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Renas Wortwelt

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Insgesamt 148 Bewertungen
Bewertung vom 24.05.2024
Liebe, Stolz und andere Vorurteile
Dean, Becky

Liebe, Stolz und andere Vorurteile


ausgezeichnet

Das ist wieder mal so ein Roman, der einen eher abschreckenden deutschen Titel trägt (der englische Originaltitel ist aber auch nicht viel besser). Wenn man diesen ignoriert, findet man eine sehr liebenswerte Geschichte um zwei junge Menschen, die ihren Weg noch finden wollen oder müssen.
Brittany hat fast ihr ganzes Leben davon geträumt, Profi-Fußballerin zu werden. Sie hatte bereits ein Stipendium für ein Studium an der Sporthochschule in Kalifornien in der Tasche, als eine üble Knieverletzung ihren Traum platzen lässt. Denn nicht nur die Folgen der Verletzung, sondern vor allem eine Krankheit, die während der Behandlung entdeckt wurde, macht es für sie unmöglich, diesen Sport künftig auszuüben.
Da kommt es ihr gerade recht, dass ihre Englischlehrerin, die verblüffenderweise über erhebliche Geldmittel zu verfügen scheint, einen Wettbewerb ausschreibt. Britt und drei ihrer Klassenkamerad:innen werden eingeladen, nach Großbritannien zu reisen und dort in einer Art Schnitzeljagd diverse Aufgaben zu lösen. Dem Gewinner bzw. der Gewinnerin winkt ein Preisgeld von 100.000 Dollar.
Wenn nur die Aufgaben, die es zu lösen gilt, nicht alle mit Literatur zu tun hätten, ein Fach, das die sportliche Britt eher weniger spannend findet. Zu ihrem Glück lernt sie gleich zu Beginn der Tour den netten und gut aussehenden Luke kennen, der ein echter Bücher-Nerd zu sein scheint. Zumindest kann er Britt eine große Hilfe sein, denn er stimmt zu, sie auf ihrer Reise zu begleiten. Dritte im Team ist die Begleitperson, die alle Teilnehmer dabei haben. Alexis ist eine sehr geduldige, sehr verschwiegene und sehr humorvolle junge Frau, die noch dazu eine Verwandte Lukes ist, wie sich herausstellt.
So gehen die drei auf die Reise quer durch England und Schottland, versuchen, die Aufgaben zu lösen und geraten dabei durch Britt in immer neue Abenteuer. Denn Britt ist eine äußert liebenswerte 18-Jährige, die selten ein Blatt vor den Mund nimmt, mit jedem ins Gespräch kommt und meist von einem Dilemma in das nächste Fettnäpfchen gerät. Dabei hat sie das Herz auf dem rechten Fleck, hadert aber mit ihrer Krankheit. Und vor allem mit ihrer Zukunft, hat diese doch ihr alle Pläne zerstört und so muss sie erst ihren Weg finden, um neue Pläne machen zu können.
Inzwischen entwickeln sich zwischen Britt und Luke immer mehr Gefühle, die sie aber nicht zulassen will, da sie auf zwei Kontinenten leben und Britt schon zu viele Menschen in ihrem Leben verloren hat.
Der Roman ist ein reines Lesevergnügen. Die jungen Menschen, die im Mittelpunkt stehen, sind absolut realistisch gezeichnet, mit ihren Unsicherheiten, ihrer immer einsturzgefährdeten Mauer, die sie um sich bauen. Immer wieder treffen Britt und ihre Klassenkameraden aufeinander während der Reise und stets kommen dabei alte und neue Animositäten, ungelöste und nicht ausgesprochene Vorwürfe und bittere Erinnerungen hoch.
All das wird voller Wärme, mit wunderbar leichtfüßigem, dabei auch feinsinnigem Humor erzählt, die Figuren sind liebevoll, mit Verständnis und Empathie beschrieben. Die Dialoge, vor allem die witzigen zwischen Britt und Alexis, sind herrlich und spiegeln perfekt den britischen Humor.
Dazu kommen die literarischen Verweise auf Klassiker der englischen und schottischen Literatur, was zusätzlich großen Spaß bereitet. Ein rundum gelungener Roman, durch den man geradezu fliegt, auch, weil das sonst bei Liebesgeschichten vorhersehbare Happy End diesmal eben gar nicht so zuverlässig erwartbar ist und die Geschichte daher viel Spannung entwickelt.
Sehr empfehlenswert.
Becky Dean - Liebe, Stolz und andere Vorurteile
Originaltitel: Love and Other Great Expectations
aus dem Englischen von Susanne Just
Arctis, April 2024
Taschenbuch, 395 Seiten, 18,00 €

