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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

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Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 31.01.2018
Es wird keine Helden geben
Seidl, Anna

Es wird keine Helden geben


ausgezeichnet

Über dieses Buch wurde auf vielen Blogs bereits viel geschrieben. Daher gibt es von mir heute nur wenige Worte:

Originalität:

Bücher über Amokläufe an Schulen gibt es inzwischen viele – aus traurigem Anlass, kommen solche Amokläufe in der realen Welt doch viel zu häufig vor. Was an "Es wird keine Helden geben" direkt aufhorchen lässt, ist das jugendliche Alter der Autorin: Anna Seidl war selber erst 16 Jahre alt, als sie diese Geschichte schrieb, und damit ganz nahe dran an der Lebenswirklichkeit ihrer Charaktere. Diese Nähe spürt man auch, und alleine dadurch liest sich das Buch authentischer und letztendlich origineller.

Spannung:

Es ist weniger ein Buch über die möglichen Ursachen eines Amoklaufs oder die politischen Überlegungen zu Computerspielen oder Horrofilmen, sondern hauptsächlich ein Buch über das Weiterleben und die Verarbeitung nach einem traumatischen Erlebniss. Der Amoklauf selber nimmt erstaunlich wenig Platz im Buch ein, in wenigen rasanten Szenen, dafür wird viel über die Welt davor und die Welt danach geschrieben.

Daher besticht die Geschichte nicht durch handlungsorientierte, sondern durch psychologische Spannung.

Emotionale Wirkung & Charaktere:

Und das fand ich sehr berührend, denn man durchläuft mit der 15-jährigen Miriam wirklich alle Phasen der Trauer, von aggressiver Verweigerung über depressive Annahme bis hin zu zunehmend bewusster Annahme. Da sich die Handlung wirklich sehr stark auf sie alleine konzentriert, bekommt man von den Emotionen der anderen Charaktere zunächst nur am Rande etwas mit.

Aber je mehr Miriam sich mit ihrer Trauer beschäftigt – sich wirklich auf die Trauerarbeit einlässt – desto mehr nimmt sie wahr, wie es den anderen Überlebenden ergeht und dass diese zum Teil ganz anders damit umgehen... Und das nicht unbedingt auf gesündere Weise.

Bei Miriam kommt noch dazu, dass ihre lange verschollene Mutter wieder auf der Bildfläche auftaucht, was sie im ersten Moment weder annehmen will noch kann. Manchmal war mir dieses zusätzliche Problematik fast ein bisschen zuviel für ein Buch, das schon so eine starke zentrale Problematik aufweist.

Schreibstil:

Der Schreibstil ist schnörkellos, jugendlich und nimmt den Leser gerade dadurch mühelos mit ins Geschehen.

Fazit:

Die 15-jährige Miriam überlebt einen Amoklauf an ihrer Schule – ihr Freund jedoch starb vor ihren Augen, und auch den Tod eines anderen Jugendlichen bekam sie unmittelbar mit. Es geht hier nicht um Killerspiele und politische Überlegungen, sondern ausschließlich darum, wie Miriam mit einer Welt umgeht, die für sie von einer Minute auf die nächste eine andere geworden ist.

Die Autorin war selber erst 16, als sie das Buch schrieb, und diese Nähe zum Alter ihrer Protagonistin spürt man auf jeder Seite. Die Geschichte hat etwas Bestechendes, dem ich mich kaum entziehen konnte; sie bringt die Emotionen von Miriam sehr unmittelbar rüber und liest sich unglaublich lebensecht und glaubhaft.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.01.2018
Mein bist du / Sean Corrigan Bd.1
Delaney, Luke

Mein bist du / Sean Corrigan Bd.1


sehr gut

Der Originaltitel des Buches ist "Cold Killing", also "Kaltes Töten" oder "Kalter Mord". Schon im Prolog gewinnt man als Leser einen deutlichen Eindruck davon, warum der Autor diesen Titel wählte, denn er lässt direkt den Täter selber zu Wort kommen:
"Ich hatte mich bereit erklärt, mit meiner Frau und den Kindern in den Park zu gehen. Sie sind drüben auf der Wiese hinter dem Hügel neben dem Teich. Sie haben gegessen und die Enten gefüttert. Jetzt füttern sie ihren Glauben, wir wären eine ganz normale glückliche Familie. Soweit es sie betrifft, sind wir das auch."
Schon diese wenigen Zeilen reichten, um bei mir ein beklemmendes Gefühl zu erzeugen – bevor der Täter überhaupt anfing, über seine Morde zu sprechen. Ihm scheint jegliche Empathie abzugehen: Menschen sind für ihn bestenfalls Werkzeuge und Requisiten, schlimmstenfalls Opfer für seine unbändige Lust zu töten. Und das tut er akribisch geplant, berechnend, ohne den leisesten Hauch von Skrupel.

Im Verlaufe der Geschichte gibt es immer wieder Passagen, die aus Sicht des Mörders geschrieben sind, und am erschreckendsten ist tatsächlich nicht die Gewalt, sondern die absolute, menschenverachtende Gefühlskälte, die aus diesen Szenen spricht.

Und diesem Täter steht ein Ermittler gegenüber, der Mörder besser versteht, als ihm lieb ist.

DI Sean Corrigan hat eine Gabe, die es ihm erlaubt, sich in die Denkweise von Mördern, Vergewaltigern und anderen Tätern hinein zu versetzen. Während es auf Außenstehende oft wirkt wie etwas beinahe Übernatürliches, weiß er es doch besser: seine schwere Kindheit hat ihn dermaßen traumatisiert und geprägt, dass ihn nur noch wenig trennt von den Menschen, die er jagt.

