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Bücherfreundin

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Insgesamt 283 Bewertungen
Bewertung vom 10.12.2023
Henriette lächelt
Heinisch, Andrea

Henriette lächelt


sehr gut

Bewegende Geschichte
Im Mittelpunkt des Debütromans der österreichischen Autorin Andrea Heinisch steht die Buchhalterin Henriette. Sie ist 50 Jahre alt und wiegt 190 kg. Henriette ist immer hungrig und denkt permanent ans Essen. In der Wohnung genau über ihr lebt ihre über 70-jährige Mutter, die sich um ihre Tochter sorgt und sie im Alltag unterstützt. Wenn Henriette weiter zunimmt und noch unbeweglicher wird, wird sie bald einen Pflegedienst brauchen. Die Mutter, die ihre Tochter ständig bevormundet und kritisiert, kocht für sie gesunde Mahlzeiten. Aber die reichen Henriette nicht, Lieferdienste bringen ihr fast täglich Lebensmittel, in ihren Schränken hortet sie geheime Vorräte. Coronabedingt arbeitet Henriette im Homeoffice und verlässt kaum noch ihre Wohnung. Seit zwei Jahren ist sie heimlich in ihren Kollegen Martin verliebt, den ihr der Arbeitgeber zur Seite gestellt und mit dem sie fast täglich Bildschirmkontakt hat. Auf diese Videokonferenzen freut sie sich, und sie macht sich schön für Martin. Als sie die schwangere Sonja kennenlernt, die mit ihrer Familie im gleichen Haus lebt, ändert sich ihr Leben ...
 
Das Buch ist in schlichter Sprache geschrieben und liest sich flüssig. In kurzen Kapiteln beschreibt die Autorin sehr einfühlsam nicht nur Henriettes Alltag und ihre Probleme, sondern auch ihre Entwicklung. Anfangs noch vollkommen isoliert in ihrer Wohnung lebend, gelingt es Henriette, wieder Kontakte zu knüpfen. Sie findet in ihrer Nachbarin Sonja, die ihr im Haushalt behilflich ist, eine Freundin. Am Ende des Buchs wird enthüllt, welches traumatische Ereignis zu Henriettes Essstörung geführt hat. Andrea Heinisch lässt uns tief in Henriettes Gedankenwelt blicken und beschreibt ganz wunderbar die Entwicklung ihrer Protagonistin. Es berührte mich sehr, wie diese sich langsam aus ihrem Schneckenhaus heraus bewegt und endlich auf andere Menschen zugeht. 
 
Es war nicht immer leicht, Realität und Phantasie zu unterscheiden, dennoch hat mir das leise Buch mit dem für mich stimmigen Ende sehr gut gefallen - Leseempfehlung!

Bewertung vom 10.12.2023
Die Unbestechliche
Welser, Maria von;Horbas, Waltraud

Die Unbestechliche


sehr gut

Interessanter Roman über eine ehrgeizige Journalistin
Maria von Welser ist sicherlich vielen Fernsehzuschauern noch bekannt als Moderatorin des Frauenmagazins Mona Lisa, das sie im ZDF ab 1988 fast 10 Jahre lang leitete. Der nun erschienene autofiktionale Roman "Die Unbestechliche" von Waltraud Horbas basiert auf den Erinnerungen der Journalistin und umfasst die Zeitspanne von 1968 bis 1977.
 
Alice Fälker wird im sogenannten Hungerwinter 1946/1947 als Tochter eines Arztes und der Herausgeberin eines Modejournals geboren. Da die Mutter intensiv ihre eigene Karriere verfolgt, werden Alice und ihr älterer Bruder Simon von einer Haushälterin betreut. Alice interessiert sich bereits sehr früh für das gedruckte Wort, und es steht auch früh für sie fest, dass sie Reporterin werden möchte. Mit 21 Jahren ist sie nicht nur mit dem Fotojournalisten Karl Meißner verheiratet, sondern sie hat bereits eine kleine Tochter, Elena. Sie ist glücklich, als ihr ein Volontariat bei einer Lokalzeitung angeboten wird. Um Elena kümmert sich fortan eine italienische Kinderfrau. Der Einstieg in ihr Berufsleben wird der jungen Mutter nicht leicht gemacht ...
 