Bewertung vom 22.05.2024
The Happiness Blueprint
Zetterberg, Ally

The Happiness Blueprint


ausgezeichnet

Dieser Roman ist der Beweis, dass auch ein vorhersehbarer Plot beim Lesen sehr viel Spaß machen und erhebliche Spannung entwickeln kann.
Klara, die Menschen mit Schuhen vergleicht und in Schrifttypen und -größen einsortiert, muss ihr Leben in London verlassen und nach Hause kommen, nach Schweden. Ihr Vater muss sich einer Krebstherapie unterziehen und niemand sonst kommt in Frage, in dieser Zeit sein Geschäft weiterzuführen. Seine kleine Firma saniert Bäder und gestaltet Inneneinrichtungen.
Nicht alle der drei Mitarbeiter allerdings fügen sich Klaras Regeln und so besteht recht schnell Bedarf an Neueinstellungen. Auf ihre Anzeige bewirbt sich der gutaussehende Tischler Alex, der sehr bald nicht nur die handwerklichen Aufgaben übernimmt, sondern Klara auch hilft, die Organisation der Firma zu verbessern. Dazu synchronisieren die beiden ihre Kalender, was dazu führt, dass Klara beispielsweise entdeckt, dass Alex angeblich zu einer Paartherapie geht und er kann lesen, dass sie sich mit einem ehemaligen Freund trifft.
Es kommt, was kommen muss: Klara und Alex kommen sich immer näher, tauschen sich über die Kalender nicht nur hinsichtlich Firmenangelegenheiten aus, sondern auch immer öfter über privates. Wenn Alex nur keinen Ehering tragen würde, dann hätte Klara Hoffnung. Allerdings will sie eigentlich auch gar nicht in Schweden bleiben, sondern zurück nach London.
Alex hingegen kämpft gegen seine Depression an, die entstand nach dem Unfalltod seines jüngeren Bruders, für den Alex sich schuldig fühlt. Um dies zu kompensieren, sucht er wie besessen nach Zeugen des Unfalls, dessen Verursacher Unfallflucht begangen hatte.
Hier ahnt man früh, worauf das hinausläuft, dennoch entsteht eine gewisse Spannung, wie und wann die Auflösung kommt. Dass genau sie zu Schwierigkeiten in der sich entwickelnden Beziehung zwischen Klara und Alex führen wird, ist absehbar. Der Umgang vor allem von Alex damit ist dann allerdings ein wenig arg überzogen, nur um den üblichen Klimax im Roman zu erzeugen. Auch bleibt hier vieles ungeklärt, etliche Fragen im Zusammenhang damit unbeantwortet, man als Leserin somit etwas unbefriedigt zurück.
Trotzdem war die Lektüre des Romans eine reine Freude. Der Schreibstil ist flüssig, nie kommt Langeweile auf. Die Figuren sind liebenswert, vor allem Klara mit ihren Schrullen (es dauert, bis sie selbst erkennt, woran diese liegen), Alex Trauer um seinen Bruder scheint ein wenig dick aufgetragen, vor allem im Vergleich zu der von dessen Ehemann oder seinen Eltern, aber sei es drum.
Auch die Nebenfiguren, wie Klaras von Mann, Kind und Beruf überforderte Schwester oder ihre nach der Scheidung in Spanien lebende Mutter, die per Videocall an allem teilhaben will, sind präzise, mit Empathie, Augenzwinkern und leisem, nie zu dick aufgetragenen Humor gezeichnet.
Ein rundum gelungener Liebesroman, wobei sich mir ehrlich gesagt der Sinn des englischen Titels nicht erschlossen hat.
Ally Zetterberg - The Happiness Blueprint: Liebe und andere Baustellen
aus dem Englischen von Nora Petroll
Rowohlt Polaris, April 2024
Klappenbroschur, 399 Seiten, 16,00 €

