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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 01.02.2016
Jagdrevier / Embla Nyström Bd.1
Tursten, Helene

Jagdrevier / Embla Nyström Bd.1


gut

Als Autorin der Irene Hus-Romane, Kommissarin der Kripo Göteborg, ist die Schwedin Helene Tursten den Lesern hierzulande keine Unbekannte, zumal diese auch für das Fernsehen verfilmt wurden. Mit ihrem Kriminalroman „Jagdrevier“ (erschienen bei btb, übersetzt von Lotta Rüegger und Holger Wolandt) eröffnet sie nun eine neue Reihe, in deren Zentrum die Polizistin und erfolgreiche Boxerin Embla Nyström steht. Ich kann mich zwar an ihren Auftritt nicht mehr erinnern, aber diese hat, wie das Nachwort verrät, offenbar bereits gemeinsam mit Irene Hus in einem Fall ermittelt.

Wie jedes Jahr fährt Embla Nyström an ihren freien Tagen im Herbst aus der Stadt heraus und geht gemeinsam mit ihrem Onkel Nisse und seinen Freunden auf die Jagd nach Elchen. Das gemeinsame Jagen hat Tradition und wurde vor vielen Jahren von drei Freunden ins Leben gerufen. Es ist eine verschworene Gemeinschaft, die sich immer in der gleichen Zusammensetzung trifft. Aber in diesem Jahr gibt es ein neues Gesicht in der Gruppe: Peter, ein geheimnisvoller Heimkehrer, dessen Schwester vor Jahrzehnten nach einer solchen Jagd spurlos verschwunden ist und von dem sich Embla magisch angezogen fühlt. Doch es bleibt ihr nicht viel Zeit, die neue Liebe zu genießen, denn offenbar befindet sich in der Gruppe ein Teilnehmer, dessen Beute keine Elche sind…

Bei diesem Kriminalroman habe ich gemischte Gefühle. Bereits die letzten Bände der Irene Hus-Reihe konnten mich schon nicht mehr hundertprozentig überzeugen, und ähnlich geht es mir auch mit „Jagdrevier“. Der Kriminalroman zeigt gute Ansätze, ist nun aber nicht gerade ein Pageturner. Keine Frage, Helene Tursten schreibt routiniert und gradlinig, flicht entsprechende Landschaftsbeschreibungen und Detailwissen zur Jagd ein, kann aber die Distanz zu den Personen nicht aufbrechen und somit auch keine Sympathien wecken. Und das ist meiner Meinung nach das eigentliche Defizit des Romans. Die Geschehnisse werden aus der Sicht Emblas geschildert, die aber sehr blass und wenig originell bleibt. Mir fehlen hier Informationen zu den Eigenschaften, die sie als Individuum zeigen. Hier hätte ich mir mehr Fleisch an den Knochen gewünscht.

So sticht dieser Reihenauftakt leider nicht aus der Masse der skandinavischen Kriminalromane heraus und bleibt leider nur Mittelmaß.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.01.2016
Die Spur der Rubine
Hill, Tobias

Die Spur der Rubine


sehr gut

Es sind drei Brüder, die die Hauptrolle in dem Roman „Die Spur der Rubine“ des englischen Autors Tobias Hill spielen (C. Bertelsmann Verlag). Der Roman ist im Original bereits 2001 erschienen, liegt aber erst jetzt in der deutschen Übersetzung von Karl-Heinz Ebnet vor. Bei den drei Brüdern handelt es sich aber nicht um Geschwister, sondern um drei Rubine von außergewöhnlicher Schönheit, die in einem Schmuckstück verarbeitet waren, das sich ursprünglich im Besitz der englischen Königin Elisabeth I. befand. Durch die Jahrhunderte wechselte es mehrmals den Besitzer, überschritt mit diesen die Landesgrenzen und verschwand schließlich spurlos. Katherine Sterne, eine junge Frau mit einem fast schon obsessiven Interesse an dieser Brosche, stellt Nachforschungen an und macht sich schließlich im Hier und Jetzt danach auf die Suche, nicht ahnend, dass sie diese durch die verschiedensten Länder bis nach Japan führen wird.