In den sechziger Jahren ist es für Frauen mit Kindern nicht einfach, einen Beruf auszuüben, oft werden ihnen Steine in den Weg gelegt. Das ist auch bei Alice der Fall, ein aufbrausender Chef macht ihr und der Belegschaft das Leben schwer. Im Sportressort, das überwiegend von Männern besetzt ist, hat sie keinen leichten Stand, und die Organisation der Kinderbetreuung ist für die inzwischen Alleinerziehende eine ständige Herausforderung.
 
Das Buch ist in schönem und klarem Sprachstil geschrieben und hat mir trotz einiger Längen sehr gut gefallen. Die Rolle der Frau im Berufsleben und innerhalb der Familie während der sechziger und siebziger Jahre wird sehr eindrücklich beschrieben. Ich fand es sehr interessant, hinter die Kulissen einer Zeitungsredaktion zu blicken und habe Alice für ihren Ehrgeiz und ihr Durchsetzungsvermögen in einer von Männern dominierten Welt bewundert. Den Abschnitt, in dem es um die Politikergattin geht, mit der die empathische Alice ein intensives Gespräch führt, fand ich sehr berührend. 
 
Die Autorin hat die wichtigsten historischen Ereignisse der damaligen Zeit mit Alice' Leben verknüpft. Themen wie Krieg, Terror, Demonstrationen, Energiekrise, Pandemie und Tarifkonflikte sind leider heute wie damals aktuell. Und genau wie damals ist es heutzutage für viele Frauen schwer, Beruf, Haushalt und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bekommen.
 
Leseempfehlung für den Roman über eine kämpferische und emanzipierte Journalistin!

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Bewertung vom 07.12.2023
Opa Bär und Kleiner Bär suchen die Wildnis
Heikkilä, Cecilia

Opa Bär und Kleiner Bär suchen die Wildnis


ausgezeichnet

Liebevoll gestaltetes Bilderbuch mit wichtiger Botschaft
Im Bilderbuch "Opa Bär und kleiner Bär suchen die Wildnis" von Cecilia Heikkilä entdeckt der kleine Bär an Opas Kühlschrank eine Postkarte mit einer kurzen Nachricht: "Viele Grüße aus der Wildnis". Auf seine Frage erklärt der Großvater ihm, dass es keinen schöneren Ort als die Wildnis gebe. Mit dem Wunsch des kleinen Bären, dorthin zu fahren, beginnt ein großes Abenteuer für die beiden. Die Postkarte und eine alte Landkarte sollen den beiden den richtigen Weg zeigen. Werden sie die Wildnis finden?

Das Buch richtet sich an Kinder ab etwa 4 Jahren. Auf den ersten Seiten befindet sich eine Sternenkarte, mit deren Hilfe man den Kleinen den Sternenhimmel gut erklären kann. Die Geschichte ist ganz wunderbar und kindgerecht erzählt. Die Kinder begleiten Opa Bär und den kleinen Bären auf ihrer spannenden Suche nach der Wildnis.
Zahlreiche wunderschöne Illustrationen in eher gedeckten Farben ergänzen die bezaubernden Texte, die schon den Kleinen vermitteln, wie wichtig der Schutz und die Erhaltung der Natur sind.

Absolute Empfehlung für dieses wertvolle Buch!

Bewertung vom 05.12.2023
Kleine Probleme
Pollatschek, Nele

Kleine Probleme


ausgezeichnet

Kurzweilig und humorvoll
Im neuen Roman "Kleine Probleme" der Autorin Nele Pollatschek steht Lars Cornelius Messerschmitt im Mittelpunkt. Der 49-jährige Ich-Erzähler hat vor über 8 Jahren seinen sicheren Beruf bei einem Sender aufgegeben, um als Schriftsteller tätig zu sein. Er hat es aber in all den Jahren noch nicht geschafft, ein Buch zu schreiben. Für den Lebensunterhalt der Familie sorgt seine Lebensgefährtin Johanna, die als Lehrerin tätig ist. Sie befindet sich für 6 Monate in Portugal und wird Silvester zurückkehren. 