Bewertung vom 20.05.2024
Ein Ort für immer
Norton, Graham

Ein Ort für immer


ausgezeichnet

Ein Schicksal, das heutzutage sicher öfter vorkommt, als man glaubt. Plötzlich sitzt ein Partner auf der Straße, weil der andere keine Vorsorge getroffen hat.
In dem Roman des irischen Autors Graham Norton, des ersten, den ich von ihm las, geht es vor allem um das, was unser Zuhause ausmacht. Für fast alle der wunderbar ausgearbeiteten Figuren stellt sich diese Frage, nicht alle finden eine Antwort.
Im Mittelpunkt steht Carol, fast fünfzig und glücklich in ihrer Liebe zu dem wesentlich älteren Declan. Seit 10 Jahren lebt sie bei ihm in seinem Haus, verheiratet sind sie nicht. Denn Declans Ehefrau ist seit vielen Jahren verschwunden, er also noch gebunden. Die erwachsenen Kinder Declans, Killian und Sally, lehnen Carol ab und auch Carols Sohn Craig ist eher distanziert, lebt sein eigenes Leben fernab.
Als dann Declans Demenz sehr rasch voranschreitet und Carol ihn nicht mehr allein versorgen kann, entscheiden Killian und Sally, ihren Vater in ein Pflegeheim zu geben. Und das Haus, in dem sie aufgewachsen sind und an dem inzwischen Carols Herz hängt, zu verkaufen, obwohl sie wissen, dass ihr Vater genau dies niemals zugelassen hätte. Damit steht Carol, die längst auch ihren Beruf als Lehrerin aufgegeben hatte, quasi auf der Straße und muss wieder bei ihren Eltern Moira und Dave einziehen.
Besonders Moira ist eine wunderbar gelungene Figur. Sie nimmt stets die Fäden in die Hand, findet immer eine Lösung, auch für das kurioseste Problem, und hat ebenso stets eine passende Antwort parat. Ihr Erfindungsgeist wird besonders auf die Probe gestellt, als sie und Carol in Declans Haus eine erschütternde Entdeckung machen.
Denn aus Mitleid mit ihrer Tochter und um Declans Kindern eins auszuwischen, kaufen Dave und Moira das Haus. Damit es sich anschließend gewinnbringend wieder veräußern lässt, wollen Moira und Carol es ein wenig renovieren, wobei sie über den erwähnten Fund stolpern.
Damit wird die ganze Geschichte nicht nur wunderbar komisch und absurd, sondern gewinnt so richtig an Fahrt. Die Spannung steigt, denn über allem schwebt stets die offene Frage, was mit Declans Frau Joan geschah.
Auch wenn mir die ständige Zögerlichkeit und Ängstlichkeit Carols, ihre Unentschlossenheit und ihr ewiger Wunsch, niemandem auf die Füße zu treten, etwas auf die Nerven ging, Moira macht das alles wett. Dazu der wunderbare Schreibstil Graham Nortons, der mit Empathie die Gefühlswelt der Figuren darstellen kann, mit Verständnis und immer mit feinsinnigem Humor.
Killian, voller Zweifel über seine Ehe mit seinem Mann Colin und dessen Wunsch nach einem Heim und einem Baby. Sally, die einsame und verklemmte Seele in ihrem winzigen unaufgeräumten Cottage, die am meisten unter dem Verlust der Mutter litt, und Carol, damit hadernd, dass sie in ihrem Alter ohne zuhause ist und quasi vor dem Nichts steht.
Ein absolut gelungener Roman, der ernste Themen nahbar macht, ohne rührselig oder kitschig zu werden, der einen anrührenden Ton findet, voller Subtilität und Einfühlungsvermögen. Dass manches unrealistisch und absurd, macht das eigentliche Vergnügen am Roman aus, auch wenn die Auflösung am Ende etwas arg konstruiert wirkt.
Unbedingt empfehlenswert.
Graham Norton - Ein Ort für Immer
aus dem Englischen von Silke Jellinghaus
Kindler, April 2024
Gebundene Ausgabe, 382 Seiten, 25,00 €