Er kann sie verstehen. Er kann ihren Drang, zu töten, nachempfinden.

Ein wenig machte er auf mich den Eindruck eines trockenen Alkoholikers, der genau weiß, dass er dem Durst niemals nachgeben darf – nicht für einen einzigen Tropfen! –, um sich nicht heillos in der Sucht zu verlieren. Es ist schwer zu sagen, ob er mit sich zu streng ist – ob er wirklich töten könnte. Tatsache ist, dass er sich dessen sicher ist.

Und das gibt dem Duell zwischen Mörder und Ermittler eine ganz eigene Atmosphäre und Spannung. Ich fand sehr interessant, wie der Autor diesen Fall aufbaut: als Leser erfährt man von Anfang an weit mehr, als normalerweise in Thrillern der Fall ist. Viel der Spannung liegt nicht in der Aufklärung der Morde, sondern in der Konfrontation dieser beiden Menschen, die sich bis zu einem gewissen Grad sehr ähnlich sind.

Diese Art der Konstruktion hätte leicht langweilig werden können, falls der Leser zu früh den Eindruck gewinnt, den Fall schon gelöst zu haben. Tatsächlich hat die Handlung aber doch weit mehr an Überraschungen zu bieten, als es über lange Strecken den Anschein macht: man sollte sich nicht zu früh dafür auf die Schulter klopfen! Die tatsächliche Aufklärung ist in meinen Augen brillant konstruiert und lässt im Rückblick einige Szenen in einem anderen Licht erscheinen.

Zugegeben, im Mittelteil gibt es ein paar Passagen, die mir etwas zu langwierig beschrieben waren. Da verrennt sich Sean Corrigan zu sehr in seine Überzeugung, den Mörder perfekt verstehen zu können und dadurch genau zu wissen, was passiert ist, während er dann doch wichtige Hinweise übersieht oder falsch interpretiert.

Dennoch konnte ich mich immer nur widerwillig von dem Buch lösen, wenn Arbeit oder Haushalt riefen.

Am Schreibstil hat mich besonders beeindruckt, wie vollkommen unterschiedlich er klingt, je nachdem, welchem Charakter wir gerade folgen oder wer in einer Szene spricht. Viele Szenen weisen eine dichte Atmosphäre auf, und dann kommt wieder eine Szene aus Sicht des Mörders, die an steriler Gefühlskälte kaum zu überbieten ist.

Ein Hinweis: die Gewalt wird zum Teil sehr explizit beschrieben, da wäre für meinen Geschmack oft weniger mehr gewesen.

Bewertung vom 25.01.2018
Das Wunder
Donoghue, Emma

Das Wunder


sehr gut

"Das Wunder" spielt in Irland, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Krankenschwester Lib Wright ist eine sogenannte 'Nightingale': eine Krankenschwester, die von der berühmten Florence Nightingale persönlich ausgebildet wurde.

Unter deren Leitung hat Lib im Krimkrieg Dienst getan. Diese Zeit hat sie ohne Zweifel stärker gemacht und sie ist sehr stolz darauf, eine Nightingale zu sein – manchmal sogar hochmütig.

Als sie beauftragt wird, für zwei Wochen ein kleines Mädchen zu beaufsichtigen, das angeblich seit vier Monaten keine Nahrung zu sich genommen hat, reagiert sie zunächst mit purer Verachtung für die Menschen im Umfeld des Kindes. Im Grunde ist sie ein sehr widersprüchlicher Charakter: für ihre Zeit ist sie eine moderne Frau, die an die Wissenschaft glaubt, andererseits hängt sie bestürzenden Vorurteilen nach.

Was manchen deutschen Lesern möglicherweise nicht bewusst ist: die Iren hatten im Laufe der Jahrhunderte immer wieder mit anti-irischem Rassismus zu kämpfen, und so standen sie in den Augen vieler Menschen auch im 19. Jahrhundert noch auf dem Status von Untermenschen.

So aufgeklärt Lib auch ist, so sehr schweift ihr Denken oft ab ins Gefilde unhaltbarer Vorurteile. Ich konnte ihren Zorn gegen bestimmte Bewohner des Dorfes meist sogar nachvollziehen, wie zum Beispiel bei den Eltern des Mädchens oder dem Dorfarzt – aber nicht ihre pauschalen Verurteilungen der irischen Natur.

Lib ist sich keineswegs bewusst, dass ihre Vorurteile ihr kritisches, analytisches Denken mindestens ebenso sehr beeinträchtigen, wie der Wunderglaube der Dorfbewohner sie blind macht für die mögliche Not eines kleinen Mädchens.

Daher war Lib mir nicht immer sympathisch, aber sie hat dennoch viele Eigenschaften, die ich bewundere, und sie macht im Laufe des Buches eine große persönliche Entwicklung durch. Gerade weil sie ein so widersprüchlicher Charakter ist, war sie für mich auch so spannend. Je mehr sie sich öffnet für andere Ansichten und andere Lebensarten, desto besser kann man sie verstehen.

Auch Anna, das kleine 'Fastenmädchen', ist in meinen Augen ein so interessanter wie zwiespältiger Charakter: zunächst wirkt sie, als sei sie von ihrer Mutter geradezu abgerichtet worden auf pittoreske Frömmigkeit. Den ganzen Tag betet sie und singt christliche Lieder, während die Besucher sich die Klinke in die Hand geben, um sie um ihren Segen zu bitten und eine Spende in die Sammelbüchse für die Armen zu werfen. Ich brauchte einige Kapitel, um ein Gefühl für Annas eigentliche Persönlichkeit zu bekommen.

