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miss.mesmerized
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Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 29.09.2017
Das Singen der Sirenen
Wildenhain, Michael

Das Singen der Sirenen


gut

Der Literaturwissenschaftler Jörg Krippen wird als Gastdozent nach London eingeladen. Schon bei der Ankunft in seiner Bleibe begegnet er einer jungen Frau, die zugleich etwas Bekanntes wie auch etwas Faszinierendes hat. Als sie in seinem Seminar auftaucht und ihn dann auch noch auf Deutsch anspricht, ist er mehr als verwundert, lässt sich aber auf eine Affäre ein. Bald schon muss er jedoch feststellen, dass sie sich nicht zufällig über den Weg gelaufen sind, sondern dass Mae dies alles geplant hat und ihn tatsächlich schon aus Berlin kannte. Berlin, seiner Heimat, wo auch seine Frau Sabrina und sein Sohn Leon sind und eigentlich das gemeinsame Leben stattfindet, aus dem sich Jörg gerade mehr und mehr flüchtet. Schnell entfremdet er sich von seinem alten Leben, doch die Vergangenheit holt ihn ein, eine Vergangenheit, die noch vor der mit Sabrina lag.

Sirene, die, ein weibliches Fabelwesen der griechischen Mythologie, das mit seinem Gesang die Männer betört und schließlich tötet. Auch bei Michael Wildenhain singen die Sirenen und locken Jörg Krippen an, der scheinbar den Verlockungen der Frauen nichts entgegenzusetzen hat und sich wehrlos ausgeliefert sieht. Sabrina lockt ihn und kann ihn für ihre Ideale einnehmen, auch Mae ergibt er sich unmittelbar. Was in der Mythologie einen gewissen Reiz hat, weil immer die Hoffnung besteht, dass eines dieser Fabelwesen seinen Willen nicht bekommt, wird bei Wildenhain jedoch zu einem lahmen Männerbild, das mich nur teilweise überzeugen kann.

Jörg Krippen als Figur ist schwach. Beruflich weitgehend gescheiter, privat auch nur wenig vorzuweisen, als Vater versagt. Statt sich der Realität zu stellen, flüchtet er: in ein anderes Land, in eine andere Beziehung. Immer wenn es gilt, Verantwortung zu tragen, läuft er weg. Was soll mir diese Figur sagen? Dass es schwache Menschen gibt? Ja, natürlich. Dass es feige Menschen gibt? Sowieso. Aber wo bleibt die Lösung? Der Roman liest sich sehr gut, sprachlich tadellos und überzeugend. Aber auch ein wenig zu glatt, zu smooth, um Reibungspunkte zu erzeugen. Er kann an einigen Stellen überraschen, aber insgesamt für mich der Roman, der bezogen auf Handlung, Figuren, Thema und auch Sprache von den Nominierten der Longlist zum Deutschen Buchpreis der blasseste und am wenigsten überzeugende Roman ist.

Bewertung vom 29.09.2017
Phantome (eBook, ePUB)
Prosser, Robert

Phantome (eBook, ePUB)


sehr gut

2015, Wien. Sara und ihr Freund kennen die Geschichte von Saras Mutter Anisa nur aus deren Erzählungen. Die Flucht aus Bosnien, wegen des Krieges aus der Heimat vertrieben. Der Konflikt, der plötzlich Nachbarn zu Feinden machte und Familien auseinanderriss. Die beiden Jugendlichen machen sich auf nachzuforschen, vor Ort, im Süden, da wo einst ein Land war und was inzwischen in unzählige Kleinstaaten zersplittet ist. Schnell wird das Leben von damals wieder lebendig und der Leser befindet plötzlich im Jahr 1992 und auf der Flucht vor dem Krieg. Anisa, die als Flüchtling hofft in Sicherheit zu kommen und ihr Freund Jovan, der von der Armee eingezogen werden soll und zwischen die Fronten gerät. Anisa kann die schrecklichen Kriegserlebnisse auch im fernen Wien nicht hinter sich lassen, die Ungewissheit, was mit dem Freund und dem Vater ist, lähmt sie immer wieder. Doch sie muss auch nach vorne blicken, sich in der Fremde ein neues Leben aufbauen – doch wie?