Bewertung vom 15.05.2024
Joseph Süßkind Oppenheimer
Erdtmann, Raquel

Joseph Süßkind Oppenheimer


sehr gut

Wer, wenn nicht eine Gerichtsreporterin, könnte diese Geschichte erzählen. Die Geschichte des Juden Joseph Süs Oppenheimer, der 1738 nach einem Schauprozess hingerichtet wurde und später als literarische Figur „Jud Süß“ unter anderem durch Lion Feuchtwanger Berühmtheit erlangte.
Akribisch recherchierte Details, aufwändig nachgezeichnete Lebenswege und erschütternd deutliche Beschreibungen der Judenfeindlichkeit zeichnen dieses Buch aus. Raquel Erdtmann schildert das Leben des Mannes, der seiner Zeit um einige Jahrhunderte voraus war, der sich nicht verbiegen lassen wollte und der sich weder den Vorschriften noch den Einschränkungen, die den Juden auferlegt waren, beugen wollte.
Kein Wunder also, dass er sich gerade bei denen unbeliebt machte, die diese Vorschriften aufgestellt hatten. Joseph Süs Oppenheimer war erfolgreicher Unternehmer, der weit modernere Methoden der Buchführung, der Finanzverwaltung und der Finanzkontrolle anwendete, als damals üblich war. Er wurde schließlich Finanzrat des Herzogs von Württemberg, ein Amt, das er nicht wollte und das er am Ende mit dem Leben bezahlte.
In die Lebensgeschichte Oppenheimers flicht die Autorin immer wieder Hintergrundinformationen über jüdisches Leben, jüdische Riten und Gebräuche ein. Sie beschreibt die Umstände, unter denen Juden in den Gettos zu leben gezwungen waren, wie und wo sie arbeiten durften und welchen Anfeindungen sie ausgesetzt waren. Immer wieder setzt sich Oppenheimer darüber hinweg, so beispielsweise, als er in Frankfurt am Main sein Geschäftsgebäude weit außerhalb des Judenviertels bezieht und sein Unternehmen aufbaut.
Besonders unbeliebt macht er sich aber durch seine Unbestechlichkeit und seinen vehementen Kampf gegen Korruption und Ämtermissbrauch. All das lassen ihn seine Gegner büßen, als der Herzog stirbt und er so dessen Schutz verliert. Oppenheimer kommt in Haft, unter unmenschlichen Bedingungen, doch weder seinen Stolz noch seine Hoffnung auf Gerechtigkeit verliert er. Bis zuletzt, als seine Hinrichtung zu einem Spektakel wird.
Die Schilderungen des Prozesses, sein Vegetieren über viele Monate in dem verließartigen Gefängnis, sein Glauben an Gerechtigkeit und schließlich die unmenschliche Dreistigkeit, mit der eben dieser Gerechtigkeit Hohn gesprochen wurde während des Prozesses erschüttern sehr. Die Lektüre dieses Buches ist spannend wie ein Krimi, informativ und fesselnd, berührend und doch auch manchmal amüsant, wenn der Jude Oppenheimer den Katholiken und Protestanten gleichermaßen Hohn lacht. Raquel Erdtmann schreibt flüssig, oft mit einem Augenzwinkern, ohne zu beschönigen, aber auch ohne anzuklagen.
Keine leichte Lektüre, mit manchen Längen, aber ungemein interessant – auch, weil thematisch leider immer noch oder wieder aktuell.
Raquel Erdmann - Joseph Süßkind Oppenheimer
Steidl, April 2024
Gebundene Ausgabe, 272 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 13.05.2024
Wie Treibgut im Fluss
Wagner, Andreas