Spannend war das Buch für mich vor allem, weil ich mir nie absolut sicher war, ob sich das Wunder als echtes Wunder entpuppen würde, als ausgeklügelter Trick der Eltern – oder etwas ganz Anderes. Die Auflösung ist in meinen Augen glaubhaft, schlüssig und weitaus komplexer als erwartet, allerdings konnten mich die Folgen dieser Auflösung nicht vollends überzeugen.

Die Geschichte ist zutiefst originell, wirft ein interessantes Licht auf die Lebensumstände der Iren im 19. Jahrhundert und lädt den Leser ein, mitzudenken und die Geschehnisse stets zu hinterfragen.

Den Schreibstil fand ich wunderbar, er liest sich flüssig und unterhaltsam, mit einer guten Balance zwischen 'authentisch für die Zeit' und 'gut lesbar für den modernen Leser'.

Fazit:
Irland, Mitte des 19. Jahrhundert. Die 11-jährige Anna nimmt angeblich seit vier Monaten nur Wasser zu sich – ein Wunder, oder ein billiger Trick ihrer Eltern? Krankenschwester Lib Wright, ausgebildet von der berühmten Florence Nightingale, wird damit beauftragt, der Sache auf den Grund zu gehen Gemeinsam mit einer anderen Schwester soll sie das Mädchen zwei Wochen lang Tag und Nacht bewachen, um sicherzustellen, dass sie nicht doch heimlich isst.

Die Autorin bringt den Leser immer wieder ins Zweifeln, und das sorgt für eine ständige Grundspannung. Dazu kommt die interessante Entwicklung der Charaktere, die sich nach und nach als komplex und zwiespältig entpuppen.

Bewertung vom 22.01.2018
Strikers Fall
Leuders, Susanne

Strikers Fall


ausgezeichnet

Dieses Buch ist die Fortsetzung von "Angels Fall" und der Abschluss der Dilogie. Damals hatte ich in meiner Rezension geschrieben:

"Ich hadere ein bisschen damit, das Buch wirklich dem Genre Thriller zuzuordnen - für mich ist es eher ein Jugendroman, dessen Spannung sich vor allem aus den Charakteren ergibt, die alle aus unterschiedlichen Gründen mit ihren eigenen Ängsten, ihrer Wut, ihrem Hass und ihrer Verletzlichkeit zu kämpfen haben."

Als "Strikers Fall" vor ein paar Monaten als schöne Überraschung ins Haus trudelte, stellte ich fest, dass Susanne Leuders mir Folgendes ins Buch geschrieben hatte:

"Dieses Mal steht nicht Thriller drauf, dafür ist mehr drin..."

Tatsächlich kann ich dem nur zustimmen: alleine schon dadurch, dass Amy inzwischen bei der Mordkommission arbeitet, rückt der Fokus mehr auf die Ermittlungen. Denn natürlich ist der Albtraum aus dem ersten Band noch nicht wirklich ausgestanden und Amy muss schon bald damit kämpfen, dass die Mordfälle, an denen sie arbeitet, mehr mit ihrer Vergangenheit zu tun haben, als ihr lieb ist... Wie kann das jedoch sein? Der Täter von damals sitzt doch im Gefängnis – läuft das tödliche Spiel etwa dennoch weiter?

Amy stellt entsetzt fest, dass die Opfer eine frappierende Ähnlichkeit mit Striker aufweisen, was jedoch nur sie zu bemerken scheint... Die Spannung schraubte sich für mich schnell hoch und blieb dann den Rest des Buches auf einem hohen Level, und dabei erschienen manches aus dem ersten Band in einem völlig neuen Licht. Besonders das Ende war für mich eine große Überraschung – und trotzdem schlüssig und glaubhaft.

Dass die Thrillerelemente in diesem Band mehr im Mittelpunkt stehen als im ersten Band, heißt jedoch nicht, dass das, was für mich die große Stärke des ersten Bandes ausmachte, zu kurz käme: die wunderbar dichte Charakterisierung der Protagonisten.

Amy und Striker sind älter geworden, und natürlich haben sie sich verändert; die Autorin hat ihre Hauptcharaktere glaubhaft altern und reifen lassen.

Besonders Amy ist nicht mehr das selbstzerstörerische, wütende Mädchen aus dem ersten Band, den Namen "Angel" kann sie inzwischen nicht mehr ausstehen – und dennoch ist sie immer noch sie selbst: eine komplexe junge Frau mit Stärken, Schwächen und einer schwierigen Vergangenheit, die sie geprägt hat. Auch Striker hat sich verändert und ist doch vom Wesen her immer noch her selbst. Ich habe eine Schwäche für Charaktere, die schwierig und dennoch liebenswert sind, und dazu gehören Amy und Striker auf jeden Fall!

Die Chemie zwischen den beiden ist sofort wieder da, als sie sich nach über fünf Jahren wiedersehen, aber auch das Zaudern und die Unsicherheiten, denn beide haben sich ja eigentlich ein Leben ohne den anderen aufgebaut. Besonders Striker fühlt sich zerrissen: jahrelang hat er darauf gehofft, dass Amy sich irgendwann wieder meldet, und nun taucht sie gerade dann wieder auf, als er endlich eine neue Beziehung eingegangen ist.

Ich konnte die Emotionen beim Lesen richtig spüren! Der Schreibstil liest sich flüssig, baut wunderbar Spannung und Atmosphäre auf und sorgt für Kopfkino. Er passt in meinen Augen perfekt zu dieser originellen Mischung aus Liebesgeschichte und Jugendthriller.