Robert Prosser greift in seinem Roman, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2017 stand, einen Konflikt auf, den man in Europa nur zu gerne verdrängt, weil es der erste Krieg auf europäischen Boden nach Ende des Zweiten Weltkrieges war. Dieser Konflikt hat jedoch auch unzählige Menschen gen Norden flüchten lassen und sie vor die schwierige Aufgabe gestellt, in der Fremde ein neues Leben beginnen zu müssen, obwohl das alte weder abgeschlossen war noch man dieses freiwillig aufgegeben hatte.

Die Schilderungen der Kriegserlebnisse von Anisa und ihrem jungen Freund sind grausam. Der Autor gibt sich nicht mit Andeutungen zufrieden, sondern schildert das, was sich in solchen Zeiten nun einmal zuträgt schonungslos und direkt. Auch das Leben im Flüchtlingsheim, wo man das Schlimmste eigentlich hinter sich gelassen hat, ist kein angenehmes und entspanntes Dasein. Andere Konflikte und Sorgen bestimmten den Alltag und soziale Gruppenprozesse, wie sie auch in jeder Dorfgemeinschaft zu finden sind, greifen auch dort und setzen den Bewohnern zusätzlich zu.

Im Rückblick etwas verwunderlich der Vorspann des Romans, der sehr auf den Graffiti sprayenden Freund von Anisas Tochter fokussiert und dessen nächtlichen illegalen Aktionen sehr ausufernd schildert. Ob es der Kontrast sein soll zwischen den beiden jungen Pärchen? Das eine, das den Nervenkitzel sucht, weil das Leben womöglich nicht genug zu bieten hat, das andere, das unmittelbare Kriegserfahrung machen muss – ich weiß es nicht, aber vom Ende an blickend ist dieser ganze Abschnitt eigentlich irrelevant.

Was jedoch auf jeden Fall gelungen ist, ist das Thema Balkan und die vielen ungelösten Fragen aufzugreifen und zu mahnen, dass man nicht nur die aktuellen Krisen im Blick haben sollte, sondern auch die vor unserer Haustür befindlichen, die auch 20 Jahre nach dem Friedensschluss noch immer nicht aufgearbeitet sind und liebsten offenbar vergessen wären. Aber viele der Betroffenen leben unter uns und sollten viel mehr daran erinnern.

Ein thematisch interessantes und sprachlich eindringliches Buch, das für mich nicht unbedingt durch besondere literarische Kniffe oder eine auffällige Sprache punkten kann, sondern das mit einer authentisch wirkenden Geschichte und politischer Relevanz überzeugt.

Bewertung vom 24.09.2017
Schlafende Sonne
Lehr, Thomas

Schlafende Sonne


gut

Normalerweise habe ich eine recht feste Art, Rezensionen zu Büchern zu schreiben. Bei Thoms Lehrs Buch „Schlafende Sonne“ funktioniert dies nicht, mich hat aber auch selten ein Buch so ratlos am Ende zurückgelassen und auch schon beim Lesen verärgert.

Dass man etwas Zeit braucht, um sich in ein Buch reinzulesen, ist bei anspruchsvollerer Literatur nicht ungewöhnlich. Manche Bücher muss man sich auch erarbeiten, was ich völlig ok finde, auch wenn ich ein Buch in meiner Freizeit zur Unterhaltung lese. Als ich etwas ein Drittel der 640 Seiten hatte, war mir jedoch immer noch nicht klar, worüber ich eigentlich gerade lese. Also habe ich mir nochmals die Verlagsseite mit der Kurzzusammenfassung angesehen. Aha. Hm. Nun ja. Aufgeben und das Buch weglegen ist nicht so meins, also weiter in der Lektüre.

