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miss.mesmerized
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Deutschland
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https://missmesmerized.wordpress.com/

Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 10.03.2018
Der Reisende
Boschwitz, Ulrich Alexander

Der Reisende


ausgezeichnet

Eine Woche im Leben des Otto Silbermann. Zu Beginn ist er erfolgreicher Geschäftsmann, hat Familie und ein geregeltes Leben. Am Ende ist ihm nichts geblieben davon. Aber wen wundert‘s, es ist 1938 in Deutschland und Silbermann ist Jude. Nachdem ihn sein Geschäftspartner betrogen hat und seine Wohnung verwüstet wurde, versucht Silbermann mit dem Geld, das ihm noch geblieben ist, zu seinem Sohn nach Paris zu fliehen. Doch da dieser kein Visum beschaffen kann, reist Silbermann quer durch Deutschland. Von Berlin nach Aachen. Von Aachen nach Dortmund. Wieder nach Berlin. Nach München. Immer vor der Angst als Jude erkannt und verhaftet zu werden. Nach Tagen fast ohne Schlaf, gezeichnet voller Panik und Sorge, kommt es schließlich wie es kommen musste: das Ende ist nah und gar nicht mehr schlimm, sondern fast eine Erlösung.

Ulrich Alexander Boschwitz hat in seinem Roman „Der Reisende“ viel autobiografisches Material untergebracht. Auch er floh vor der immer schlimmer werdenden nationalsozialistischen Verfolgung quer durch Europa, hat Internierung und Camps miterlebt und hielt dennoch an seinem Wunsch, seinen Erlebnissen literarischen Ausdruck zu verleihen, fest.

Der Roman nimmt einem unmittelbar gefangen. Die Ereignisse, die der unheilvollen Woche im November 1938 zugrunde liegt, sind historisch gut belegt und bekannt – aber was man mehr als Abfolge von Ereignissen im Geschichtsunterricht erlernt, bekommt durch die Erlebnisse von Boschwitz‘ Protagonisten eine ganz andere Note. Es sind vor allem die grotesken Alltagserlebnisse und die unsäglichen Ausflüchte der Menschen, die einem beim Lesen fast verzweifeln lassen ob der unglaublichen Absurdität. Zunächst die Beschwichtigungen, Silbermann ist Jude, ja, aber er sieht ja nicht so aus und er solle doch dankbar sein, dass man sich nicht gleich ganz gegen ihn wende. Man habe ihn immer gemocht, aber er müsse doch verstehen, die Zeiten und man könne ja nicht anders. Immer haben die Juden profitiert, jetzt müssten doch endlich mal die anderen dran sein. Die ganze Palette an Ausflüchten, lächerlichen Gründen und vorgeschobenen Argumenten bietet Boschwitz auf, um seinen Protagonisten langsam verzweifeln zu lassen. Die immer schnellere Abfolge von Zügen, mit denen er flüchtet, spiegeln seine steigende Verzweiflung wieder, da wundert sein Gedankengang am Bahnsteig nicht:

„Eigentlich brauche ich nur nach vorne zu springen, mich einfach fallen zu lassen, vor den Zug, dachte er. Alles ist dann vorbei und gänzlich unwichtig.“

Viele der Figuren verkörpern das typische Verhalten der damaligen Zeit. Silbermanns Schwager, der sich von ihm nicht ruinieren lassen will, obwohl Silbermann ihm stets geholfen hatte, und der eine Beherbergung auch nur für wenige Tage kategorisch ablehnt. Sein Ex-Geschäftspartner, der die Propaganda der Partei glaubt und die Ermordung des Botschaftssekretärs als legitimen Grund für die Vernichtung der Juden ansieht. Der Kommissar, bei dem er einen Diebstahl anzeigen will und der ihn schon vorab der Lüge bezichtigt, rein auf Basis seines Glaubens.