Fazit:
Eine gelungene Fortsetzung, die die Geschichte von Striker und Amy zu einem schlüssigen Ende führt! Im Vergleich zum ersten Band liegt der Fokus hier mehr auf dem Thrill, dabei kommt die emotionale Seite der Geschichte aber dennoch nicht zu kurz. Besonders interessant fand ich, wie sich die Charaktere entwickelt haben – das Buch spielt über fünf Jahre nach dem ersten Band, daher sind aus Jugendlichen Erwachsene geworden, die natürlich nicht mehr exakt genauso handeln und fühlen wie früher. Trotzdem erkennt man sie alle wieder, und ich fand ihre jeweilige Entwicklung passend und gut geschrieben.

Bewertung vom 19.01.2018
Solange du lügst
Waters, Sarah

Solange du lügst


ausgezeichnet

Ich habe dieses Buch zweimal gelesen: einmal 2004 auf englisch, und 2018 auf deutsch und englisch.

Sarah Waters erzählt eine gut konstruierte Gaunergeschichte mit perfiden Wendungen, ein psychologisches Drama, ein Porträt des harten, schmutzigen Alltags in den Armenvierteln der Zeit – und zugleich die Geschichte von zarten Gefühlen zwischen zwei Frauen in einer Ära, als lesbische Liebe als Perversion oder als Wahnsinn gesehen wurde. Eine ungewöhnliche Kombination, die funktioniert, weil die Autorin nichts beschönigt, dem Leser jedoch mit viel Gespür für zwischenmenschliche Nuancen die Charaktere so vorstellt, dass man sie zwar nicht immer lieben, aber zumindest verstehen kann.

Spannend fand ich schon wenigen Seiten, dass die Geschichte aus einem ganz anderen Blickwinkel erzählt wird, als man es als Leserin gewohnt ist: in einem Roman von Charles Dickens wäre Susan wahrscheinlich eher die Antagonistin gewesen als die Protagonistin.

Susan ist aufgewachsen unter Dieben und Hehlern. Das Einzige, was sie von ihrer leiblichen Mutter weiß, ist, dass diese als Mörderin gehenkt wurde – in den Kreisen, in denen sich Susan bewegt, keineswegs eine Schande, sondern fast eine Auszeichnung. Sie hat kaum Gefühl für Recht und Unrecht; anfangs lässt sie sich ohne große Skrupel darauf ein, mitzuwirken an einem Komplott, das eine unschuldige junge Frau um ihr Vermögen betrügen und ins Irrenhaus bringen soll, ersonnen von einem Schurken adliger Abstammung, den die Gauner nur "Gentleman" nennen.

Dennoch war ich bereit, Susan weiter zuzuhören, denn sie erschien mir nicht vollends verloren.

Dann trifft sie auf Maud: die stille, sanftmütige, naive Maud, bei der Susan sich als Zofe einschleichen soll, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Und das erscheint so einfach... Nur dass Susan erstens schon schnell das Gewissen plagt, und sie zweitens Gefühle für Maud entwickelt, die sie nicht recht einordnen kann, weil es nicht die Gefühle sind, die in ihrer Sicht der Welt eine Frau für eine andere entwickeln darf. Dabei soll sie Maud doch dazu bringen, Gentleman zu heiraten...

An dieser Stelle hätte das Buch so stereotyp wie verfrüht enden können, Sarah Waters hingegen macht es sich keineswegs so einfach. Stattdessen wirft man als Leserin einen Blick auf die Seitenzahl und stellt fest, dass man noch nicht mal die Hälfte der Geschichte erreicht hat.

Und ab dieser Stelle werde ich nichts weiter über die Handlung verraten – es juckt mir in den Fingern, mehr zu schreiben, aber dies ist ein Buch, bei dem man beim ersten Lesen auf gar keinen Fall vorher zu viel wissen darf. Man muss ungebremst hineinstürzen in das Kaninchenloch.

Lasst. Euch. Nicht. Spoilern.

Die Charaktere sind brillant geschrieben, gerade weil die Autorin nicht davor zurückschreckt, ihre Schwächen und charakterlichen Abgründe auszuloten.

Susans Gefühle für Maud sind mehr als ein Gimmick, mehr als nur ein Lippenbekenntnis zur Diversität.Und sie sind auch nicht das Wundermittel, dass Susan über Nacht zu einem guten Menschen macht. Sie ist eine zwiespältige Frau mit zwiespältigen Gefühlen.

Um über den Schreibstil zu schreiben, muss ich die Übersetzung erwähnen. Diese ist keineswegs schlecht, aber es geht zwangsläufig etwas verloren von der einzigartigen Sprachmelodie des Originals. Auch die Gaunersprache der Zeit lässt sich nur schwer eins zu eins ins Deutsche übertragen – im Original hat der Schreibstil einfach mehr Atmosphäre.

Großartig fand ich, wie Teile des Buches, die von verschiedenen Charakteren erzählt werden, auch vom Schreibstil her deutlich variieren.

Bewertung vom 17.01.2018
Hello Sunshine
Dave, Laura

Hello Sunshine


ausgezeichnet

#anzeige: Ein Rezensionsexemplar des Buches wurde mir von Blanvalet zur Verfügung gestellt.

Rasch das Brötchen ins rechte Licht gerückt. Sitzt das Sahnehäubchen auf dem Kakao noch? Hmmm. Nein, der Schinken sieht auf dem Foto irgendwie eklig aus, lieber das Marmeladenglas von Oma? Ja, prima, jetzt noch die Ringelstrümpfe ins Bild strecken... *klick* Perfekt, nur noch schnell bei Instagram hochladen.