Wie Treibgut im Fluss


sehr gut

Ein Roman um Freundschaft und Trennung, um Tradition und Religion, um Aufbegehren und Unterordnen und um Familie und ihre Generationen.
Tief in die Vergangenheit blickt Ich-Erzähler Niklas, um die Geschichte seiner Familie zu ergründen. In der unausgesprochenen Hoffnung, dass sie ihm hilft, sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen, seinem Sohn ein guter Vater zu sein.
Vor fast 300 Jahren beginnt die Geschichte, sie beginnt mit den armen Bauern im Hunsrück, die einer Schimäre nachjagen, als sie davon träumen, nach Amerika auszuwandern, nach Pennsylvanien. Gegen den Willen seiner Frau Catharina schließt sich Peter der Auswanderergruppe an. Doch sie kommen nicht weit. Die Niederlande lassen die Menschen nicht einreisen, nicht durchreisen zum Hafen. So landen sie am Niederrhein, können nicht vorwärts und nicht zurück, beginnen hier zu siedeln.
Das Leben ist hart und beschwerlich, weshalb die Sehnsucht nach einen besseren Leben, nach einem anderen Land bleibt. Zumal die Menschen aus dem Hunsrück nun hier zwischen Angehörigen einer anderen Religion leben, mit denen es keine Verbindung, keinen Austausch gibt. Protestanten und Katholiken begegnen einander voller Misstrauen, ein Zusammen, geschweige denn eine Freundschaft kann und darf es nicht geben.
Das bleibt über die Jahrhunderte so. Nur die kleine Ännie begehrt dagegen auf, als sie, das Protestantenmädchen die gleichaltrige Katholikin Josephine kennenlernt. Trotz aller Unterschiede, trotz aller Bestrafungen für ihr Vergehen, mit Katholischen zu reden und trotz einer langen und andauernden Trennung bleiben die beiden Mädchen in Verbindung, als junge Frauen, als Ehefrauen und Mütter, als alte Frauen, bis zum Tod. Nur zusammen dürfen und können sie nicht sein.
Josephine wird später die Großmutter des Ich-Erzählers Niklas, der ihre Geschichte erst erfährt, als sie gestorben ist. Sie hat sie ihm gewissermaßen hinterlassen.
Dieser historische Teil des Romans ist ausgesprochen spannend. Die Schicksale der Menschen zu verfolgen, ihren Kampf ums Überleben, mit Vorurteilen, mit Krieg und Armut, mit Rollenbildern und mit den eigenen Wertevorstellungen, ist hochinteressant und dieser Teil des Buchs ist auch sehr gut geschrieben.
Weniger spannend und auch weniger interessant ist der in der Gegenwart spielende Teil des Romans, in dem wir Niklas begleiten, der einen Tag mit seinem Sohn am Rhein verbringt, mit ihm an die Orte der damaligen Ereignisse wandert und währenddessen damit hadert, ob er ein guter Vater ist. Dass er seine Frau betrogen hat und daher seinen Sohn nur an bestimmten Tagen bei sich hat, belastet die Beziehung zu dem Jungen. So ist dieser Teil des Romans eher dröge, die Stimmung von Niklas nicht immer nachvollziehbar, wirkt oft wehleidig. Auch sein Umgang mit dem Vermächtnis seiner Großmutter verwirrt, wirkt unverständlich.
Dennoch ist das Buch als Ganzes unbedingt zu empfehlen, ein großer Roman voller faszinierender Figuren, der mir bisher nicht bekannte historische Ereignisse anschaulich beschreibt.
Andreas Wagner - Wie Treibgut im Fluss
Droemer, April 2024
Gebundene Ausgabe, 349 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 08.05.2024
Tagebuch einer Wasserleiche aus dem Canale Grande (eBook, ePUB)
Kruse, Tatjana

Tagebuch einer Wasserleiche aus dem Canale Grande (eBook, ePUB)


sehr gut

Eine überstürzte Reise nach Venedig stürzt Astrid Vollrath kopfüber in ein wildes Abenteuer, mit geheimnisvollen Männern in Leinenanzügen, dubiosen Italienern mit verworrenen Familienverhältnissen und wenig vertrauenerweckenden Polizeibeamten.
Astrid besteigt einen Zug nach Venedig, nachdem sie ihren Lebensgefährten mit der Nachbarin erwischt hat. So ungeplant in dieser Stadt anzukommen, bringt es mit sich, dass man mühsam nach einer Unterkunft suchen muss. Doch mit viel Glück findet Astrid Unterschlupf bei Cesare und seiner Familie. Zu dieser gehören neben den sehr verschiedenen Söhnen und der sehr abweisenden Maria auch ein Becken voller Piranhas.
Während Astrid nun durch die Stadt ihrer Träume streift, begegnen ihr immer wieder Männer in hellen Leinenanzügen. Und in der Nähe ihrer Unterkunft wird eine männliche Leiche aus dem Canal Grande gezogen.
Als dann auch noch auf Astrid geschossen wird, Cesares jüngerer Sohn aus ihrer Obhut entführt werden soll und bedrohlich blickende Commissarios an der Tür klingeln, schwant es Astrid, dass es sich bei ihrer Herbergsfamilie vielleicht nicht um eine ganz gewöhnliche Familie handeln könnte.
Diese abstruse und herrlich absurde Geschichte ist so voller Tempo, dass man geradezu durch die Seiten rast. Die Figuren sind schlicht grandios absonderlich, der schweigende, aber künstlerisch hochbegabte Marco, Cesares Sohn, die ebenfalls schweigende, stets grimmig dreinschauende Maria oder die Polizeibeamten, die auch nicht alle so reine Westen haben wie sie sollten. Dazwischen die verpeilte Astrid, noch nicht ganz über das Ende ihrer Beziehung hinweg, geprüfte und leidenschaftliche Buchhalterin mit dem Herz auf dem rechten Fleck.
Wer nun warum welchen Dreck am Stecken hat, was es mit der Wasserleiche auf sich hat und welchen Job Astrid künftig ausüben wird, das erschließt sich nach und nach – und macht einen Heidenspaß. Am Ende ist man etwas außer Atem, wurde aber hervorragend unterhalten.
Tatjana Kruse - Tagebuch einer Wasserleiche aus dem Canale Grande
Haymon Verlag, März 2024
Klappenbroschur, 203 Seiten, 15,90 €