Boschwitz muss es so gegangen sein wie Silbermann, als dieser gegen Ende des Romans feststellt:

„Ich habe jetzt oft das Gefühl...die Welt ist verrückt...das heißt, ich weiß nichts mehr mit ihr anzufangen...“

Mehr kann man zu den realen Geschehnissen nicht sagen. Und viel besser lassen sie sich auch kaum einfangen als es Boschwitz mit seinem Roman getan hat. Ein Zeitzeugnis, das vermutlich, obwohl rein literarisch, mehr Realität beinhaltet, als man sich vorstellen konnte.

Bewertung vom 06.03.2018
Das Kaff
Böttcher, Jan

Das Kaff


sehr gut

Schon jung hat der Architekt Michael Schürtz sein Heimatdorf verlassen, um in Berlin die Karriere zu verfolgen. Ein Großauftrag bringt ihn nun zurück in den Ort, den er quasi seit 20 Jahren nicht mehr betreten hat und für den er nur Verachtung übrig hat. Die Kleingeister vom Lande entsprechen schlichtweg nicht seinen Erwartungen. Doch bald schon vermischen sich Erinnerungen mit neuen Begegnungen. Ein totkranker Freund, auch die eigenen Geschwister und natürlich der lokale Fußballverein, bei dem nicht ganz freiwillig, aber doch irgendwie stolz, plötzlich zum Trainer der C-Jugend ernannt wird. Was zieht ihn eigentlich noch zurück in die Großstadt? Der Karrieredruck, die oberflächlichen Gespräche der High Society? Oder kann er sich eine Zukunft inmitten der Dorfgemeinschaft vorstellen?

Jan Böttchers Protagonist ist zunächst ein wenig karikaturenhaft gezeichnet. Der großspurige Städter, der natürlich nicht in einem trauten Heim mit Ehefrau und Kind lebt, sondern freier Junggeselle ist, der das Leben und die Vorzüge der Hauptstadt in vollen Zügen genießt. Sein letzter Besuch liegt nur ein Jahr zurück, die Abifeier, dort trat er als „Überraschungsgast, Stargast“ auf – er ist nicht mehr nur einer, der auf diesem Dorf groß geworden ist, er hat es geschafft in der Großstadt. Voller Arroganz blickt er auf die lokale Zeitung hinab, die das berichtet, was die Menschen vor Ort bewegt, ihm aber banal und herabschauenswürdig vorkommt. Es dauert, bis Micha Schürtz erkennt, was die Menschen haben, was sie ihm als Großstädter voraushaben und vor allem, dass sie einander haben.

Der Roman besticht durch alltägliche Banalität. Jan Böttcher berichtet nicht von den großen, weltbewegenden Ereignissen, die global für Aufregung sorgen oder die das Leben der Figuren mit einem Schlag vollends ändern. Er fängt das Normale, Gewöhnliche ein und hält dem Leser dieses dann wie einen Spiegel vor: wie stehst Du denn dazu? Neigst Du etwa auch zu einer leichten Verachtung gegenüber den Menschen, die nicht das hippe Stadtleben gewählt haben? Genau diese Haltung verkehrt sich im Laufe der Handlung. Schleichend. Langsam. Ohne auslösendes Element. Man kann sich ändern, Meinungen überdenken und womöglich zur Erkenntnis kommen, dass man sich jahrelang getäuscht hat.

„Das Kaff“ ist einer der eher leisen Romane, die aber ein wunderbares Portrait unserer Zeit sind und vor allem der durchschnittlichen Menschen, die keine Superhelden sind, ihre kleinen Macken und Ecken und Kanten haben, manchmal auch einfach Fehler machen. Nein, das Leben ist nicht immer rosarot, aber es gibt gute Tage. Genau diese vermeintliche Trivialität einzufangen und lesenswert wiederzugeben, darin liegt die Stärke des Romans.