„Die Spur der Rubine“ ist ein sehr ambitionierter Roman, der in den verschiedensten Gewändern daherkommt. Eingangs erinnert er eher an ein Sachbuch, vollgestopft mit trockenen Informationen über Edelsteine und deren Handel. Als Einstieg ist dieser Teil sehr anstrengend zu lesen, viel zu langatmig und zu sehr ins Detail gehend. Deshalb bedarf es auch einiger Überwindung, damit man diese Passagen nicht ungelesen überblättert, wobei ich die Informationen aber auch nicht zwingend notwendig finde

Aber ab dem Zeitpunkt, an dem die eigentliche Handlung einsetzt, wird die Geschichte interessant, und auch der Stil wandelt sich vom eher sachlichen hin zum literarischen. Der Autor wechselt zwischen den verschiedenen Zeitebenen und Orten mit den jeweiligen Protagonisten, einerseits Katherine Sterne in der Gegenwart, andererseits die Levys, zwei jüdische Juwelenhändler im viktorianischen London. Die Schilderungen der kulturellen Hintergründe sind lebhaft und spannend und ergänzen sich. Beeindruckend ist die Fähigkeit des Autors mit Sprache umzugehen. Poetische Beschreibungen alltäglicher Dinge kreieren die besondere Atmosphäre dieses historischen Romans, der auf die in diesem Genre fast schon üblichen Gefühlsduseleien getrost verzichten kann.

Bewertung vom 29.01.2016
Cops
Burgess, Matt

Cops


sehr gut

Janice Itwaru, die Protagonistin in Matt Burgess‘ Roman „Cops“ (Suhrkamp Nova) ist ein Uncle, ein Undercover-Cop im Drogendezernat des NYPD. Ihr Einsatzgebiet ist Queens, der New Yorker Stadtteil, der durch seine große ethnische Vielfalt geprägt ist. Janice ist dunkelhäutig, wie die meisten ihrer Kollegen, die mit ihr auf den Straßen unterwegs sind. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man sich die Rolle anschaut, die sie als verdeckte Ermittlerin dort spielen muss. Ihre Aufgabe ist es, als Drogenkonsumentin aufzutreten und als potenzielle Kundin in Kontakt mit den entsprechenden Dealern zu kommen. Wenn der Handel dann über die Bühne geht, nehmen die Cops des NYPD die Verhaftung vor. Und dafür gibt es Vorgaben, ein festgelegte Kontingent, das Janice erreichen sollte.

Sie ist ambitioniert und engagiert, arbeitet hart, um ihren Traum zu verwirklichen, Detective zu werden. Fast ist es geschafft, als sich ihr unerwartete Hürden in den Weg stellen. Zum einen werden mit einer neuen Vereinbarung die vorgegebenen Zahlen für die zu initiierenden Festnahmen in astronomische Höhen geschraubt. Das bedeutet größeren Druck und vielleicht auch die eine oder andere unvorsichtige Handlung, die dazu führen kann, dass ihre Tarnung auffliegt. Gefährlich für Leib und Leben. Zum anderen steht das 115. Revier, dem Janice angehört, seit neuestem unter Beobachtung. Es gibt es anscheinend Unregelmäßigkeiten, die die Internen auf den Plan gerufen haben, was die Arbeit auf der Straße natürlich auch nicht einfacher macht…

Wie bereits der Titel vermuten lässt, ist „Cops“ ein Polizeiroman im wahrsten Sinne des Wortes. Aber nicht nur. Es ist auch das Porträt einer Metropole jenseits von Glanz und Glamour, reduziert auf die elementarsten Bedürfnisse ihrer Bewohner. Und es ist die Geschichte einer jungen Frau, die täglich unvorstellbare Risiken eingeht, um ihren Lebenstraum zu verwirklichen.

Mich haben Burgess‘ Beschreibungen dieses Stadtteils bereits in seinem Erstling „Die Prinzen von Queens“ sehr beeindruckt. Er ist dort aufgewachsen, kennt die Straßenzüge, die Ecken, die Kneipen, die er sowohl dort als auch in „Cops“ im Detail beschreibt, wie seine Westentasche und zeichnet so das authentische Bild des Lebens in den Straßen von Queens. Aber auch die Menschen mit ihren Wünschen und Sehnsüchten und deren alltäglichen Überlebenskampf.