Bei der Hälfte angekommen und immer noch genauso ratlos und völlig im Inhalt verloren, der mir episodenhaft und unzusammenhängend erscheint, der den Erzähler fröhlich wechselt und den Leser in keiner Weise begleitet oder ihm wenigstens ein kleines rotes Fädchen zur Orientierung bieten würde, also die nächste Strategie: was denken denn andere über das Buch?

Es steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2017 und im Kommentar der Jury wird ein Labyrinth erwähnt – ja, genau so kommt es mir vor, und ich habe mich darin völlig verlaufen. Dann folgt die Erwähnung einer spannenden Erzählung und ästhetischen Wagemutes – nein, hier frage ich mich, ob ich ein anderes Buch lese. In einem kurzen Artikel der Zeit zu den Nominierten wird der Vergleich zu Robert Musil gezogen – ein Hinweis, dass der Roman vielleicht definitiv nichts für mich ist. In zahlreichen weiteren Besprechungen wird die außergewöhnliche Konstruktion des Romans hervorgehoben, die Form des Romans, die immer wieder neue Perspektiven bietet und sich spiralförmig um die Figuren legt. Ok, vermutlich ist mir etwas entgangen und ich sehe das Große Ganze nicht. Allerdings fand ich bei meiner Recherche Anne-Dore Krohns Kommentar auf der Seite des Kulturradios sehr sympathisch in diesem Zusammenhang. Die beginnt ihre Rezension mit dem Verweis auf Pennacs Rechte des Lesers, von denen sicherlich einige Gebrauch machen werden.

Nach der Erkenntnis, dass es keine klassische Handlung gibt, bleiben mir noch immer 300 Seiten, die ich nun aber eher großzügig überfliege, episodenhaft reinlese – manche Geschichten in der Geschichte sind wirklich interessant, toll, überzeugend geschrieben und können mich überzeugen, aber ich versuche nicht mehr weiter, irgendeinen Zusammenhang dazwischen zu konstruieren. Das Buch hat mich verloren und ich sehe mich am Ende nicht einmal in der Lage, in wenigen Sätzen die grobe Rahmenhandlung zusammenzufassen Ja, ich habe es inzwischen mehrfach gelesen und könnte es entsprechend wiedergeben, aber mir hat sich dies in nicht erschlossen.

Man kann in der Literatur experimentieren, soll man auch. Das wird nicht die großen Mengen an Lesern anziehen und begeistern, muss es aber auch nicht, so ist das in der Kunst nun einmal. Mich beschleicht jedoch in der Rezeption des Romans der Verdacht, dass hier einmal mehr ein besonders unlesbarer Roman hochgelobt wird und damit nicht nur zum heißesten Kandidaten für den Buchpreis gemacht wird, sondern auch einmal mehr zur Entfremdung zwischen profaner Leserschaft und hochintellektueller Buchkritik beiträgt. Das Volk versteht’s halt nicht. In meinem Fall ist das ganz sicher so, allerdings habe ich auch die Leseerfahrung gemacht – und ein Literaturwissenschaftsstudium und tausende gelesene Bücher reichen dafür allemal aus – dass wirklich große Literatur beides kann: literarisch innovativ und herausfordernd sein und gleichzeitig unterhalten.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.09.2017
Niemand verschwindet einfach so
Lacey, Catherine

Niemand verschwindet einfach so


sehr gut

Elyria tut das, wovon viele träumen, sich aber nie wagen in die Tat umzusetzen: sie verschwindet. Sie setzt sich in einen Flieger und reist von den USA nach Neuseeland. Sie weiß, wovor sie wegläuft, wohin sie will ist schon schwieriger. Zunächst einmal auf die Farm eines Mannes, den sie kennenlernte und der ihr leichtsinnigerweise anbot, bei ihm in der Abgeschiedenheit zu leben und arbeiten. Trampend bestreitet sie den Weg, Gelegenheitsjobs bringen immer wieder ein wenig Geld ein.- Was ihr Ehemann und ihre Mutter machen, interessiert sie nicht, das hat sie hinter sich gelassen. Was sie jedoch nicht zurücklassen kann, ist die Erinnerung, vor allem an ihre Stiefschwester, deren Tod sie nie überwunden hat. In der Ferne sucht sie nach etwas, sich selbst, und sie versucht ihrem alten Ich und all seinen Erinnerungen zu entkommen.