Lars hatte sich eigentlich vorgenommen, die Tage zwischen Weihnachten und Silvester für die Erledigung der Dinge zu nutzen, die er im Laufe des Jahres nicht geschafft hat. Dazu gehören u.a. die Abgabe der Steuererklärung, ein ausgiebiger Hausputz, der Aufbau des neuen Betts für seine Tochter, sein Lebenswerk zu schreiben und einen Nudelsalat für die Silvesterfeier zuzubereiten. Nun ist bereits der 31. Dezember - und Lars hat noch nichts erledigt. Er hat sich zu keiner sinnvollen Tätigkeit aufraffen können, dafür aber lange geschlafen, viel auf dem Sofa gelegen, über vieles nachgedacht und dabei die Zeit vergessen. Nachdem Johanna ihm nun mitgeteilt hat, dass ihr Flugzeug verspätet ankommen wird, erstellt Lars endlich eine To-do-Liste mit 13 Punkten und beginnt, sie abzuarbeiten ...

Wir lernen im Laufe des Buches Lars durch die intensive Beschreibung seiner Gedankenwelt sehr gut kennen und verfolgen mit Kopfschütteln, wie er in den Tag hinein lebt, die Zeit verstreichen lässt, seinen Gedanken nachhängt und nichts von den Dingen erledigt, die er sich eigentlich vorgenommen hat. 

Der humorvolle, überspitzte und tragische Roman liest sich sehr flüssig, der intelligente Sprachstil hat mir sehr gut gefallen. Ich konnte zwar wenig Verständnis für Lars' chaotische Welt aufbringen, habe mich dennoch sehr über einige seiner Aktionen amüsiert. Die Kapitel über den Aufbau des Ikea-Bettes mit all seinen Tücken und die Zubereitung des Nudelsalates, für den die Zutaten fehlten, fand ich besonders vergnüglich. Trotz seiner unstrukturierten Art mochte ich Lars. Er träumt vor sich hin, führt einen ständigen inneren Monolog und erzählt von seinem Leben und seinen Problemen. Ich habe den kurzweiligen Roman sehr gern gelesen und mich gut unterhalten gefühlt.

Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 01.12.2023
Verlogen / Mörderisches Island Bd.2
Ægisdóttir, Eva Björg

Verlogen / Mörderisches Island Bd.2


ausgezeichnet

Packender zweiter Band der isländischen Krimireihe um die Polizistin Elma
Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat "Verlogen", den neuen Kriminalroman der isländischen Autorin Eva Björg Ægisdóttir, veröffentlicht. Es handelt sich hierbei um den zweiten Band der preisgekrönten Krimireihe um die Polizistin Elma. Ich habe "Verschwiegen", den ersten Band der Reihe, mit großer Begeisterung gelesen. Beide Bücher können sehr gut unabhängig voneinander gelesen werden, da sie unterschiedliche und in sich abgeschlossene Fälle beinhalten.

Kommissarin Elma und ihr Kollege Sævar werden zu einem Lavafeld in Westisland gerufen. In einer versteckt liegenden Höhle wurde eine weibliche Leiche gefunden, und es wird vermutet, dass es sich um die vor 7 Monaten verschwundene alleinerziehende Marianna handelt. Sie hinterließ ihrer 15-jährigen Tochter Hekla einen Abschiedsbrief, in dem sie um Verzeihung bat. Man ging damals von Selbstmord aus, ihre Leiche wurde nicht gefunden, die Ermittlungen bald eingestellt. Marianna nahm Antidepressiva, litt zeitweise unter Alkohol- und Drogensucht und vernachlässigte ihre Tochter, so dass diese seit ihrem dritten Lebensjahr immer wieder bei Pflegeeltern lebte. Seit Mariannas Verschwinden lebt das Mädchen ständig bei ihnen. Nun ist traurige Gewissheit, dass Marianna ermordet wurde.