Bewertung vom 29.01.2016
Tomatenrot
Woodrell, Daniel

Tomatenrot


ausgezeichnet

„Tomatenrot“ ist eines der frühen Bücher Daniel Woodrells, 1998 im Original erschienen und 1999 mit dem PEN West Award ausgezeichnet, eine deutsche Taschenbuch-Ausgabe war seit 2001 auf dem Markt. Bei Liebeskind, dem deutschen Verlag des amerikanischen Autors, hat man sich nun dankenswerter Weise dazu entschlossen, diesen Roman nicht nur neu aufzulegen, sondern ihn auch von Peter Torberg neu übersetzen zu lassen, einem der besten seiner Zunft.

West Table ist ein fiktiver Ort in den Ozarks, jene Region, die für den Autor Daniel Woodrell Lebensmittelpunkt und Inspiration ist und sein Schreiben maßgeblich beeinflusst hat. Die Gegend ist trostlos und das Leben dort ist geprägt von Armut, Drogen und Gewalt. Recht und Gesetz werden willkürlich gehandhabt, da die örtliche Polizei Zuwendungen und Gefälligkeiten gegenüber nicht abgeneigt ist. Und wer hier nicht mithalten kann oder will, wird sehr schnell zum Außenseiter.

In Venus Holler, dem Viertel „wo die Frauen den kürzesten Weg zum Sozialamt kennen und am Kühlschrank die private Nummer eines Kautionsvermittlers klebt“, meilenweit entfernt vom amerikanischen Traum, treffen sich Sammy, ein Streuner, der gerade seinen Job in der Hundefutterfabrik verloren hat und obdachlos ist, das Geschwisterpaar Jason, der Gutaussehende, der in einem Friseursalon Haare wäscht und seine Schwester Jamalee mit den tomatenroten Haaren, eine clevere junge Frau, deren sehnlichster Wunsch es ist, dieses perspektivlose Leben hinter sich zu lassen. Und dann gibt es noch Bev, die Mutter der Geschwister, einst eine Schönheit, die ihren Lebensunterhalt mit Prostitution bestreitet. Jamalees Plan beruht auf Jasons Aussehen, das ihm die Bewunderung der weiblichen Bevölkerung sichert. Im Klartext, sie möchte, dass er sich prostituiert und ihnen mit den Erlösen das Ticket in ein anderes, ein besseres Leben sichert. Es sind nämlich nicht nur die Ungerechtigkeiten, die aus den Gegensätzen zwischen Arm und Reich resultieren, denen sie entfliehen wollen, es ist auch die brachiale Gewalt seitens der „echten Kerle“, der man sich besser fügt, wenn man nicht um sein Leben fürchten möchte. Und das gilt nicht nur für Frauen…

Wie auch in seinen späteren Romanen erzählt Woodrell in „Tomatenrot“ mit messerscharfen Worten eine Geschichte von unten, von Menschen, deren Schicksal bereits bei der Geburt feststeht. Wenn man aus den Ozarks kommt, und nicht in eine Country Club sondern eine „white trash“ Familie hineingeboren wird, gibt es in den seltensten Fällen ein Entkommen. Ganz gleich, wie sehr man sich bemüht. Es sind diese Tatsachen, die der Autor in realistischen Bildern vermittelt, wobei er seine Figuren aber nicht in weinerliches Selbstmitleid abdriften lässt. Obwohl sie sich ihrer Chancenlosigkeit durchaus bewusst sind, lassen sie nicht dennoch nicht entmutigen, sondern gehen mit einer gehörigen Portion Optimismus an die Verwirklichung ihrer Pläne. Rückschläge stecken sie weg, und vielleicht schaffen sie es doch eines Tages. So wie Daniel Woodrell…der nach ein paar Jahren aber wieder in die Ozark Mountains zurückgekehrt ist.

Bewertung vom 17.01.2016
Schattenschläfer / Detective Heckenburg Bd.4
Finch, Paul

Schattenschläfer / Detective Heckenburg Bd.4


ausgezeichnet

Üblicherweise bin ich kein Freund von Thrillern, in denen die Taten eines Serienmörders im Zentrum der Handlung stehen, denn meist verzichten diese zugunsten blutiger Beschreibung der Morde auf die detaillierte Ausarbeitung des Plots, der Personen und der Handlungsorte. In der Mark „Heck“ Heckenburg-Serie des englischen Autors Paul Finch geht es auch blutig zu, aber Finch, ehemaliger Polizist, beschreibt nicht nur die Polizeiarbeit sehr realitätsnah, sondern hat auch ein Händchen, wenn es darum geht, eine stimmige Atmosphäre zu kreieren. Und genau deshalb mag ich die Reihe. Mittlerweile sind vier Heckenburg-Thriller erhältlich, der aktuelle Band trägt den Titel „Schattenschläfer“ (alle erschienen bei Piper).