Catherine Lacey hat einen ungewöhnlichen Roman geschrieben, der einem direkt packt und mitreißt. Zunächst ist man verwundert über den Mut der Protagonistin, einfach alle Zelte abzubauen und in eine ungewisse Zukunft zu reisen. Dann kommen Zweifel, ob ihr Handeln wirklich durchdacht ist – nein – ob die Suche nach ihrem Selbst so erfolgreich ist – zweifelhaft – ob sie einfach leichtsinnig oder gar verrückt ist – naheliegend. Die Reise ist viel weniger eine Suche denn ein Weglaufen. Sie stellt sich nicht den Dingen, die sie dringend besprechen und bearbeiten müsste. Jede Begegnung mit einem Menschen wird zur Qual, weil sie Fragen zu sich beantworten soll, dabei will sie nichts weniger sein als sie selbst. Aus der mutigen wird plötzlich eine eher feige Frau, die nicht den Schneid hat, ihrem Leben entgegenzutreten.

Elyria muss dies im Laufe ihrer Reise erkennen. Hier liegen die besonderen Stärken des Romans. Die Handlung bewegt sich zwischen den Stationen in Neuseeland und den kurzen Episoden des Kontakts mit eigentlich fremden Menschen, zu denen Elyria nie eine Verbindung aufbauen kann, bleibt so recht überschaubar. Spannender und interessanter indes ihre psychische Entwicklung. Nach und nach reift jedoch in ihr die Erkenntnis, dass ihr Ziel verfehlt werden wird:

„damals, als ich noch dachte ich hätte herausgefunden, wer ich war und warum ich anscheinend mit dem Leben nicht so gut umgehen konnte, wie andere Leute das taten“ (S. 148) und

„Selbst wenn niemand mich je fände, wenn ich den Rest meines Lebens hier verbrächte und für immer verschwunden bliebe, von anderen für vermisst erklärt, könnte ich aus meinem eigenen Leben doch nie verschwinden; ich könnte nie den Verlauf meiner Geschichte löschen, sondern wüsste immer genau, wo ich war und gewesen war (...) das, was ich die ganze Zeit gewollt hatte, vollständig verschwinden, doch eben das würde mir nie gelingen – niemand verschwindet einfach so, niemand hat diesen Luxus je gehabt oder wird ihn je haben“ (S. 160)

Sie muss zurückkehren in ihr altes Leben, sich diesem wieder stellen oder etwas ändern, denn weglaufen und verschwinden funktioniert nicht.

Bewertung vom 17.09.2017
Istanbul Istanbul
Sönmez, Burhan

Istanbul Istanbul


sehr gut

Istanbul, eine Gefängniszelle irgendwo unter der Stadt. Der Student Demirtay, der Doktor, der Babier Kamo und Küheylan Dayi werden in der zwei mal ein Meter großen Zelle unfreiwillig Schicksalsgenossen. Sie warten, nicht auf die Freilassung, damit rechnet keiner von ihnen, sondern auf die Wärter, bis diese zum nächsten Mal die Zelle aufschließen, einen von ihnen rausholen und wieder foltern. Dann warten sie, bis der Zellengenosse schwer verletzt zurückgeschleift und wieder zu ihnen geworfen wird. Es ist kalt da unten, sie haben kein Licht und nur wenig zu essen. Sie erzählen sich nichts von ihrem Leben, was sie in die Zelle geführt hat, das wäre zu gefährlich, denn schon bei der nächsten Befragung könnte einer der Mithäftlinge etwas preisgeben. Also verbringen sie ihre Zeit mit dem Geschichtenerzählen, wie es seit Menschengedenken Tradition ist, um die Zeit des Wartens zu verkürzen.