Die Geschichte wird auf zwei Zeit- und Handlungsebenen erzählt. Im Hier und Jetzt begleiten wir Elma und  Sævar bei ihren Ermittlungen, auf der zweiten Ebene lernen wir die Ich-Erzählerin, eine junge Mutter, kennen, die ein Mädchen zur Welt gebracht hat und mit ihrer Situation überfordert ist. Die Entwicklung der Kleinen verläuft verzögert, spät lernt sie zu sprechen und zu laufen. Der Mutter fällt es schwer, eine Verbindung zu ihrer Tochter aufzubauen. 

Die Ermittlungen gestalten sich schwierig, aber nach und nach gelingt es dem sympathischen Ermittler-Duo, Licht in das Dunkel zu bringen. Bereits damals nach Mariannas Verschwinden vernommene Personen werden wieder befragt, neue Erkenntnisse gewonnen und Mariannas Leben aus einzelnen Puzzleteilen zu einem Ganzen zusammengefügt. 
Es hat mir sehr gut gefallen, dass Elmas Privatleben und das ihrer engsten Kollegen wie im vorherigen Buch einen gewissen Raum einnimmt, ohne zu sehr zu dominieren.
Die Parallelgeschichte um die junge Mutter und ihre Tochter hat mich fast noch mehr gefesselt als der eigentliche Kriminalfall. Ich konnte mich in die Ich-Erzählerin hineinversetzen und ihre Probleme gut nachvollziehen. Das schwierige Mutter-Tochter-Verhältnis und die damit verbundenen Kämpfe haben mich erschüttert, ebenso die Ausgrenzung des Mädchens, als es größer wurde.

Auch das zweite Buch der Autorin hat mich von Beginn an gefesselt. Die Geschichte ist in schönem und klarem Sprachstil geschrieben und liest sich sehr flüssig. Die Spannung steigert sich kontinuierlich und bleibt bis zum überraschenden Ende auf hohem Niveau. Immer wieder legt die Autorin gekonnt falsche Fährten, mehrmals gibt es unerwartete Wendungen. Die Charaktere skizziert sie authentisch und bildhaft.
Das Personenregister am Ende des Buches finde ich im Hinblick auf die doch recht zahlreichen isländischen Namen sehr hilfreich.
Es hat mir große Freude bereitet, diesen ruhigen Krimi zu lesen, der ohne blutiges Gemetzel auskommt, und ich freue mich schon sehr auf den dritten und aller Voraussicht nach leider letzten Band der Reihe.

Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 25.11.2023
Stille Falle / Leo Asker Bd.1
Motte, Anders de la

Stille Falle / Leo Asker Bd.1


ausgezeichnet

Großartiger und spannender Auftakt einer neuen Krimireihe um Leonore Asker
Ich lese gern skandinavische Krimis, daher machten mich der Klappentext und das schön gestaltete Cover sehr neugierig auf "Stille Falle", den ersten Band einer neuen Krimireihe des schwedischen Autors Anders de la Motte - und ich wurde nicht enttäuscht!

Leo Asker ist Anfang Dreißig und hat Jura studiert. Zum Leidwesen ihrer Mutter ist sie danach nicht in die Familienkanzlei eingetreten, sondern hat einen anderen Weg gewählt. Nach einem Praktikum bei der Mordkommission in Philadelphia ist sie an die Polizeihochschule gegangen und mittlerweile als Gruppenchefin in der Abteilung für Kapitaldelikte in Malmö sehr erfolgreich. Die nächste Beförderung ist ihr bereits in Aussicht gestellt worden.