Bewertung vom 06.05.2024
Reichlich spät
Keegan, Claire

Reichlich spät


sehr gut

Die Bücher dieser irischen Autorin sind immer etwas ganz Besonderes. Bei ihr sitzt jedes Wort, jedes Bild ist präzise gewählt, jeder Satz eine Aussage, die in Erinnerung bleibt.
Das gilt natürlich genauso für dieses neue schmale Bändchen, das nicht mehr ist als eine Erzählung. Gerade einmal 55 mit großer Schrift bedruckte Seiten umfasst diese Geschichte, in der es um einen Mann und sein Frauenbild geht.
Wir begleiten diesen Mann auf dem Weg in seinen Feierabend, folgen seinen Gedanken während der Busfahrt, beobachten ihn beim Essen und Trinken. Und wir erleben seine Erinnerungen an die Frau, die er eigentlich an diesem Tag heiraten wollte.
Doch sie hat ihn verlassen, nur weiß er eigentlich bis heute nicht, warum. Während er sich an ihr Kennenlernen erinnert, an die Momente, in denen er sie nicht verstand, in denen sie seine Gewohnheiten, sein Weltbild durcheinanderbrachte, entsteht eine Vorstellung davon, wie eben dieses Weltbild aussieht.
Es sind kleine, normalerweise bedeutungslose Vorkommnisse, die zeigen, wie er aufwuchs, wie er erzogen wurde, welches Beispiel Vater und Bruder ihm boten. Gerade da gibt es diese eine Szene, die so schrecklich ist, dass man sie so schnell nicht wieder vergisst. Es ist vor allem diese Szene, die schonungslos zeigt, woher sein Frauenbild, sein Frauenhass – heute oft mit dem aus dem Altgriechischen stammenden, etwas inflationär genutzten Wort Misogynie bezeichnet – kommt.
So versteht man am Ende sehr wohl, warum die Frau ihn verließ, auch wenn sie das in seinen Augen „reichlich spät“ tat.
Diese Erzählung ist wieder so eindeutig Claire Keegans Stil, wunderbar geschrieben. Und dennoch ist es eben doch kein Roman, es ist wenig Raum für mehr Tiefe in den Figuren, für nuanciertere Charakterisierungen, für mehr Hintergrund. Doch natürlich bleibt auch so diese Geschichte lange im Kopf.
Claire Keegan - Reichlich spät
aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Steidl, April 2024
Gebundene Ausgabe, 59 Seiten, 15,00 €

Bewertung vom 01.05.2024
Titel, Pitch und Exposé für Romane (eBook, ePUB)
Hille, André

Titel, Pitch und Exposé für Romane (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

