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miss.mesmerized
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Deutschland
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https://missmesmerized.wordpress.com/

Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 24.02.2018
Der große Bruder
Gerritsen, Esther

Der große Bruder


sehr gut

Kurz bevor sie zu einem wichtigen Meeting muss, erhält Olivia einen verstörenden Anruf von ihrem Bruder Marcus, mit dem sie seit über einem Jahr nicht gesprochen hat. Er sei auf dem Weg in den OP und man wisse nicht, ob man sein Bein retten könne. Seit Jahren schon ist er Diabetiker und hat es nie so genau genommen mit dem, was die Ärzte empfohlen haben. Olivia kann sich nur noch kurz zusammenreißen, bevor sie ihren Arbeitsplatz verlässt und zum Krankenhaus eilt. Ihren Bruder erkennt sie kaum mehr wieder und die Amputation war tatsächlich nicht vermeidbar. Schuldgefühle überkommen sie und so bietet sie Marcus an, bei ihr und ihrer Familie vorläufig unterzukommen, nicht ahnend, dass dies ihre Balance völlig zum Wanken bringen und sie die Kontrolle über ihr Leben verlieren wird.

Esther Gerritsens Roman, aufgrund der Länge wohl eher Novelle, zeichnet nach, wie schnell das fragile Gebilde Alltag zum Wanken und Einstürzen kommen kann. Dank der Arbeit und den zahlreichen Aufgaben rund um die Familie kann die Protagonistin lange Zeit die Augen vor den tatsächlichen Problemen verschließen und immer weitermachen. Keine Zeit für die Beziehung und ihren Mann, keine Zeit für die Frage, was sie selbst eigentlich vom Leben erwartet, keine Zeit für ihren Bruder und dessen Sorgen. Erst durch die Durchbrechung des Alltags mit dem Einzug von Marcus werden all die verdeckten Konflikte zum Vorschein gebracht.

Besonders gelungen ist der Autorin zu zeigen, wie ein Mensch versucht, den Schein zu erhalten, hinter der äußerlich sichtbaren Fassade funktioniert und doch schon spürt, wie langsam alles einreißt und vom Zusammenbruch bedroht ist. Auch die säuberliche Trennung zwischen Beruf und Privatleben wird zwangsweise aufgehoben und plötzlich drohen die beiden Selbstbilder miteinander zu kollidieren. Authentisch wirken ihre Figuren allesamt, der nachlässige Bruder ebenso wie der Ehemann, der seine Sorgen und Nöte für sich behält, bis die Katastrophe sich nicht mehr aufhalten lässt. Allen voran jedoch Olivia, die zwischen den Erwartungen der Außenwelt und ihrer Gefühlswelt ins Chaos gerät und sich plötzlich mit essentiellen Fragen konfrontiert sieht.

Ein kleiner Denkanstoss, der einlädt, einen Blick auf das eigene Lebenskonstrukt zu werfen.

Bewertung vom 19.02.2018
Die Herzen der Männer
Butler, Nickolas

Die Herzen der Männer


sehr gut

Drei Generationen schwieriger Vater-Sohn bzw. Mutter-Sohn Beziehungen nimmt Nickolas Butler in seinem Roman „Die Herzen der Männer“ ins Zentrum seiner Erzählung. Zunächst Nelson, ein Außenseiter, der nur von seiner Mutter richtig geliebt wird. Der Vater abweisend und brutal, er wünscht sich einen anderen Sohn, nicht so verweichlicht, sondern einen der cool ist und von den lauten Jungs anerkannt wird. Das zeigt sich vor allem im Sommercamp Chippewa im ländlichen Wisconsin, wo Nelson einiges erleiden muss. Nur der Campleiter Wilbur unterstützt ihn und in Jonathan hat er einen weiteren Jungen auf seiner Seite. Als Erwachsener wird er Jonathans Sohn Trevor im Camp begrüßen und noch eine Generation später dessen Enkel Thomas. Das Camp und die brutalen Erfahrungen dort verbinden die Generationen, ebenso wie die bedingungslose Liebe der Mütter und das schwierige Verhältnis zum Vater.