...ach Mist, jetzt ist der Kakao kalt.

#entspanntessonntagsfrühstück
#breakfastmitlieblingsmensch
#maldieseelebaumelnlassen

Es wird viel geredet über den gläsernen Menschen – und währenddessen teilen wir nicht nur munter unseren Alltag mit der Welt, bis ins schnödeste Detail, sondern erschaffen uns eine Art hochglanztaugliches Scheinleben. Auf Youtube und anderen sozialen Medien wetteifern 'Influencer' um Klicks und Likes, und dabei soll bitte alles schön authentisch wirken.

Wer fragt sich da, ob die Köchin, die immer so freundlich in die Kamera lächelt, wirklich kochen kann? Niemand.

Und genau da setzt das Buch an: Youtube-Sensation Sunshine hat sich ganz nach oben gekocht. Die Menschen lieben sie, ihre Kochbücher verkaufen sich wie geschnitten Brot, die eigene Kochshow im Fernsehen ist schon in der Planung... Und dann kommt es raus: alles fake. Die Rezepte sind nicht von ihr, ihre ganze Lebensgeschichte ist erstunken und erlogen – und sie kann nicht mal kochen.

#aintnosunshine #warwohlnixmitsonnenschein

Da ist es eine echte Leistung der Autorin, dass mir Sunshine dennoch sympathisch war. Ja, sie hat Fehler gemacht. Einige Fehler. Dumme Fehler. Aber sie ist kein schlechter Mensch, sondern einfach hineingerutscht in die ganze Geschichte. Eine kleine Lüge hier, eine kleine Lüge da, tut doch niemandem weh...

#lügenhabenkurzebeine

Manchmal hätte ich sie gerne geschüttelt und gesagt: Wach auf, Sunny – jetzt ist Ehrlichkeit angesagt, wenn du dein Leben wieder in die Spur bringen willst! Aber gleichzeitig hätte ich ihr am liebsten die Hand gehalten auf ihrem steinigen Weg der Selbstfindung.

Laura Dave lässt ihre Heldin gnadenlos scheitern, ganz tief abstürzen. Dabei verzichtet sie auf bekömmliche Lösungen und zuckersüße Klischees, sondern serviert das Ganze mit einer guten Prise Humor. Die Sozialkritik kann man noch rausschmecken, aber ohne moralinsauren Beigeschmack.

Und das fand ich großartig. Ich habe mitgefiebert von der ersten bis zur letzten Seite. Immer, wenn ich dachte, ich wüsste, wie dieses oder jenes sich entwickeln würde...

#fehlanzeige

Sunshine ist so komplex wie lebensecht, und auch die anderen Charaktere fand ich wunderbar geschrieben. Ihre Schwester Rain war mir anfangs so unsympathisch, dass ich das ein oder andere Mal empört nach Luft geschnappt habe, aber natürlich steckt dahinter mehr: eine lange Geschichte der gegenseitigen Enttäuschung und Verletzung. Rains außergewöhnliche Tochter Sammy hingegen habe ich von Anfang an geliebt! Sie ist ein außergewöhnliches, hochbegabtes Mädchen, das sich nicht die Bohne darum schert, was andere von ihr erwarten – damit ist sie das krasse Gegenteil von Sunshine und wird gerade deswegen sehr wichtig für ihre Tante.

Dazu kommen Nebencharaktere, die direkt aus dem Leben gegriffen scheinen, wie zum Beispiel der grummelige Chefkoch Z, dem die ganze Aufmerksamkeit zum Hals raushängt. Ihm geht es ums Kochen und nur ums Kochen, und für Fernsehköche hat er höchstens abgrundtiefe Verachtung übrig.

#bittegehmirausdenaugen #fernsehenistfüridioten

Die Geschichte hat wesentlich mehr Tiefgang, als ich von Cover und Klappentext her erwartet hätte! Die Autorin lässt Sunshine selber ihre Geschichte erzählen, und das in einem locker-leichten Schreibstil, der diesem Tiefgang dennoch keinen Abbruch tut.

Bewertung vom 15.01.2018
Dunkelschwester
Thomas, Kara

Dunkelschwester


ausgezeichnet

Dieser Thriller wird für Jugendliche ab 14 Jahren empfohlen – in meinen Augen ist jedoch eine wesentliche Eigenschaft gut geschriebener Jugendbücher, dass man sie auch Ü18 lesen kann, ohne sich zu langweilen oder das Gefühl zu haben, zu alt dafür zu sein.

"Dunkelschwester" ist meines Erachtens so ein Jugendbuch.

Ganz unabhängig von der Altersempfehlung ist es ein clever konstruierter Thriller, der schnell spannend wird und diese Spannung dann bis zum Schluss halten kann, und das ohne bis ins kleinste Detail geschilderte Gewalt oder literweise Blut. Im Zweifelsfall wird einfach gesagt, wie schockiert die Menschen beim Anblick der Fotos der Opfer sind, ohne dass diese wirklich beschrieben werden.

Auf dem Weg zur Auflösung gibt es mehr als eine großartige Wendung, die ich so nicht kommen sah, die ich aber glaubhaft und schlüssig fand. Ich habe mit Tessa, der jungen Heldin, mitgefiebert und mitgerätselt – und wie sie habe ich mehrmals meine Meinung geändert, wer hinter den Morden steckt und warum! Am Ende war dann doch alles wieder ganz anders, erklärte aber im Rückblick die ganzen Ungereimtheiten und scheinbaren Widersprüche.