Cumbria im Nordwesten Englands, der Novembernebel hängt zäh über diesem spärlich besiedelten Teil des Lake Districts, nach seiner Strafversetzung das neue Einsatzgebiet Mark Heckenburgs. Vor zehn Jahren trieb in dieser Gegend ein Mörder sein Unwesen, der Paaren auflauerte, die Männer gleich umbrachte, die Frauen aber zuerst folterte, ihnen dann die Augen ausstach, bevor er auch sie tötete. Für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurde er jedoch nie. Gemma Piper, Hecks ehemalige Vorgesetzten bei Scotland Yard, konnte ihn zwar verhaften und ihm eine Schussverletzung zufügen, aber er konnte entkommen.

Jeder Polizist in England kennt diesen Fall, so natürlich auch Heck als ehemaliger Angehöriger der Serial Murder Crime Unit von Scotland Yard. Und so zieht er auch sogleich eine Verbindung zu diesem Fall, als ein junges Mädchen von einem Spaziergänger orientierungslos aufgefunden wird, der Körper übersät mit Schnittwunden. Bei ihrer Befragung stellt sich heraus, dass sie mit ihrer Freundin unterwegs war und die beiden von einem Mann verfolgt wurden, der „Strangers in the night“ pfiff. Heckenburg informiert Gemma, die sich sogleich auf den Weg gen Norden macht, um ihn bei seinen Ermittlungen zu unterstützen, die er mit Hilfe seiner Kollegin vor Ort, Constable Mary-Ellen O’Rourke, aufgenommen hat. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, denn der Mörder spielt ein grausames Spiel mit seinen Verfolgern…

„Schattenschläfer“ ist ein Thriller, der neben der spannenden Handlung durch seine gut ausgearbeiteten Hauptfiguren und deren komplexen Beziehungen punktet. Und auch der Handlungsort und die Zeit könnte nicht besser gewählt sein. Diese im Winter fast menschenleere Gegend, den Elementen ausgesetzt und nach dem Schneesturm von der Außenwelt abgeschnitten, in der ein Mörder sein Unwesen treibt – sehr stimmungsvoll, aber auch bedrohlich für Leib und Leben.

Auch wenn man die Vorgängerbände nicht kennt, was allerdings sehr schade wäre, kann man getrost zu „Schattenschläfer“ greifen, da es eine in sich abgeschlossene Story ist und sich die Bezugnahme zu den früheren Fällen sehr im Rahmen hält. Und die Ecken und Kanten des Protagonisten sind auch für Nichteingeweihte recht schnell ersichtlich. Ich mag diesen eigenwilligen Polizisten und freue mich schon auf Band 5 mit dem Titel „Totenspieler“, der im August erscheinen wird.

Bewertung vom 15.01.2016
Die Verbrannten
Ortuño, Antonio

Die Verbrannten


ausgezeichnet

Mexiko, ein Paradies für Touristen: blauer Himmel, weiße Strände, strahlender Sonnenschein, Schirmchen-Drinks am Pool und eine Mariachi-Band, die „La Cucaracha“ spielt. So verkaufen zumindest die Touristikunternehmen dieses Land. Die Realität sieht leider anders aus: Mexiko als rechtsfreier Raum, Drogenumschlagplatz, Kartelle, Bandenkriminalität, Korruption - und Durchgangsstation für all diejenigen Flüchtlinge aus Zentralamerika, die auf illegalen Wegen in die Vereinigten Staaten gelangen wollen und dabei Leib und Leben riskieren.

Es gibt zahlreiche Autoren, die den Rassismus und die alltägliche Gewalt in Mexiko beschreiben. Don Winslow, Sam Hawken, Roberto Bolaño, um die Besten zu nennen, die die menschenverachtenden Praktiken in diesem Land unter die Lupe nehmen und literarisch verarbeiten. Und dann ist da natürlich noch Antonio Ortuño, der mit „Die Verbrannten“, seinem vierten Roman, dem bisher einzigen, der in der deutschen Übersetzung vorliegt (sehr gute Arbeit von Nora Haller), dem Leser einen kräftigen Schlag in die Magengrube versetzt.