Butler zeigt, wie das Leben Narben, die äußerlich sichtbaren und und die unsichtbaren, bei den Figuren hinterlässt, wie Beziehungen prägend für die Entwicklung sind und wie wichtig ein guter Geist ist, der eine schützende Hand über die Kinder und Jugendlichen hält, um sie zu schützen. Die Geschichte erzählt aber auch, wie ein Junge, der keinen einfachen Start ins Leben hat, sich durchbeißen kann und am Ende über sich selbst hinauswächst, selbstlos und mutig sein Leben opfert für andere und nie vergisst, was man einst für ihn getan hat.

Die unterschiedlichen Zeitpunkte der Handlung sind auch im Erzählstil variiert, im ersten ist der Fokus auf dem jungen Nelson und seinen Camperlebnissen als Außenseiter. Hier ist eine klassische Kinder- und Jugendgeschichte zu finden mit all den Abenteuern und bösen Streichen, wie man sie in dieser Umgebung erwarten würde. Im zweiten erleben wir Nelson und Jonathan als erwachsene Männer, dieser Abschnitt war für mich der schwächste insgesamt. Erst im dritten Teil mit der Rückkehr zum Camp findet Butler wieder zu seiner erzählerischen Stärke und lässt vor allem überzeugend die Handlung langsam aber zielstrebig auf einen grausamen Höhepunkt zusteuern.


Eine typisch amerikanische Geschichte, geprägt von den Traditionen und Ansichten der ländlichen Bevölkerung, die oftmals nicht aus ihrer Haut können und denen es oft auch nicht gelingt, neue Lebensentwürfe zu schaffen. Erzählerisch stark mit überzeugenden verbindenden Elementen zwischen den einzelnen Buchabschnitten.

Bewertung vom 18.02.2018
Olga
Schlink, Bernhard

Olga


ausgezeichnet

Früh schon hat Olga ihre Eltern verloren und wächst bei der Großmutter auf. Dort lernt sie Herbert kennen, Sohn eines Gutsbesitzers. Die kindliche Freundschaft wird geduldet, eine Liebesbeziehung lehnen Herberts Eltern und seine Schwester jedoch ab, Olga ist nicht standesgemäß. Doch die beiden lieben sich und zwischen seinen Welterkundungsexpeditionen trifft sich Herbert immer wieder mit Olga, die ihrerseits ihren Weg gegen alle Widerstände geht. Sie wird Lehrerin und bestreitet ihr Leben eigenständig. Als Herbert bei einer seiner Touren im arktischen Norden verschallt, bleibt Olga nur noch ihm Briefe postlagernd nach Norwegen zu schicken und zu hoffen, dass er sie irgendwann nach seiner Rückkehr wird lesen können.

Olgas Leben wird von Bernhard Schlink zunächst chronologisch angelegt, man erfährt vom Tod ihrer Eltern, der Kindheit und Jugend mit Herbert und dessen Schwester, ebenso wie die Zeit als junge Erwachsene, als Herbert bereits allerlei Erkundungen über alle Kontinente hinweg unternimmt. Bisweilen habe ich mich hier gefragt, weshalb der Roman nach der weiblichen Protagonistin benannt ist, zu sehr ist man mit Herberts Erlebnissen beschäftigt. Schlinks narrativer Kniff kommt später, als er zu Olga zurückkehrt und von ihrem weiteren Leben, nachdem ihr Geliebter in die Arktis aufgebrochen ist, berichtet. Eine interessante Konstruktion hat Schlink gefunden auch nach dem Tod Olgas noch bei ihr zu sein, Lücken zu füllen und manches in einem anderen Licht erscheinen zu lassen.

Natürlich geht es um das Schicksal einer Frau, noch dazu einer, der im Leben nichts geschenkt wird, die eisern an ihren Idealen festhält, sich immer wieder auf neue Situationen und Gegebenheiten einstellen muss und sich tapfer durchbeißt, egal wie widrig die Umstände sind. Es entsteht so auch eine Chronik der deutschen Geschichte vom Ende des Kaiserreichs bis in die Gegenwart, die exemplarisch an Olga erzählt wird.