Burhan Sönmez hat seinen dritten Roman bereits 2015 im Original veröffentlicht. Auch wenn man dies weiß, kommt man nicht umhin die aktuelle politische Lage beim Lesen des Buchs mitzudenken. Die Grundkonstellation, dass Menschen wie Tiere zusammengepfercht unter der Erde sitzen, dass außer neuen Folterungen sie nichts aus den Zellen herausführt und dass ihr Schicksal ungewiss ist, für sie selbst und für ihre Familien draußen – man zweifelt heute nicht an der wahrheitsgemäßen Darstellung der Situation.

Die vier Schicksalsgenossen und das Mädchen in der gegenüberliegenden Zelle machen das Beste aus der Gefangenschaft. Sie phantasieren sich nach draußen, nutzen ihre Erinnerung, um sich wenigstens zeitweise von den Schmerzen der Verletzungen und der Enge des Raumes wegzuträumen und diese zu vergessen. Daneben erzählen sie die Geschichten, die sie von den Vätern gehört haben und die schon Jahrtausende lang mündlich tradiert werden. Schnell ist man erinnert an Tausendundeine Nacht oder das Decamerone, die Figuren nehmen selbst Bezug darauf:

„Die Leute im Dekameron hatten allerdings mehr Glück als wir. Durch die Flucht aus der Stadt entgingen sie dem Tod. Uns hat man auf den Grund der Stadt in die Finsternis gestoßen. (...) uns verfrachtete man gegen unseren Willen hierher. Schlimmer noch, während sie sich vom Tode entfernten, sind wir ihm näher gerückt.“ (S. 158)

Tapfer ertragen sie ihr Schicksal, ihre Handlungsmöglichkeiten sind ohnehin begrenzt. Die einzige Abwechslung stellen die Folterungen durch die Wärter dar, die brutal und menschenverachtend sind, aber die vier Protagonisten nicht brechen können. Doch die Wärter haben noch eine andere, perfidere Idee, um an die Geheimnisse der Insassen zu kommen. Und diese nutzen sie.

Der Roman ist eine Hommage an Istanbul, wo alles möglich ist, ebenso wie sich die gefangenen gedanklich überall hinbewegen können. Sie überkommen die Grenzen des Körperlichen, ignorieren den Schmerz und lösen sich dank ihres Geistes. Wie einst die Flaneure durch die europäischen Großstädte schickt Sönmez seine Insassen los, wie in der europäischen Tradition des Geschichtenerzählens im Decamerone oder auch bei den Canterbury Tales lässt er sie berichten – Burhan Sönmez schafft so die Verbindung zwischen Orient und Okzident genau da, wie die Grenze schon immer lag und wo beide aufeinandertreffen und verschmelzen: in Istanbul.

Bewertung vom 16.09.2017
Die Hauptstadt
Menasse, Robert

Die Hauptstadt


ausgezeichnet

Eine neue Sau wird durchs Dorf getrieben – oder so ähnlich. Ein Schwein, Mitten in Brüssel, der europäischen Hauptstadt. Die Gemüter sind erregt, die Gazetten stürzen sich auf das Thema. Derweil plagen die Beamten der Europäischen Kommission ganz andere Sorgen als Schweine auf Brüssels Straßen. Schweineohren sind interessant, aber nur, weil man damit auf dem chinesischen Markt Geld verdienen kann und aktuell die Nationalstaaten im Alleingang mit dem asiatischen Riesen verhandeln und sich gegenseitig reihenweise ausbooten und schaden. Ist das im Sinne der EU? Die könnte etwas für ihr Image tun, da kommt Fenia Xenopoulou das Big Jubilee Project gerade recht. Außerdem könnte das ihr Sprungbrett in ein wichtiges Ressort sein, Kultur ist mehr so das Abstellgleis. Apropos Gleis, als Kind ist David de Vries von einem Zug gesprungen, einem Deportationszug nach Auschwitz, der ihn in den sicheren Tod befördern sollte. Sein Leben lang war er Zeuge dessen, was Hass und Nationalstolz verursachen können, doch jetzt kann er sich kaum mehr erinnern, was er zehn Sekunden zuvor noch gedacht hat. Sein geistiges Erbe droht zu verfallen. Ähnlich verfällt auch der Körper von Kommissar Brunfaut, der eigentlich einen Mord aufklären will, den es aber plötzlich nicht mehr gegeben haben soll und der ihm einen unplanmäßigen Urlaub einbringt. Sie alle haben das Schwein gesehen, wie viele andere in der Hauptstadt der derzeit unpopulären Union, ein Schwein, über das alle reden und das die Leute in der Suche nach einem Namen zusammenführt und so wenigstens in einem Thema vereint.