Als die 19-jährige Studentin Smilla Holst und ihr 21-jähriger Freund Malik Mansur spurlos verschwinden und Leo als zuständige Kriminalinspektorin ermittelt, schaltet Smillas wohlhabende Familie die Anwältin Isabel Lissander, Leos Mutter, ein. Der Polizeipräsident schickt zur Aufklärung des Verbrechens Jonas Hellman vom Landeskriminalamt NOA, entzieht Leo den Fall und versetzt sie kurzerhand als Leiterin in die Reserveabteilung, die von allen nur "Abteilung für hoffnungslose Fälle" genannt wird. Leo beginnt, in dem Vermisstenfall auf eigene Faust zu ermitteln ....

Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt. Wir begleiten Leo im Hier und Jetzt bei ihren Ermittlungen und blicken zurück auf ihr Leben und Geschehnisse, die sich 17 Jahre zuvor ereigneten, als sie bei ihrem Vater lebte. Auf weiteren Erzählsträngen folgen wir Smilla, Martin Hill, einem ehemaligen Schulkameraden von Leo, sowie dem Täter. Die Zeitsprünge und Perspektivwechsel sind sehr übersichtlich dargestellt, so dass man der Handlung jederzeit gut folgen kann. Dem Autor ist es hervorragend gelungen, die eigenwilligen Charaktere mit ihren Ecken und Kanten bildhaft und überzeugend zu skizzieren. Sowohl Leo als auch Martin fand ich auf Anhieb sehr interessant und sympathisch.

Der rasant erzählte Krimi ist in schönem und klugem Sprachstil geschrieben und liest sich sehr flüssig. Bereits die erste Seite ist fesselnd, die Spannung steigert sich immer weiter und bleibt bis zum großartigen und unvorhersehbaren Finale auf hohem Niveau. Die geschickt und intelligent konstruierte Geschichte steckt voller Überraschungen. Der Autor hat mich auf falsche Fährten geführt, es gab raffinierte Wendungen, neue Spuren und Erkenntnisse. Es fiel mir schwer, das spannende Buch aus der Hand zu legen, ich habe mitgefiebert und fühlte mich von Anfang bis Ende bestens unterhalten. Ich bin total begeistert und freue mich jetzt schon auf den nächsten Fall von Leo Asker.

Absolute Leseempfehlung für diesen grandiosen Krimi!

Bewertung vom 24.11.2023
Aenne und ihre Brüder
Beckmann, Reinhold

Aenne und ihre Brüder


ausgezeichnet

Bewegende und ergreifende Familiengeschichte
Reinhold Beckmann, der mir als Sportjournalist und empathischer Talkshowmoderator bekannt ist, hat in seinem Buch "Aenne und ihre Brüder" die Lebensgeschichte seiner Mutter aufgeschrieben. 

Am 1.8.1921 erblickt Aenne im niedersächsischen Dorf Wellingholzhausen nach ihren Brüdern Franz, Hans und Alfons das Licht der Welt. Ihre Mutter Elisabeth stirbt, als Aenne 13 Monate alt ist, ihr Vater Mathias heiratet nach Ablauf des Trauerjahres Maria, die Tochter eines Tischlers. Die Geburt seines fünften Kindes, Willi, erlebt Mathias nicht mehr. Er war lungenkrank aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt und wird nur 42 Jahre alt. Seine Witwe Maria heiratet ein zweites Mal und bringt Tochter Lisbeth zur Welt.

Der Autor verknüpft in seinem Buch die politischen Geschehnisse mit der Familiengeschichte seiner Mutter, die mit 14 Jahren zu einer jungen Bauernfamilie in Stellung geschickt wird. Nur am Wochenende kommt sie nach Hause. Ihr Bruder Hans ist der erste der Brüder, die in den Krieg ziehen, er verpflichtet sich für 12 Jahre. Nach und nach werden auch Franz und Alfons eingezogen, kurz vor Kriegsende dann der erst 17-jährige Willi. Keiner der vier Brüder wird den Krieg überleben ....