Bewertung vom 27.02.2018
Solange du lügst
Belle, Kimberly

Solange du lügst


ausgezeichnet

Ein Flugzeugabsturz erschüttert Iris und die Schule, in der sie als Psychologin arbeitet. Dem ersten Schreck folgt jedoch die Erleichterung, ihr Mann Will kann nicht in diesem Flieger gesessen haben, schließlich wollte er ja nicht nach Seattle. Doch schon kurz danach erscheint er auf der Liste der Opfer. Wie kann das sein? Er war doch auf dem Weg zu einer Konferenz, Iris hat ja sogar die Einladung gesehen. Sie beginnt Fragen zu stellen und nachzuforschen. Schnell muss sie erkenne, dass sie den Mann, mit dem sie seit sieben Jahren verheiratet war, überhaupt nicht kannte. Seine Kindheit in Memphis: eine Lüge. Der Tod seiner Eltern: eine Lüge. Ihr ganzes Leben: ebenfalls eine Lüge? Nur ein Freund, der Will angeblich aus dem Fitnessstudio kannte, steht ihr bei. Doch als Wills Arbeitgeber mit Anschuldigungen wegen Betrugs und dem Diebstahl mehrerer Millionen Dollar auf sie zu kommt, merkt Iris, dass auch sie sich in Gefahr befindet. Dass sie permanent anonyme Nachrichten auf ihr neues Handy erhält, die sie eindringlich warnen, macht die Situation nicht einfacher.

Das Grundmuster des Thrillers ist recht bekannt: eine Frau wird durch ein schreckliches Ereignis erschüttert und findet dann nach und nach Anzeichen dafür, dass ihr Partner sie über Jahre hintergangen und belogen hat. Sie beginnt Nachforschungen anzustellen und erkennt, dass ihr ganzes Leben auf einem Lügengebilde aufgebaut ist und nichts, woran sie glaubte, der Wahrheit entspricht. Obwohl dieser Plot auch schon in anderen Romanen verarbeitet wurde und man durchaus gewisse Vorahnungen hat, konnte mich Kimberley Belle mit ihrem Thriller packen und überzeugen.

Die Suche nach Antworten läuft in recht hohem Tempo, die Reise einerseits in Wills Vergangenheit, liefert ein Puzzlestück nach dem anderen, um so ein neues Bild des Ehemanns zu ergeben – kein besonders positives noch dazu. Parallel geht aber auch die Gegenwart voran und gleich mehrere für die Protagonistin unbekannte Männer treten in ihr Leben. Dass man als Leser hier vorsichtig wird, ist nicht überraschend, die Frage bleibt jedoch, wer von diesen hilfsbereiten Menschen es tatsächlich gut mit ihr meint und wer ihr Böses will. So gelingt es der Autorin doch eine recht hohe Spannung zu schaffen und den Leser im Ungewissen zu lassen. Der Fall wird am Ende sauber gelöst, alle losen Fäden miteinander verbunden und die Motive ebenfalls einleuchtend dargelegt. Ein rundherum überzeugender Thriller, der die Erwartungen voll erfüllen kann.

Bewertung vom 26.02.2018
Achtzehn Hiebe
Gavron, Assaf

Achtzehn Hiebe


ausgezeichnet

Eitan Einoch verdient seinen Unterhalt als Taxifahrer in Tel Aviv. So hat er noch genügend Zeit für seine Tochter Noga, die zwischen ihm und seiner Exfrau pendelt. Eine charmante ältere Dame, die er zu einer Beerdigung fährt, ist von seinem Fahrstil und der netten Unterhaltung im Auto so angetan, dass sie ihn als regelmäßigen Fahrer engagiert, denn täglich macht sie sich auf zum Grab des jüngst Verstorbenen. Eitan ist neugierig, was es mit Lotta Perl und dem Briten, der gerade erst nach Israel kam und dennoch dort beerdigt werden wollte, auf sich hat. Lotta erzählt ihre Lebensgeschichte, die Liebe zwischen ihr und dem Soldaten zu Zeiten des britischen Mandats und wie diese unheilvoll auseinanderbrach. Aber Lotta erzählt nur einen Teil der Geschichte, den Rest müssen Eitan und sein Freund ermitteln, schnell zeigt sich nämlich, dass der betagte Ex-Soldat keines natürlichen Todes gestorben ist und dass es bald noch weitere Leichen geben wird.