Bernhard Schlink ist ohne Frage einer der bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren, der aus dem schlichten und gewöhnlichen Leben eine besondere Geschichte zu stricken vermag. Einmal mehr verwebt er im aktuellen Roman die reale Geschichte mit der fiktiven und belegt, dass kein Leben im luftleeren Raum stattfindet, sondern immer auch durch Zeit und Ort geprägt ist. Bemerkenswert wie er den Bogen zwischen öffentlich und privat, über die Jahrzehnte und Generationen hinweg zu spinnen vermag und den Leser in die fremden leben eintauchen lässt, so dass man Ende den Eindruck hat, die Figuren tatsächlich gekannt zu haben. Ein rundum gelungener Roman, den man am Ende zufrieden und mit etwas Wehmut zuschlägt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.02.2018
Abifeier
Nil, Eric

Abifeier


sehr gut

Eigentlich hat sich das Leben nach der Scheidung ganz gut eingerenkt. Nachdem er Basel und seine Familie verlassen und in Hamburg ein neues Leben samt neuer Partnerin begonnen hat, läuft für den Ich-Erzähler alles in ruhigen Bahnen. Auch als seine Tochter Nora zu ihm zog, hatte nicht viel verändert. Die Patchwork Familie hat ihren eigenen Rhythmus gefunden, in dem die Ex-Partner ihren festen Platz am Rand haben. Jetzt allerdings steht der Abiball an und daran sollen natürlich alle Familienmitglieder teilnehmen. Doch wie kann man alte und neue Familie arrangieren, ohne dass sich jemand auf die Füße getreten fühlt? Es scheint ein Ding der Unmöglichkeit.

Der kurze Roman greift eine recht typische Situation unserer Zeit auf: Beziehungen beginnen und enden und gehen mit irgendwelchen Fragmenten in neue über. Familien entstehen neu, bilden temporäre Zweck- und Lebensgemeinschaften, bis sie sich wieder auflösen. Irgendwie gelingt es den meisten dabei sich zu arrangieren und einen halbwegs tragbaren Kompromiss zu finden. Bis auf die Ausnahmesituationen althergebrachter Rituale, zu denen die modernen Lebensformen nicht passen und die von allen beteiligten das Äußerste verlangen.

Der drohende Abiball versetzt den Ich-Erzähler in eine maximale Stresssituation. Allein schon die Frage, in welcher Konstellation gemeinsam am Tisch gesessen werden soll, bereitet ihm Kopfschmerzen. Ganz zu schweigen davon, wie die Ex- und neuen Partner miteinander bekanntgemacht werden sollen. Man kann das Grübeln über diese eigentlich banalen Fragen gut nachvollziehen, es gibt schließlich kein Patentrezept und hochgradig peinliche Momente drohen, gerät man unvorbereitet in eine solche Situation. Nur wie will man sich darauf ernsthaft vorbereiten?

Der Grundkonflikt des Romans ist offenkundig, allerdings hatte ich mit einem etwas amüsanteren Text gerechnet. Eric Nil jedoch verleiht dem Erzähler eine ausgesprochen grüblerisch-negative Stimmung, die keinen Raum für Humor und Gelassenheit lässt. Seine etwas verklemmt-gehemmte Art verhindert jede Lockerheit im Umgang miteinander und macht das Lesen bisweilen etwas anstrengend. Auch war mir das Lamentieren über die gescheiterte Vater-Sohn-Beziehung eher mühevoll zu lesen und ich hätte auf so manche Teenager-Beziehungstragödie verzichten können. Zwar wirkt der Ton so realistisch und authentisch – es ist leicht vorstellbar, wie sich viele Menschen ob einer solchen Lage den Kopf zermartern – aber bei mir konnte es nur begrenzt Begeisterungsstürme auslösen.