So soll ein Ratgeber sein: kurz, knapp, bündig auf das Wichtige beschränkt, dieses aber angemessen darstellend. Dass man genau das hier in diesem Buch findet, sollte bei diesem Autor nicht überraschen.
André Hille ist nicht nur selbst Schriftsteller, sondern Gründer und Leiter der Autorenschule Textmanufaktur und der Literaturagentur Hille & Jung. Er war Lektor und unterrichtet Lektorat und Prosaschreiben an der Universität Leipzig.
Man darf also davon ausgehen, dass die Ratschläge, die er in diesem dünnen Band gibt, auf Erfahrung beruhen und zielführend sind. Es geht um die Texte, die Autorinnen und Autoren oft unter Qualen verfassen, die aber unerlässlich sind, sobald man das eigene Geschriebene veröffentlichen will.
Natürlich macht es dann einen gravierenden Unterschied, ob man dies im Selfpublishing tut oder einen Verlagsvertrag anstrebt. Im ersten Fall benötigt man weder Exposé noch Anschreiben, im zweiten Fall sind es gerade diese Dinge, die entscheidend sein können, dafür hat man dort, im Erfolgsfall, nicht immer Einfluss auf Titel oder Klappentext.
In dem Buch von Hille lernt man, was zu beachten ist bei der Suche nach dem Buchtitel, welche Rechte und Pflichten es gibt und was Titelschutz bedeutet.
Ein Teil des Ratgebers beschäftigt sich mit dem berühmten Pitch. Hille erläutert, wie man den USP seines Buches herausstellt, den „unique selling point – zu Deutsch das Alleinstellungsmerkmal. Das kann manches sein, das Thema, die Figur oder sogar die Autorin selbst, wenn sie sich beispielsweise durch besondere Kenntnisse zum Thema auszeichnet. Es ist dann wichtig, diese Punkte unbedingt herauszustellen, im Anschreiben und/oder im Exposé.
Der größere Abschnitt im Buch beschreibt die Aufgaben eines Exposés und die Anforderungen daran. Dabei muss natürlich unterschieden werden zwischen Sachbüchern und belletristischen Texten, um letztere geht es hier vor allem. Aber auch ein kurzes Kapitel zeigt die Besonderheiten bei Kurzgeschichten.
Gerne unterschätzt wird oft die Autorenvita. Sie ist jedoch integraler Bestandteil einer Verlagsbewerbung und sollte daher ebenso sorgfältig verfasst werden wie die anderen Texte. Dass sie sich stark von dem sonst in Stellenbewerbungen üblichen Lebenslauf unterscheidet, sollte selbstverständlich sein. Hier ist es dann ratsam, lieber die Dinge in der Vita hervorzuheben, die mit dem Schreiben in Bezug stehen.
Dem Anschreiben schließlich widmet sich ein weiterer Teil dieses Ratgebers. Hier wie auch in den anderen Kapiteln bringt Andrè Hille viele anschauliche Beispiele und verdeutlich seine Tipps und Ratschläge mit leicht verständlichen und deswegen besonders hilfreichen Grafiken und Diagrammen.
Der Ratgeber zu den Sekundärtexten ist unbedingt empfehlenswert, nimmt er diesen von Autoren so verabscheuten Texten doch den Horror. Von daher rate ich allen, die kurz vor der Veröffentlichung stehen, zur Lektüre des schmalen, aber ungemein nützlichen Buches. Das zudem auch wunderbar leichtfüßig, verständlich und klar geschrieben ist.
André Hille - Titel, Pitch und Exposé für Romane
Textmanufaktur, Dezember 2015
Klappenbroschur, 112 Seiten, 14,90 €

Bewertung vom 29.04.2024
Alles gut
Rabess, Cecilia

Alles gut


gut

Am Ende ist dieser Roman auch nur eine Liebesgeschichte, mit dem üblichen Hin und Her, den Missverständnissen und aufgeblähten Problemchen – nicht unähnlich den Büchern von Ali Hazelwood, wenn auch ohne deren ausschweifende Sexszenen.
Der Unterschied ist lediglich, dass hier die Protagonistin eine Schwarze Frau ist, die eine für Leute ihrer Hautfarbe und für ihr Geschlecht unübliche Karriere anstrebt. Und somit, auch das wenig überraschend, mit den üblichen Schwierigkeiten, Vorurteilen und männlichen Überheblichkeiten zu kämpfen hat.
Jess begegnet an ihrem ersten Arbeitstag bei Goldman Sachs ihrem ehemaligen Studienkollegen Josh wieder. Dieser, obwohl er zunächst mal keine wesentlich andere Ausbildung hat als sie, bekommt mehr Unterstützung, wird gefördert, ergattert die wichtigen und großen Aufträge. Während ihr wenig mehr als Sekretärinnentätigkeiten zugewiesen werden.
Obwohl sie Josh als eher versnobten reichen Schnösel in Erinnerung hat, erweist er sich als hilfsbereit und nett. So kommen die beiden sich näher, während man in Rückblicken erfährt, welche diversen Streitgespräche zwischen den Beiden während des Studiums stattfanden.
Dass Jess und Josh irgendwann ein Paar werden, sich dann wieder trennen, wieder zusammenkommen und so weiter, verwundert dann nicht weiter. Dazwischen sind immer wieder die Gefühle von Jess geschildert, wenn sie sich aufgrund ihrer Hautfarbe zurückgesetzt fühlt. Dabei wirkt das leider oft eher wie Neid, wenn sie beispielsweise Josh den angeblichen Reichtum seiner Eltern vorhält.
So ist das Buch in meinen Augen schließlich doch nicht wesentlich mehr als eine recht übliche , unnötig verkomplizierte Liebesgeschichte, aufgehübscht um das Thema Rassismus und diverse Debatten um Finanzgeschäfte. Hier merkt man den Hintergrund der Autorin, die selbst ebenfalls bei Goldman Sachs gearbeitet hat (Ist der Roman hier eventuell sowas wie ein Aufarbeitung oder Abrechnung?). Leider führt das dann jedoch dazu, dass über viele Seiten und immer wieder sehr viel Fachchinesisch in den Roman einfließt, was irgendwann etwas nervt und auch langweilig wird, sofern man sich für diese Dinge nicht interessiert.
Ziemlich gestört hat den Lesefluss allerdings die große Namensähnlichkeit der beiden Protagonisten Jess und Josh. Dass man genau dies vermeiden soll, ist eigentlich eine der ersten Lektionen im Kreativen Schreiben.
Der Schreibstil von Cecilia Rabess, deren Debütroman „Alles gut“ ist, ist ansonsten jedoch sehr angenehm, flüssig, flott, modern. Da ist nichts gestelzt, nichts süßlich getüncht oder kitschig, wenn auch manche der Figuren, vor allem die Männer in ihrem Arbeitsumfeld, doch ein wenig arg den gängigen Klischees entsprechen. Doch wer als Frau ähnliches erlebt hat, weiß, dass Männer eben einfach manchmal ihr eigenes Klischee sind.
Ein Roman, der sich schnell und locker liest, von den erwähnten Szenen abgesehen.
Cecilia Rabess - Alles Gut
aus dem Amerikanischen von Simone Jakob
Eichborn, März 2024
Gebundene Ausgabe, 429 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 26.04.2024
Und Großvater atmete mit den Wellen
Teige, Trude