Das Buch ist für mich mehr als 'nur' ein Thriller: es ist auch ein Familiendrama, eine Geschichte von wahrer Freundschaft und Vergebung, ein interessanter Blick auf soziale Unterschiede innerhalb einer Kleinstadt. Tessa hat in ihrem Leben schon viel erlebt, darunter viel Schlimmes: Sie kommt aus einer Familie, in der nie genug Geld da war, dafür aber immer zu viel Alkohol. Ihr Vater kam wegen versuchten Mordes ins Gefängnis, als sie ein kleines Mädchen war, dann wurde die Cousine ihrer besten Freundin Callie ermordet... Und die beiden Kinder fanden sich als Hauptzeugen in einem Mordprozess wieder, was nicht nur ihre Freundschaft zerstörte, sondern auch das, was von Tessas Familie noch übrig war.

Tessa erzählt ihre Geschichte authentisch und ohne künstliches Drama, aber voller Emotion. Überhaupt halte ich sie für eine wunderbare, vielschichtige Protagonistin, die sicher nicht perfekt ist, aber gerade in ihren Schwächen durch und durch menschlich und sympathisch.

Die Charaktere, die eine größere Rolle spielen, fand ich alle sehr gut geschrieben. Es gibt ein paar Nebencharaktere, die etwas blass und eindimensional bleiben, die aber auch nicht wirklich wichtig für den Verlauf der Geschichte sind, weswegen es mich nicht sonderlich gestört hat. Eigentlich ist es ja nur realistisch, dass Tessa nicht jedem Menschen gleich viel Aufmerksamkeit schenkt und sie daher auch nicht alle gleich ausführlich beschreibt.

Was ich am meisten am Schreibstil bewundere, ist, wie flüssig und unterhaltsam er ist, und wie unverfälscht er gleichzeitig klingt. Tessa hat eine ganz eigene 'Stimme', bei der ich manchmal vergaß, dass sie nur eine Romanfigur ist.

Mein Fazit:

Zwei kleine Mädchen, Tessa und Callie, bringen in einem spektakulären Verfahren durch ihre Aussage einen Serienmörder ins Gefängnis.

Ein paar Jahre später sitzt das "Monster" immer noch im Todestrakt und Tessa kehrt in ihren Heimatort zurück, um ihren sterbenden Vater im Gefängnis zu besuchen. Sie hat zunehmend mit Zweifeln zu kämpfen: haben Callie und sie damals wirklich das Gesicht des Mörders gesehen oder sich das nur eingebildet? Sie beruhigt ihr Gewissen damit, dass die Morde danach tatsächlich aufhörten...

Nur, dass kurz nach Tessas Rückkehr ein weiteres Mädchen verschwindet.

"Dunkelschwester" ist ein Jugendthriller, den ich auch als erwachsene Leserin sehr interessant fand. Er ist vielschichtig, mit einigen unerwarteten Wendungen, und auch über den Mordfall hinaus interessant, denn man gewinnt einen tiefen Einblick in das Seelenleben der jungen Protagonistin und ihre schwierige Kindheit.

Bewertung vom 14.01.2018
Der Engel des Bösen / Winter und Parkov Bd.2
Krüger, Martin

Der Engel des Bösen / Winter und Parkov Bd.2


sehr gut

Die Handlung klingt erstmal so perfide wie gradlinig: ein wahnsinniger Täter zwingt seine zukünftigen Opfer in einer selbstherrlichen Inszenierung dazu, ihren eigenen Tod per Video anzukündigen und eine Frage oder Aufgabe zu stellen, für deren Lösung die Ermittler der Mordkommission dann einen sehr eng begrenzten Zeitrahmen erhalten. Gelingt diese Lösung, so verspricht er, wird das Opfer verschont. Und so läuft der Countdown...

Derweil steigt nicht nur beim Leser die Spannung (und steigt und steigt und steigt), sondern die Ermittler geraten zunehmend an ihre Grenzen, es kommt zu Differenzen innerhalb des Teams – und der Zorn der Öffentlichkeit richtet sich immer stärker nicht nur gegen den Täter, sondern auch gegen die scheinbar erfolglose Polizei.

Für mich sind es vor allem die beiden Hauptcharaktere, die das Buch tragen.

Marie Winter ist eine sympathische junge Mutter, die es meist nicht einfach hat, dies mit ihrer Arbeit als Hauptkommissarin der Mordkommission zu vereinbaren, aber dennoch nie in Erwägung zieht, aufzugeben. Sie kann unglaublich stur sein, und obwohl sie manchmal fast zusammenbricht, ist sie entschlossen und geht bis an ihre Grenzen – oder darüber hinaus.

Daniel Parkov hingegen kam mir vor wie eine Mischung aus Sherlock Holmes, Batman und Michael Knight. Mit Holmes verbindet ihn die messerscharfe Intelligenz, die soziale Inkompetenz und der ältere Bruder, der ihn in beidem noch übertrifft, dabei jedoch ein sehr mächtiger und auch skrupelloser Mann ist. Wie Batman besitzt Parkov ein großes Herrenhaus mit einem Butler, der weit mehr ist als nur ein Butler, und das vollgestopft ist mit Technologie vom Allerfeinsten. Und wie Michael Knight fährt er ein Auto mit einer überaus menschlich wirkenden künstlichen Intelligenz.

Dennoch ist Parkov ein überaus interessanter Charakter, der trotz dieser Parallelen eine ganz eigene, starke Persönlichkeit hat. Zusammen ergeben Winter und Parkov ein Ermittlerduo, das sich gut ergänzt, auch wenn er sich oft über die Regeln hinwegsetzt.