Bewertung vom 13.02.2018
Freshwater
Emezi, Akwaeke

Freshwater


gut

Their prayers have been heard and the god Ala sent them a baby girl: Ada, named in honour of the generous goddess. Yet, it comes with a plus, Ada is not alone, she has got some characters living in her mind, still asleep, but eager to wake up and take over the body given to them. The first two to arrive and take care of Ada and her siblings in their Nigerian village. Later, in America, when another of the voices awakes and takes over control over Ada‘s body, things turn out differently. For the world outside, it is hidden what is going on inside Ada‘s head, once she tries to tell a therapist, however, the voices that possess her are stronger and find a way out of this dangerous situation.
Akwaeke Emezi‘s novel „Freshwater“ was all but easy to read for me. First of all, I had some difficulty understanding who is telling the story, it took me some time to figure out that the voices in Ada‘s head are the narrators. So, we are mostly inside her mind, but sometimes we get what happens outside, too.
You cannot really say that Ada is mad even though she hears voices and follows their command. It was especially when she hurt herself to calm down the first two voices, Smoke and Shadow, that was hard to endure. The third who made her act promiscuously wasn‘t much better. They are evil, after all, misusing an innocent human to fulfil their wishes and greed. I am not sure if it works like this with people hearing voices, even if it is somewhat different, this seems to be horrible. On the other hand, Ada obviously experienced some very bad incidents and the voices were somehow able to split those memories from her normal memory thus making her forget these experiences. Maybe this is the cause why the voices could develop after all.
It is always hard to like a novel if you detest the protagonist or narrator. Thus, „Freshwater“ is not a novel I could fall for easily. Still, I consider the topic highly interesting and, ultimately, the author found a convincing way of making the voices heard for us.

Bewertung vom 13.02.2018
The Woman in the Window - Was hat sie wirklich gesehen? (eBook, ePUB)
Finn, A. J.

The Woman in the Window - Was hat sie wirklich gesehen? (eBook, ePUB)


sehr gut

Schon seit Monaten hat Anna Fox ihr New Yorker Haus nicht mehr verlassen. Die erfolgreiche Kinderpsychologin leidet unter Agoraphobie und ihre Angst lähmt sie schon bei dem Gedanken daran, die Tür nach draußen zu öffnen. Mit Alkohol und Tabletten ertränkt sie ihre Sorgen und beschränkt sich auf das, was sie von ihrem Fenster aus beobachten kann. Die neuen Nachbarn von gegenüber beäugt sich skeptisch und als sie einen Mord beobachtet, muss sie handeln. Doch die Polizei will ihr nicht glauben, ohne Opfer ist der Fall auch schwierig. Anna kommen Zweifel, hat sie doch zu viel getrunken und unter den Medikamenten halluziniert? Aber sie hat es sich nicht eingebildet und langsam aber sicher merkt sie, dass sie selbst in Gefahr schwebt.
Mit „The woman in the window“ ist A.J. Finn ein würdiger Nachfolger für die erfolgreichen Krimis der letzten Jahre gelungen, locker kann er mit Gone Girl und Girl on the Train mithalten. Einmal mehr steht eine Frau im Zentrum, für die man als Leser einerseits Zuneigung und Sympathie empfinden kann, jedoch immer auch Zweifel mitschwingen: kann man ihr trauen? Erinnert sie sich wirklich richtig oder sind doch Alkohol und Medikamente Schuld an dem, was sie zu sehen glaubt.
Die Figurenzeichnung ist dem Autor hervorragend gelungen, Anna ist vielschichtig und tiefgründig. Sie hat ihre Schwächen, ohne Frage, und je mehr sich ihre Vorgeschichte entfaltet, desto leichter lässt sich auch nachvollziehen, wie sie zu der Frau werden konnte, die sie zu Beginn der Handlung ist. Man will ihr gerne glauben und spürt die Zweifel, die an ihr nagen. Warum glaubt man ihr nicht? Gibt es doch noch mehr, was sie nicht sieht und wahrnimmt, oder erlaubt sich jemand ein perfides Spiel mit ihr?
Ein rundherum gelungener Thriller, der sich nicht beiseite liegen lässt, mit überraschenden Wendungen punkten kann und von einer interessanten Protagonistin lebt.

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