Das Buch basiert auf zahlreichen Gesprächen, die der Autor mit seiner Mutter geführt hat, und den Feldpostbriefen, die Aenne während des Krieges von ihren Brüdern erhalten und in einem Schuhkarton aufbewahrt hat. Kurz vor ihrem Tod übergibt sie diese Briefe ihrem Sohn Reinhold. Darüber hinaus hat der Autor intensiv recherchiert und auf Bücher und Chroniken der Ortshistoriker sowie Feldberichte, die nach dem Krieg von ehemaligen Angehörigen verschiedener Truppenteile verfasst wurden, zurückgreifen können. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf den Kriegsjahren und den Briefen, die Aenne von ihren Brüdern erhalten hat. Diese Feldpostbriefe seiner Onkel, die er nie kennenlernen durfte, hat der Autor mit der Biografie seiner Mutter und historischen Fakten verwoben. 

Die Geschichte ist eher sachlich erzählt und dennoch sehr berührend. Wir begleiten Aenne von Geburt an und erleben ihre Kindheit und Jugend im sehr katholisch geprägten Wellingholzhausen. Das Zusammenleben mit den Stiefeltern ist für Aenne und ihre Brüder nicht einfach, die älteren Brüder gehen früh eigene Wege. Der Autor beschreibt parallel zum Leben seiner Mutter die entbehrungsreichen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und den aufkeimenden Nationalsozialismus. Durch die Machtergreifung der Nazis ändert sich auch das Leben in Wellingholzhausen, und bald beginnt der Zweite Weltkrieg mit all seinen Schrecken, Verlusten und Gräueltaten. Auch die Rolle der katholischen Kirche im Dritten Reich wird intensiv beleuchtet. 

Das Buch zeigt auf den beiden ersten und letzten Seiten kleine Ausschnitte aus den Feldpostbriefen, neben Fotos im Buch finden wir ab Seite 193 auf 16 Seiten zahlreiche private Fotos. Reinhold Beckmann hat seiner Mutter und ihren Brüdern das berührende Lied "Vier Brüder" gewidmet, dessen Text am Ende des Buches veröffentlicht ist.

Die tragische Geschichte über Aenne und ihre Brüder hat mich sehr bewegt und nachdenklich gemacht. Klare Leseempfehlung von mir für dieses intelligent geschriebene, gut recherchierte und sehr persönliche Buch!

Bewertung vom 19.11.2023
Paradise Garden
Fischer, Elena

Paradise Garden


gut

Einfühlsam erzählte Geschichte mit Schwächen
"Paradise Garden", der in hochwertiges Leinen gebundene Debütroman von Elena Fischer, weckte mein Interesse, nachdem er für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert worden war. 
 
Die Ich-Erzählerin Billie, die eigentlich Erzsébet heißt, ist 14 Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter Marika in einer kleinen Zweizimmerwohnung im 17. Stock eines Hochhauses in eher ärmlichen Verhältnissen. Marika ist in Ungarn groß geworden und mit Billie nach Deutschland gekommen, als diese 2 Jahre alt war. Wer ihr Vater ist, weiß Billie nicht. Marika hält sich und ihre Tochter mit zwei Jobs als Reinigungskraft und Kellnerin über Wasser. Als sie in einem Radioquiz eine kleine Geldsumme gewinnt, beschließen Mutter und Tochter, während der Sommerferien für 4 Wochen nach Frankreich zu reisen. Die Vorbereitungen sind getroffen, das Auto bepackt, als Billies Großmutter aus Ungarn anreist. Die Reise wird verschoben, da die Großmutter ärztlich behandelt werden muss. Nachdem es zu einer Tragödie gekommen ist, beschließt Billie, ihren unbekannten Vater zu suchen ...
 
Das Buch ist in schöner Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Die Protagonistinnen sind präzise und bildhaft gezeichnet, ich konnte sie mir gut vorstellen: hier die Tochter, die in zärtlicher Liebe an ihrer Mutter hängt, und da die etwas chaotische und lebensfrohe Mutter, die immer bemüht ist, den Alltag mit Billie schön zu gestalten und sie bisweilen mit verrückten Einfällen überrascht.
 
