titel falsch». Er sei für die Neuausgabe deshalb «zu dem Titel zurückgekehrt, den die Geschichte für mich immer hatte», erklärt der 1957 als Elfjähriger mit seinen Eltern aus der DDR ausgereiste Autor.

«Sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst», sagt die Mutter von Karsten, als sie spätabends noch mal durch die Straßen gehen, es ist der Abend vor ihrer klamm-heimlichen Ausreise in den Westen. Immer wieder wurden vorab schon mal von verschiedenen Postämtern aus Pakete dorthin geschickt, wurde das Geld vom Konto abgehoben und davon ein teurer Fotoapparat gekauft. Der soll ‹Drüben› dann gleich wieder verkauft werden, der Erlös ist als Startkapital gedacht. Am nächsten Morgen machen sie sich dann auf den Weg zum Bahnhof. «Sieh dich nicht um» sagt die Mutter unterwegs immer wieder zu ihrem Sohn. Ihre Reise ist allen gegenüber als Urlaubsreise an die Ostsee deklariert worden, niemand darf wissen, wohin sie tatsächlich fahren. Diese konspirative Ausreise aus seinem Heimatort Plothow hinterlässt bleibende Spuren bei Karsten, um nicht zu sagen Schäden. Zeit seines Lebens ist der Abreisetag für ihn nun ein ganz besonderes Datum, sein persönlicher Feiertag quasi, der eine gravierende Zäsur in seinem Leben markiert. Und auch die traumatische erste Nacht in einem hessischen Hotel wird prägend für sein weiteres Leben. Denn künftig wird jede erste Nacht in einem Hotel den Reisejournalisten an die beklemmende, ungewohnte Situation erinnern, irgendwo ganz neu zu sein, so wie damals, als plötzlich alles ganz anders war als daheim in der DDR.

Eine durchgängige Handlung findet man nicht in diesem Roman, es sind eher narrative Vignetten, die da, zeitlich vor und zurück springend, aufgereiht werden. Den Ich-Erzähler Karsten hat das Fluchterlebnis nicht nur geprägt, es hat ihn total entwurzelt, er ist nirgendwo mehr richtig zu Hause und sucht bei seinen Reisen ruhelos nach Orten und Landschaften, die ihn an seine märkische Heimat erinnern. In Irland und auf Sizilien glaubt er sie gefunden zu haben. Als Reisejournalist schreibt er so manches Notizbuch voll und sitzt am Ende mit drei anderen Teilnehmern in einer Rundfunksendung, in der es ums Reisen geht, Genaueres erfährt man aber nicht. Gert Loschütz erweist sich hier als Großmeister der Andeutungen. Er lässt eine Feindschaft in der Schulzeit seines Helden kurz aufblitzen, führt einen ebenfalls viel reisenden und schreibenden Freund Götz ein, von dem man kaum etwas erfährt, und auch Frauen spielen nur andeutungsweise eine Rolle. Einzige Ausnahme ist Vera, mit der Karsten wohl länger liiert ist, und die dann auch als Adressatin fungiert, wenn beim Erzählen zuweilen in die Du-Form gewechselt wird. Aber auch da wird nur episodenhaft verkürzt erzählt, Vera bleibt eine eher schemenhafte Figur ohne Profil.

Die posttraumatisch bedingte Ruhelosigkeit des Protagonisten wird in einem unablässigen Gedankenstrom artikuliert, der in beeindruckenden Bildern Landschaften ebenso stimmig wiedergibt wie Erlebnisse und Begebenheiten im eng begrenzten Lebensradius des melancholischen Helden. Mit der Methode des unzuverlässigen, und zudem auch noch heftig mäandernden Erzählens wird der Leser allerdings ziemlich gefordert. Man fühlt sich verloren wie Karsten, dessen Gedanken refrainartig immer wieder auf den «Tag, der nicht vorüber ist» zurückweisen, was als fatale Zeitschleife (sorry!) an «Und täglich grüßt das Murmeltier» erinnert.

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