Es ist nicht einfach, Robert Menasses Roman auf den Punkt zu bringen. Sehr viele Figuren, sehr viele Einzelhandlungsstränge, viel Geschichte und Politik – aber vielleicht ist es doch ganz einfach: es lebe die EU. Was wie ein chaotisches Kaleidoskop undurchdringlich scheint, schillert jedoch und entsteht in jeder Sekunde neu und kann bestaunt und bewundert werden. Die Menschen sind es, die das gemeinsame Europa entstehen lassen und die Vielfalt ausmachen.

Die Figuren sind durchdacht und vielschichtig kreiert. Die Karrieristin, der brave Beamte, der leidenschaftliche Volkswirt – es mangelt nicht an Stereotypen, jedoch bleiben sie dabei nicht stehen, sie haben Brüche und zeigen Facetten, die sie aus der Schablone herauslösen und zu Individuen werden lassen. Ihre Wege kreuzen und überschneiden sich, lösen sich dann wieder und oftmals bleiben die Begegnungen unentdeckt. Ein buntes Treiben geradezu, genau wie man es in Brüssel auch erleben kann.

Zweifelsohne ist der Roman ein Lobgesang auf die nachnationale Staatengemeinschaft, auch wenn die Mitarbeiter der Kommission weniger an der großen politischen Idee als an dem persönlichen Weiterkommen interessiert zu sein scheinen. Geradezu ad absurdum wird dies durch die Figur Alois Erharts geführt, der ein rauschendes Plädoyer auf eine neue europäische Hauptstadt singt, die aus Ruinen auferstehen müsse und daher nur an dem Ort entstehen könne, an dem die größte Niederlage Europas zu beklagen war: in Auschwitz. Leider verstirbt kurz danach der letzte Überlebende der Tragödie. Ein Humor, der begeistern kann, wenn man über eine gewisse Morbidität hinwegsieht, die sich durch das ganze Buch zieht. Menasse versteht sein Handwerk und setzt seine Sprachfertigkeit gekonnt ein, nein, er steht sogar über dem gängigen literarischen Diskurs und kann sich eine Eröffnung mit „Wer hat den Senf erfunden?“ erlauben.

Dass „Die Hauptstadt“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis 2017 gelandet ist, ist keine große Überraschung. Thematisch am Puls der Zeit – das Schwein soll hier nochmals ganz am Ende eine grenzwertige politisch relevante Rolle spielen und den Verdruss der Bürger zu einer unsäglichen Klimax führen – und doch leicht und unterhaltsam. Es macht tatsächlich wieder Lust auf das europäische Miteinander, das Europa von Menschen, die hier bei Menasse auch äußert menschlich sein dürfen.