Es sind vierzig Flüchtlinge, die bei einem Anschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft im südlichen Mexiko jämmerlich verbrennen. Männer, Frauen und Kinder. Die Toten kümmern eigentlich niemanden, aber um den Schein zu wahren, beauftragt die Nationalkommission für Migration eine kürzlich zugezogene Sozialarbeiterin. Irma, genannt La Negra, verhält sich aber nicht so, wie es von ihr erwartet wird, heißt, sie will nicht beschwichtigen und vertuschen. Nein, sie nimmt ihre Arbeit ernst, denn noch ist sie nicht korrumpiert. Ihr ist an der Aufklärung des feigen Anschlags gelegen, und sie möchte die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Doch in diesem Klima der Repression und Angst ist es schwierig, überlebende Augenzeugen zur Aussage zu bewegen. Aber wie so oft in Lateinamerika sind es die Frauen, die sich nicht mundtot machen lassen. In diesem Fall ist es Yein, eine junge Frau, die auf ihrer Flucht unvorstellbare Grausamkeiten erlebt hat. Sie vertraut sich La Negra an, getrieben von dem unbändigen Verlangen nach Rache und Vergeltung. Und wer kann ihr das verübeln?

Antonio Ortuño bleibt auf Distanz, er schreibt nüchtern. Aber es ist gerade diese kühle Art, die heftige Emotionen bei dem Leser auslöst und die anfängliche Betroffenheit weicht schnell der blanken Wut. Und es stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass Menschen einander diese Grausamkeiten antun. Ignoranz, Rassismus, Gewalt - wie tief muss eine Gesellschaft gesunken sein, die dieses Verhalten duldet, ja sogar fördert?

Ortuño ist mit „Die Verbrannten“ ein hochpolitischer Roman gelungen, der auffordert, Partei zu ergreifen – und zwar nicht nur in Mexiko, sondern auch hier in unserem Land.

Nachdrückliche Leseempfehlung!

Bewertung vom 09.01.2016
Die Gräber der Vergessenen / Detective Inspector McLean Bd.4
Oswald, James

Die Gräber der Vergessenen / Detective Inspector McLean Bd.4


sehr gut

Um die Wartezeit auf den neuen John Rebus-Krimi von Ian Rankin zu überbrücken, habe ich mich nach schottischen Autoren umgeschaut, deren Handlungsorte in Edinburgh und Umgebung angesiedelt sind, und bin so auf James Oswald gestoßen. Seine ersten Gehversuche machte der studierte Psychologe mit Comics und Kurzgeschichten, es folgten die Fantasy-Reihe „The Ballad of Sir Benfro“ und schließlich die erfolgreiche Thrillerserie mit Inspector Tony McLean. Und wenn er nicht schreibt, kümmert sich James Oswald um seine Farm in Nordosten der Grafschaft Fife, wo er Schaf- und Rinderzucht betreibt. Mit „Die Gräber der Vergessenen“ liegen in der deutschen Übersetzung mittlerweile vier Bände mit Inspector McLean vor (erschienen bei Goldmann), im Original erscheint der sechste Thriller Ende Februar unter dem Titel „The Damage Done“.

McLean ist ein sympathischer, ehrlicher Charakter, nicht so kantig wie Rebus, aber ebenso wie dieser misstrauisch gegenüber staatlichen Institutionen und den Netzwerken von Wirtschaftsbossen und Politikern. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass er schnellen Erklärungen seiner Vorgesetzten eher skeptisch gegenübersteht und sich lieber auf seinen eigenen Spürsinn verlässt. Und oftmals findet er Verbindungen, die besser nicht ans Tageslicht gekommen wären. Als McLean zum Haus des einflussreichen Politiker Andrew Weatherly gerufen wird, bietet sich ihm ein Bild des Grauens. Offenbar hat der Politiker zuerst seine Frau und seine beiden Töchter getötet, bevor er sich selbst gerichtet hat. Ein klarer Fall, oder etwa doch nicht? So sehen es zumindest Weatherlys Freunde aus der Politik und die Strafverfolgungsbehörden. Familientragödie - Haken daran und Fall aufgeklärt. Aber McLean gibt sich nicht mit einfachen Erklärungen zufrieden und ermittelt weiter. Und als ihm von unbekannter Seite Fotos und Dokumente zugespielt werden, sieht er sich in seinem Verdacht bestätigt, dass hier einflussreiche Kreise die Finger im Spiel haben…