Der Fall entpuppt sich als zunehmend vielschichtig und verwickelt, dabei aber solide und schlüssig konstruiert. Einige Entwicklungen haben mich wirklich überrascht, und bis zum Schluss konnte ich die Auflösung des Ganzen nicht erraten. Bis zu einem gewissen Punkt fand ich das Buch unglaublich spannend und glaubhaft – danach leider nur noch spannend, denn da überspannte der Autor in meinen Augen den Bogen der Glaubwürdigkeit.

Das lag überwiegend an Parkovs Auto, beziehungsweise 'Elvis', der damit verbundenen künstlichen Intelligenz. Nicht nur die Spracherkennung ist anscheinend perfekt, Elvis ist auch in der Lage, sehr allgemein formulierte Anweisungen ohne Rückfrage so zu interpretieren, dass er genau die gewünschten Informationen heraussucht. Der Name einer Person und "Überprüf sie." reicht aus – schon bedient sich die KI an Fallakten und stellt ungefragt nützliche Querverbindungen zum Hintergrund anderer Personen her.

Wozu braucht man da eigentlich noch die Ermittler?

In einer Superheldengeschichte kann ich so etwas hinnehmen – in einem realistischen Thriller wirkt es auf mich wie ein Hilfsmittel, um die Handlung schnell voran zu treiben, und das wäre meines Erachtens gar nicht nötig gewesen. Der Autor kann doch schreiben und hat vorher auch ohne Elvis wunderbar Spannung aufgebaut! Was mich ebenfalls gestört hat, sind Kleinigkeiten, die sich nicht stimmig auflösen: so ist die IT-Abteilung der Mordkommission anscheinend nicht in der Lage, ein Passwort zu knacken, das sich später als vierstellig und sehr einfach herausstellt.

Der Schreibstil liest sich locker und flüssig. Größtenteils fand ich ihn sehr ansprechend, aber manchmal fand ich die verwendeten Metaphern und Bilder nicht schlüssig oder zu übertrieben, wie zum Beispiel:

"Seine elektronisch verzerrte Stimme erinnerte an einen fernen, kalten, unnachgiebigen Felsen, der einsam durchs All trieb."

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.01.2018
Nach dem Schweigen
Drews, Christine

Nach dem Schweigen


sehr gut

Christine Drews liefert mit "Nach dem Schweigen" einen soliden Thriller mit einer vielschichtigen Handlung, einigen falschen Fährten und unerwarteten Wendungen, sowie einer Vielzahl von Charakteren mit ihren jeweiligen Perspektiven. Das Ergebnis ist originell, absolut kein Thriller nach Baukastensystem – und nach leichten Einstiegsschwierigkeiten konnte mich das Buch auch überzeugen.

Aber zunächst zu den Charakteren:

Im Mittelpunkt steht die junge Saskia, deren Tante Ellen sich gerade umgebracht hat. Dies war jedoch nicht der erste traumatische Todesfall in ihrem Leben: als sie fünf Jahre alt war, stürzte ihre Mutter von einer Klippe und starb, und danach übernahm Ellen die Mutterrolle für Saskia und deren Bruder Max. Da Saskia eine Therapie macht, sehen wir einen Teil der Geschichte durch die Augen ihres Psychiaters.

Dann spielt natürlich Ellen selber eine Rolle, und durch sie auch ihr Mann Georg – und die attraktive Haushälterin, mit der Georg vielleicht oder vielleicht auch nicht ein Verhältnis hatte.

In einer Nebenhandlung geht es um Jack, vor dessen Erdgeschosswohnung Ellen aufschlug, und den jetzt seine Vergangenheit wieder einholt, in der er eine moralisch verwerfliche Entscheidung traf. Seine Ex-Geliebte Sienna hängt in dieser Geschichte mit drin, und lange bleibt unklar, ob die Vergangenheit der beiden nun mit Ellens Tod zu tun hat oder nicht.

Dann gibt es noch Naomi, ein junges Mädchen, das abgerutscht ist in Drogensucht und Beschaffungskriminalität. Im Rausch sieht sie etwas, was sie für eine Wahnvorstellung durch einen Horrortrip hält... Aber tatsächlich wird sie dadurch für jemanden gefährlich.

Ich fand die Charaktere alle gut geschrieben, komplex und mit unverwechselbaren "Stimmen". Gerade durch die vielen wechselnden Perspektiven blieb die Geschichte für mich immer spannend, und die Autorin schafft es auch wunderbar, die verschiedenen Handlungsstränge nach und nach zusammenzuführen.

Saskia selber war mir sehr sympathisch, und sie ist auch eine starke Protagonistin, die bei aller Trauer doch nie erwägt, den Kopf in den Sand zu stecken. Sie stellt mehrere Theorien auf zum Tod von Ellen, und während mir nicht alle davon plausibel erschienen, brachte mich die ein oder andere doch ins Grübeln...

Ich habe Rezensionen gelesen, die darüber klagen, die Perspektive des Psychiaters sei langatmig oder unnötig, aber für mich war sie sogar mit das Interessanteste! Vielleicht liegt es daran, dass ich mich generell sehr für Psychologie interessiere, aber ich fand die Überlegungen zu Kindheitstrauma und Stellvertreterrollen im Traum sehr spannend.

Naomis Geschichte nimmt mehr Platz ein, als mir rückblickend für ihre Rolle im Kriminalfall angemessen erscheint – und da am Schluss auch einiges offen bleibt, frage ich mich, ob es wohl eine Fortsetzung geben wird? Nicht, dass ich ihre Perspektive langweilig gefunden hätte, ganz im Gegenteil! Ich habe sehr mit ihr mitgefiebert, denn obwohl sie furchtbare Entscheidungen trifft, ist sie doch eigentlich nur ein Teenager, der das alles nicht verdient hat.