5 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.09.2017
Der Freund / Klara Walldéen Bd.3
Zander, Joakim

Der Freund / Klara Walldéen Bd.3


ausgezeichnet

Klara musste ihren geliebten Großvater beerdigen, ihre Freundin Gabriella ist wie immer an ihrer Seite. Doch Gabriella ist abgelenkt, irgendetwas belastet sie. Am nächsten Morgen wird sie vor den Augen Klaras in ihrer Kanzlei verhaftet. Diese agiert schnell und kann eine geheime Nachricht der Freundin entdecken: sollte Gabriella etwas geschehen, muss Klara einen geheimen Informanten in Brüssel treffen. Dieser ominöse Mensch ist ein Praktikant der schwedischen Botschaft in Beirut. Jacobs Zeit dort ist geprägt von Langeweile im Büro und umso mehr Aufregung durch seinen Freund und Liebhaber Yassim. Dieser gibt kaum etwas von sich preis, verschwindet immer wieder für Wochen spurlos und trifft sich mit zwielichtigen Personen. Jacob ahnt selbst, dass mit Yassim etwas nicht stimmt, als er von einer mysteriösen Frau kontaktiert wird, die behauptet, dass Yassim ein Terrorist sei, weiß er nicht mehr, was er glauben soll. Doch dass er sich in größte Gefahr begeben hat, wird Jacob nicht erst klar, nachdem seine Wohnung verwüstet wurde und sein Leben bedroht wird. Helfen kann ihm wohl nur die Frau, die er Monate zuvor im Fernsehen bewundert hat: Gabriella.

Band drei von Joakim Zanders Reihe um Klara Walldéen knüpft nahtlos an die beiden Vorgänger an und ist in ebensolchem Tempo geschrieben. Auch in der Thematik bleibt sich Zander treu, ohne sich zu wiederholen oder zu langweilen. Einmal mehr dreht sich die Handlung um das Pulverfass Naher Osten und den Terror, der von dort ausgeht. Dieses Mal lehnt er sich an die Attentate von Paris am 13. November 2015 an, die er geschickt in die Geschehnisse rund um Jacob in Beirut und Klara zwischen Stockholm und Brüssel einbaut.

Seine Protagonistin entwickelt er hierbei überzeugend weiter. Klara ist nicht die fehlerlose Superheldin, der alles spielend gelingt. Nach den letzten Erlebnissen bekam sie ihr Leben nicht mehr auf die Reihe, trank zu viel, um sich zu betäuben. Auch der Tod des Großvaters wirft sie aus der Bahn und ihre Gefühlswelt hat sie gar nicht unter Kontrolle. Doch merkt man, wie sie geradezu von den Erfahrungen profitiert, dadurch reifer wirkt als in vorherigen Bänden. Ähnlich verhält es sich mit Georg Lööw, ihrem Partner in der Krise und offenbar am Ende auch im Privatleben. Jacob als neue Figur ist ebenfalls vielschichtig und authentisch angelegt. Strebsam und doch verunsichert; einerseits emotionsgeleitet und dann doch wieder rational-zweifelnd. Sich mit ihm zu identifizieren und seine Zwickmühle nachzuvollziehen, macht einem Joakim Zander sehr leicht.

Die kurzen Kapitel mit schnellen Ortswechseln sorgen für ein hohes Tempo in der Geschichte. Die zeitversetzte Handlung, die vom Ende und dann wieder vom Anfang an erzählt wird, erhöht die Spannung zudem. Der Roman entbehrt nicht einer gewissen Komplexität, die die Wirklichkeit glaubwürdig widerspiegelt und bestimmte real nicht aufzulösende Spannungen und Verwicklungen in der internationalen Diplomatie und Politik ebenfalls als solche stehenlässt. So erfüllt Joakim Zander einmal mehr voll die Erwartungen an einen anspruchsvollen Thriller und bleibt derzeit einer der besten schwedischen Autoren im Genre.