Ein spannender Plot, die sich nicht gradlinig vorhersehbar entwickelt, sondern die eine oder andere Volte schlägt, eine sympathische Hauptfigur mit einem interessanten Team, die perfekte Dosis Lokalkolorit – bis hierhin hat der Autor alles richtig gemacht. Das Mystery-Element hätte ich jetzt nicht unbedingt benötigt, aber glücklicherweise stellt der Autor es nicht so sehr in den Vordergrund, dass die gesamte Handlung davon dominiert wird.

Ich habe „Die Gräber der Vergessenen“ gerne gelesen und damit einen für mich neuen schottischen Autor entdeckt, den ich auf gleicher Stufe mit Stuart MacBride, Tony Black oder Stuart Neville einordnen würde – zu Ian Rankin und William McIlvanney fehlt allerdings noch ein Stück.

Bewertung vom 08.01.2016
Amalthea
Stephenson, Neal

Amalthea


ausgezeichnet

Dystopien haben spätestens seit „Die Tribute von Panem“ Hochkonjunktur. Aber mit diesen doch eher einfach gestrickten Romanen kann und sollte man „Amalthea“, den neuesten Roman Neal Stephensons (2015 in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl / Juliane Gräbener-Müller bei Manhattan erschienen) nicht vergleichen, denn der amerikanische Autor hat weit mehr als nur ein Weltuntergangsszenario zu bieten. Stephenson kommt aus einer Familie von Naturwissenschaftlern und hat selbst sowohl Physik als auch Geografie studiert. Und diese Kenntnisse, die er sich während seines Studiums angeeignet hat, fließen immer wieder in seine Werke ein, die dem Science-Fiction Genre zuzuordnen sind. Bei den Informationen, die er verarbeitet, beschränkt er sich nicht auf oberflächliche, pseudowissenschaftliche Beschreibung von spekulativer Effekthascherei, sondern begibt sich in die Tiefen verschiedener naturwissenschaftlicher Theorien – Physik, Genetik, Raumfahrt, Astronomie, um nur einige zu nennen.

„Amalthea“ beginnt buchstäblich mit einem Knall: der Mond explodiert, und plötzlich sind es sieben Teilstücke, die seinen Platz einnehmen. Aber das ist erst der Anfang, denn es ist zu erwarten, dass diese Bruchstücke in naher Zukunft miteinander kollidieren, was ein Meteoriten-Bombardement der Erde und die Auslöschung des menschlichen Lebens zur Folge hätte. Die Rettung der gesamten Menschheit scheint unmöglich, und so einigt man sich darauf eine Auswahl zu treffen, die das Überleben der Spezies sicherstellt. Dazu benötigt man eine neue „Arche Noah“. Amalthea, der kleine Asteroid, angedockt an die Raumstation ISS, soll die zukünftige Basis und neue Heimat werden…

Wie dieses Projekt realisiert wird, welche Schwierigkeiten es zu bewältigen gilt, wie sich die Lebensbedingungen im All darstellen, wer schlussendlich überleben wird und ob es Hoffnung für eine Neukolonisation der Erde gibt – um diese zentralen Fragen kreist Neal Stephensons Roman. Dabei macht er es dem Leser nicht immer leicht, denn er füttert ihn seitenlang mit trockenen Fakten, die den Fortgang der Handlung zwar immer wieder ausbremsen, im Gegenzug aber für ein höchst realistisches Szenario sorgen und die entsprechenden Hintergrundinformationen liefern. Reißerische Effekte sind es nicht, auf die der Autor abzielt. Ihm geht es vielmehr um die korrekte Übermittlung von Fakten. Von daher sollte der Leser ein gewisses Maß an technischem und naturwissenschaftlichem Interesse und Verständnis mitbringen, denn dann wird er mit einem anspruchsvollen, aber dennoch höchst spannenden Leseerlebnis belohnt!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.