Assaf Gavron vermischt in seinem aktuellen Roman eine spannende Kriminalgeschichte mit der Geschichte der Gründungszeit Israels. Er wechselt durch die Erzählungen der Figuren zwischen der Gegenwart und den Ereignissen mehr als sechs Dekaden zuvor. So entsteht eine lebendige Erzählung, die jedoch hauptsächlich von ihren Figuren lebt. Der Protagonist Eitan liebt das Leben und weiß es sich gutgehen zu lassen. Sein Privatleben leidet jedoch unter der Trennung und eine neue Partnerin zu finden ist gar nicht so einfach, obwohl die Frauen ihm sehr deutliche Avancen machen. Interessanter ist jedoch Lotta Perl, eine Frau mit Geschichte, die clever die Geschehnisse lenkt und nur preisgibt, was ihr sinnvoll und nützlich scheint. Einerseits sympathisch, ist sie doch auch gerissen und so schwankt man als Leser, ob man sie mögen soll und Verständnis für ihr Handeln hat oder sie wegen ihres Egoismus doch eher verachtet. Ihr Gegenspieler aus alten Zeiten steht ihr dabei in nichts nach.

„Achtzehn Hiebe“ greift nicht nur eine schwierige Episode in der israelischen Geschichte auf, es ist auch eine Hommage an Gavrons Heimat. Sein Protagonist kurvt durch sein geliebtes Tel Aviv und lässt den Leser an der Geschichte und der Schönheit der Stadt teilhaben. Der unverwechselbare jüdische Humor, auch die Fähigkeit über sich selbst zu Schmunzeln, darf natürlich nicht fehlen und verleiht dem Roman eine eigene Note. So erscheint der Roman trotz der ernsthaften Thematik leichtfüßig und unterhaltsam. Assaf Gavron konnte mich leicht als Leserin gewinnen und neugierig auf seine weiteren Bücher machen.

Bewertung vom 25.02.2018
The Bad Daughter
Fielding, Joy

The Bad Daughter


sehr gut

Many years ago, Robin has left her hometown of Red Bluff and cut all connections with her family. It was when her father married her then best friend and her brother’s fiancée soon after their mother had died of cancer. She simply couldn’t forgive him. In L.A. she started a new life as a therapist and was about to marry Blake. Now, she needs to go back because her father has been fatally wounded, his wife shot dead and the twelve-year-old daughter seriously injured by some gunmen who entered the house at night. Her sister Melanie isn’t very keen on welcoming her back, Robin had always been their mother’s favourite. But now the two have to get along somehow and help the police find the murderer. But they soon figure out that things aren’t that easy and when Melanie’s son and their brother Alec come under suspicion, things are complicated while the real criminal is running free...

Joy Fielding is one of the best-known contemporary thriller writers and “The Bad Daughter” can hold up to the expectations. A cleverly constructed plot, multifaceted characters who do not show their real face immediately and several leads that only lead you to dead ends make a round and sound story.

Setting the story in a dysfunctional family where there are many unsaid things buried under the surface and which can surprise you again and again with the characters’ unexpected yet credible behaviour was definitely a clever step. The fact that you do not really like all the characters just makes them more authentic and the story a lot livelier.

Even though I am not sure if I really find the solution 100 percent convincing, I liked the novel. It is not an absolutely fast-paced and nerve-wrecking thriller, but the looming danger of the perpetrator still being around surely was responsible some goose bumps.