Der Alltag der beiden ist sehr einfühlsam erzählt. Obwohl sie nur wenig Geld zur Verfügung haben, lädt Marika ihre Tochter immer mal in ein Eiscafé auf einen "Paradise Garden" ein, den größten Eisbecher, den es dort gibt. Sie hat die Wohnung mit Möbeln eingerichtet, die zum größten Teil vom Sperrmüll stammen, sie selbst schläft im Wohnzimmer auf einer Luftmatratze und überlässt das Schlafzimmer ihrer Tochter. Die beiden sind zufrieden, obwohl Billie immer wieder bei ihrer besten und einzigen Freundin Lea sieht, wie es ist, in wohlhabenden Verhältnissen aufzuwachsen.
 
Die ersten zwei Drittel des Buches habe ich gern gelesen, die Geschichte hat mich gefesselt und berührt, nachdenklich und traurig gemacht. Danach kam es zu einer Wendung, und fortan ließ meine Lesefreude deutlich nach. Die Handlung wurde zusehends unglaubwürdiger, driftete ins Märchenhafte und Kitschige ab. Die Autorin schickt eine 14-Jährige (die allerdings während ihres Roadtrips 15 Jahre alt wird) mit dem alten Nissan ihrer Mutter auf eine mehrtägige Fahrt nach Norddeutschland, befreundete Nachbarn lassen sie unverständlicherweise ziehen, und niemand bemerkt oder nimmt Anstoß daran, dass da ein minderjähriges Mädchen mit dem Auto unterwegs ist. 
 
Obwohl mir das letzte Drittel des Romans nicht gefallen hat, fand ich den Mix aus Sozialstudie, Familien- und Coming-of-Age-Geschichte recht gelungen und bin gespannt auf das nächste Buch der Autorin.

Bewertung vom 10.11.2023
Wilde Minze
LaCour, Nina

Wilde Minze


sehr gut

Bewegende Liebesgeschichte
Die amerikanische Autorin Nina Lacour ist mit ihren Jugendbüchern bekannt geworden. Nun hat sie ihr erstes Buch für Erwachsene vorgelegt. In "Wilde Minze" geht es um die Liebe zweier Frauen, Sara und Emilie.
 
Sara Foster ist 14 Jahre alt und lebt mit ihrem Vater und ihrem Bruder Spencer, um den sie sich seit dem Tod der Mutter vor zwei Jahren hingebungsvoll kümmert, in einem kleinen Haus in Kalifornien. Sie und ihre Freundin Annie sind heimlich ineinander verliebt. Zwei Jahre später bekommt Sara einen Anruf von Annies Zwillingsbruder Dave. Annie ist verschwunden.
Auf einer zweiten Erzählebene lernen wir Emilie Dubois kennen, die mit ihren vielbeschäftigten Eltern Bas und Lauren sowie der drei Jahre älteren Schwester Colette am anderen Ende Kaliforniens lebt. Das Verhältnis zur Schwester ist schwierig, da diese drogenabhängig ist.
 
Die Jahre vergehen. Sara hat ihre Familie verlassen und sich nach bewegten Jahren in Los Angeles ein neues Leben aufgebaut. Sie hat die erlittenen Traumata verdrängt und ist mittlerweile als Barkeeperin, die außergewöhnliche Cocktails kreiert, sehr gefragt. Eines Tages begegnet sie im Restaurant Yerba Buena, für das sie tätig ist, Emilie, die dort regelmäßig die Tische mit kunstvollen Blumenarrangements dekoriert. Es ist bei beiden Liebe auf den ersten Blick, sie fühlen sich sofort zueinander hingezogen, doch jede hat ihre eigene belastende Vorgeschichte ...
 