Die Auslösung, wer nun wirklich hinter allem steckt, fand ich gut gelungen. Sagen wir mal so: die Auslösung hat mehrere Ebenen, und während ich mir eine davon schon nach etwa der Hälfte des Buches gedacht hatte, erwischte mich die andere eiskalt.

Meine anfangs erwähnten Einstiegsschwierigkeiten hatten mit dem Schreibstil zu tun, mit dem ich mich zunächst schwer tat. Für die komplexe Geschichte erschien er mir zu einfach strukturiert, mit eher kurzen Sätzen, manchmal sogar etwas flach. Nach ein paar Kapiteln war ich jedoch 'drin', und danach las sich die Geschichte auch flüssig.

Bewertung vom 02.01.2018
App to Date
Bernard, Carine

App to Date


sehr gut

"Zu wenig Blut für einen Thriller, zu viel Romantik für einen Krimi und zu viel Mord für eine Liebesgeschichte..."
(Webseite der Autorin)

Was mir an den Krimis von Carine Bernard immer wieder gut gefällt, ist genau diese lockere Mischung: genau das richtige, um sich gemütlich mit Buch, Tee und Flauschedecke aufs Lesesofa zurückzuziehen.

Leider neige ich bei ihren Büchern dazu, mich schnell auf den richtigen Täter einzuschießen. Auch hier hat mich die Enthüllung des Täters nicht überrascht, aber dennoch fand ich das Buch unterhaltsam, denn die Frage, ob auch Jenny rechtzeitig zwei und zwei zusammenzählen würde, blieb ja erstmal offen! Außerdem war noch zu klären, wie der Täter bestimmte Dinge überhaupt so deichseln konnte, wie er es tat. Dennoch hätte ich mir gewünscht, ich hätte als Leserin länger miträtseln können, denn das ist für mich ein Großteil des Spaßes an einem Krimi.

Einer der interessantesten Aspekte der Geschichte war für mich die Dating-App, die dem Buch ihren Namen verleiht. Die Avatare anderer 'Dater', die sich in der Nähe aufhalten, werden auf der Karte eingeblendet, und zwar je nach 'Kompatibilität' in rot, gelb oder grün. Mit einem Klick kann man dann um ein Date bitten – und zwar ohne das Geringste über den anderen zu wissen! Es gibt keine Profile, keine Fotos, man erfährt nicht mal den richtigen Namen. (Also irgendwie das Gegenteil von Tinder.)

Die Idee, dass es hier nicht um oberflächliche Schönheit geht, erscheint auf den ersten Blick durchaus sympathisch, bis man sich klarmacht, dass die App nur deswegen so gut funktioniert, weil sie alles über dich weiß. ALLES. Du hast gerade Fotos von niedlichen Kätzchen angeschaut? Ist verbucht. Du verbringst viel Zeit bei Starbucks? Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass dein nächstes Date ein koffeinabhängiger Tierfreund ist.

Jenny, die Protagonistin, war mir sehr sympathisch: sie ist offensichtlich intelligent, sie hilft neben der Arbeit in der Suppenküche aus und scheint überhaupt ein Mensch mit Prinzipien zu sein. Eine starke Frau, die man nur mögen kann! Ja, sie gehört zu dem Team, das "App to Date" mitentwickelt, aber ihr geht es nicht ums Geld, sondern nur um die Forschung. Das Verwerflichste, was sie tut, ist, dass sie sich ab und an mit einem falschen Profil in die App einloggt, um sich zu Testzwecken mit nichtsahnenden 'Datern' zu treffen, aber bisher hat das ja noch niemandem geschadet. Oder? So richtig bewusst ist sie sich nicht, wie heikel es ist, dass die App wirklich ALLES über die Nutzer ausliest und auch als Rohdaten abspeichert... Gläserner kann man als Mensch gar nicht werden! Und das Thema ist natürlich eines, was heutzutage vielen Menschen unter den Nägeln brennt.

Jakob ist ebenfalls ein netter Kerl, auch wenn er bisschen zu abhängig von seinem Onlinespiel ist. Andererseits wäre er ohne diese Macke vielleicht auch zu perfekt gewesen! Natürlich weiß er erstmal nichts davon, dass Jenny sich mit anderen Männern getroffen hat, um die App zu testen... Und natürlich kann das nicht ewig gut gehen.

Die Liebesgeschichte zwischen den beiden ist süß, entwickelt allerdings noch nicht viel Tiefgang, einfach, weil sie im Laufe des Buches gar nicht so viel Zeit miteinander verbringen können. Aber man hat den Eindruck, die App hat das schon ziemlich gut berechnet, dass die beiden perfekt zueinander passen!

Ein paar der Nebencharaktere fand ich ebenfalls sehr gelungen, wie Jennys beste Freundin Dana, ihren Bruder Marc oder den hünenhaften, aber gutherzigen Obdachlosen Adrian. Andere blieben dagegen noch ein bisschen blass, aber auch das liegt wahrscheinlich daran, dass die Handlung sich innerhalb relativ kurzer Zeit abspielt.

Der locker-leichte Schreibstil der Autorin gefällt mir immer wieder gut, und besonders die Schilderung der Örtlichkeiten ist sehr plastisch und gut vorstellbar. Wenn man sich in Düsseldorf auskennt (was ich nicht tue!), erkennt man bestimmt das ein oder andere wieder.