Und Großvater atmete mit den Wellen


gut

Das ist so oft das Problem mit dem Anschließen wollen an vorigen Erfolg: Es gelingt eben nicht immer. In dem letztes Jahr erschienenen Band erzählte Trude Teige die Geschichte von Tekla, ihrer Tochter Lilla und ihrer Enkelin Juni. Jener Roman war spannend und vor allem berichtete er von einem unbekannten Stück Historie aus dem zweiten Weltkrieg und der Zeit danach.
Nun, so laut Vor- und Nachwort, die ein bisschen alibimäßig angeklebt wirken, möchte Juni uns von ihrem Großvater Konrad erzählen, von seinen Erlebnissen in Asien während des Krieges. Er gerät erst in Seenot, gelangt halb tot an Land, kommt ins Krankenhaus und begegnet dort der Krankenschwester Sigrid. Schließlich geraten beide in japanische Gefangenschaft, wie auch Konrads Bruder Sverre.
Sigrid, ihre alkoholsüchtige Mutter Henny und die kleine autistische Schwester Ingerid werden in einem Frauenlager gefangen gehalten. Sigrid kann den dort eingesperrten Frauen medizinische Hilfe leisten, so gut es ohne Medikamente geht. Sie erlebt Misshandlung, Folter, grausame Bestrafungen ebenso wie Zusammenhalt, aber auch Streit und Missgunst.
Konrad und Sigrid lieben einander und können sich auch im Lager begegnen. Sigrid ist für Konrad eine ungewöhnliche Frau, sie lässt sich nichts sagen, will ihren eigenen Weg finden, ungewöhnlich für die Zeit, in der sie lebt.
Spannung kommt in diesem Roman leider wenig auf, auch weil man ja die Fortsetzung der Geschichte aus dem Vorgängerroman kennt. Die Figuren sind ebenfalls wenig fesselnd, sondern eher Abziehbilder dessen, was man in solchen Romanen gemeinhin erwartet. Denn solche Geschichten, in denen Menschen über sich selbst hinauswachsen, immer anderen zuerst helfen, mutig und selbstlos sind, alles hinnehmen und daran wachsen, gibt es zuhauf. Daher bietet der Roman wenig Überraschendes, so sind beispielsweise auch die japanischen Bewacher und Soldaten schablonenhaft als grob, gemein und böse dargestellt.
Empathie für die Protagonisten kann daher kaum entstehen, auch wenn die beiden Hauptfiguren nicht unsympathisch sind. Doch Trude Teige gelingt es irgendwie nicht, Gefühle nachvollziehbar zu schildern, macht es schwer, sich in die Figuren einzufühlen. Die Dialoge sind seicht und oft recht platt und nichtssagend. Auch stilistisch ist der Roman wenig herausfordernd, sondern eher schlicht. Wobei man hier nicht weiß, ob das im Original liegt oder an der Übersetzung.
Schade, dass mich der Roman nicht mehr überzeugen konnte, denn thematisch wäre er doch vielversprechend gewesen.
Trude Teige - Und Großvater atmete mit den Wellen
aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
S. Fischer Verlag, März 2024
Gebundene Ausgabe, 415 Seiten, 24,00 €