Bewertung vom 13.09.2017
Romeo oder Julia
Falkner, Gerhard

Romeo oder Julia


ausgezeichnet

Ein Schriftstellertreffen führt den Autor Kurt Prinzhorn nach Innsbruck in ein kleines Hotel. Dort trägt sich eine seltsame Begebenheit zu: erst findet er in seinem Badezimmer schwarze Frauenhaare, die vorher sicher nicht da waren, dann verschwinden sein Schlüsselbund und seine Notizbücher. Die Tür wurde aber gemäß der Chipkartenauslese nur von ihm selbst bedient. Der Fall bleibt unerklärlich und fesselt auch die anderen Literaten ob der Kuriosität. Wenige Tage später muss Prinzhorn für eine Lesung nach Moskau reisen. Dort hat er ebenfalls seltsame Erlebnisse, die sich nicht nur durch die fremde Kultur erklären lassen. Langsam fühlt sich Prinzhorn verfolgt, zudem macht er sich Sorgen, was der Eindringling mit seinen Schlüsseln anstellen könnte. Wieder in Deutschland stellt er jedoch fest, dass in sein Haus offenbar nicht eingebrochen wurde. Seine dritte Reise innerhalb weniger Wochen führt ihn schließlich nach Madrid, wo ihn abermals der Verdacht beschleicht, verfolgt zu werden. Seine Aufmerksam ist geschärft und tatsächlich soll er recht behalten. Er wird beschattet und die Person, die ihm nachstellt, sinnt auf Rache.

Gerhard Falkners Roman „Romeo oder Julia“ hat es nach der Longlist nun auch auf die Shortlist des Deutschen Buchpreis 2017 geschafft, was ich einigermaßen erstaunlich finde. Der Roman ist höchst unterhaltsam und mit seiner kriminalistischen Note eher untypisch als Kandidat für diese Ehrung. Umso erfreulicher, dass eine solche Erzählung in Betracht gezogen wird, der sicherlich auf beiden Ebenen – einmal als Unterhaltung mit einer gewissen Spannung – aber auch als literarisches Werk funktioniert.

Die Figurenzeichnung – wie viel vom Autor selbst in seinem Protagonisten steckt, vermag ich nicht zu beurteilen, allerdings basiert die Ausgangsgeschichte auf den wahren Erlebnissen Falkners selbst – ist facettenreich und vielschichtig. Es ist ein besonderer Spaß einen Autor in einem Roman zu erleben, da hier mit feiner (Selbst-?)Ironie die Schwächen und Eitelkeiten aufgedeckt werden:

„Obwohl ich Kurt heiße, bin ich Schriftsteller. Allerdings bin ich weit davon entfernt, mir auf diese Tatsache etwas einzubilden.“ (pos. 143) lässt er seinen Protagonisten vorausschicken.

Einerseits ist man ja doch ganz banal Mensch mit typisch menschlichen Bedürfnissen, aber andererseits ist die öffentliche Rolle und Selbstdarstellung von einem gewissen literarischen Habitus geprägt. Das Leben wird in Akten erlebt, seine Gespräche mit der Polizei sind geradezu absurd und der tragische Ausgang der Handlung kann natürlich nur einer der großen Tragödien nachempfunden sein – der Titel lässt es uns schon ahnen. Ein Balkon, eine vereitelte Liebe, ein unschönes Ende. Dazwischen noch die messerscharfen Beobachtungen des Literaturbetriebs:

„Hinter der gespielten Herzlichkeit verbargen sich Geltungssucht, Selbstüberschätzung und eiskalte Berechnung.“ (pos. 265)

So begegnen sich die Konkurrenten, die sich dem äußeren Schein nach alle furchtbar gerne mögen.

Die Handlung selbst bietet neben den offenkundigen Parallelen zu den großen Werken der Literatur – neben Shakespeare werden die Nationalheiligen gleich mehrerer Länder bemüht, bisweilen so überzeichnet deutlich, dass es schon wieder als Stilmittel durchgeht. Den russischen Straßenköter Raskolnikow zu taufen, wo dieser dann doch ganz harmlos und nett ist – man sieht schmunzelnd darüber hinweg. Aber er bedient sich auch großzügig des Films und der Malerei als Lieferant für zahlreiche Anspielungen, die er nebenbei ganz flüssig einbaut. Auch die eher plakativen Beobachtungen der russischen und spanischen Kultur und die grotesk anmutende Unheil ankündigende Nachricht, die in Walliserdeutsch verfasst wurde, lassen darauf schließen, dass der Autor sich einen Spaß mit seinem Leser erlaubt und vermutlich beim Schrieben ebensolchen hatte.