Mir hat der ruhig erzählte Roman sehr gut gefallen. Er ist fesselnd, in schönem Sprachstil geschrieben und vollkommen kitschfrei. Die beiden Protagonistinnen sind bildhaft skizziert, allerdings hätte ich mir mehr emotionale Tiefe gewünscht. Wir begleiten Sara und Emilie als Einzelpersonen auf ihren unterschiedlichen Wegen und erleben ihre Höhen und Tiefen. 
Ich fand es sehr spannend, Sara und Emilie beim Erwachsenwerden zu begleiten und ihre Entwicklung zu verfolgen. Beide schaffen es nach mehreren Anläufen, im Laufe der Jahre ihre berufliche Erfüllung zu finden. Das Buch, in dem es neben Liebe und Hoffnung auch um Schuld, Verlust und Vergebung geht, behandelt weitere Themen wie Drogensucht und sexuellen Missbrauch. 
 
Leseempfehlung von mir für diese bewegende Geschichte!

Bewertung vom 06.11.2023
Die kleinen Lügen der Ivy Lin
Yang, Susie

Die kleinen Lügen der Ivy Lin


ausgezeichnet

Beeindruckendes und fesselndes Debüt
Im Debütroman "Die kleinen Lügen der Ivy Lin" der amerikanischen Schriftstellerin Susie Yang steht die junge Ivy im Mittelpunkt des Geschehens. Als sie zwei Jahre alt ist, reisen ihre Eltern Nan und Shen ohne sie in die USA aus, während Ivy bei ihrer Großmutter Meifeng in China bleibt. Drei Jahre später lassen sie das Mädchen nachkommen. Ivy sieht in den Eltern zwei Fremde, die Mutter hat inzwischen ein Baby bekommen, den kleinen Austin. Die Großmutter erhält Jahre später die Greencard und darf nun auch in die USA einreisen. In der Familie ist das Geld knapp. Meifeng stiehlt in Geschäften und auf Flohmärkten und leitet Ivy an, es ihr gleichzutun, ohne dabei erwischt zu werden. Als die Eltern erfahren, dass Ivy stiehlt und ohne ihr Wissen auf der Geburtstagsparty von Gideon Speyer war, einem Mitschüler, in den sie verliebt ist, schicken sie ihre Tochter in den Ferien zur Strafe nach China zu einer Tante. 

Die Jahre vergehen, mittlerweile ist Ivy 27 Jahre alt, wohnt nicht mehr bei den Eltern und arbeitet als Grundschullehrerin. Sie träumt davon, mit einem reichen Ehemann ein schönes Leben zu führen. Um ihr Ziel zu erreichen, lügt und betrügt sie. Das Glück scheint zum Greifen nah, als sie Gideon wiedersieht. Doch es drohen Probleme, als eine Person aus ihrer Jugendzeit im Sommerhaus der Speyers auftaucht ...

Die Geschichte hat mir  sehr gut gefallen. Wir erleben Ivy als Kind, das die Eltern mit viel Strenge und Härte erziehen und dem sie wenig Liebe entgegenbringen. Von der Schulzeit bis ins Erwachsenenalter kämpft Ivy verzweifelt darum, dazuzugehören in der Welt der Schönen, Reichen und Weißen, ein Teil von ihnen zu sein. Krampfhaft bemüht sie sich um Anerkennung, passt sich geradezu unterwürfig an und zeigt ihre empathische Seite. 
Das Buch ist in intelligenter Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Die Autorin skizziert Ivy, die nicht nur schön, sondern auch klug ist, mit all ihren Schwächen und Fehlern, zeigt aber auch ihre Verletzlichkeit und lässt uns tief in Ivys Gedanken- und Gefühlswelt blicken. Ich fand Ivy eher bemitleidenswert als sympathisch und konnte ihre Handlungsweisen oft nicht nachvollziehen.

Der Roman, in dem es auch um Rassismus, körperliche Misshandlungen, unterschiedliche Kulturen und Probleme von Einwanderern geht, hat mich von Anfang an gefesselt. Er hat spannende Wendungen und überrascht mit einem unvorhersehbaren und schockierenden Ende. Das Buch ist eine gelungene Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte, düsterer Liebesgeschichte und Psychothriller.

Leseempfehlung für dieses beeindruckende Debüt!