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miss.mesmerized
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Deutschland
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Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 26.08.2017
Walter Nowak bleibt liegen
Wolf, Julia

Walter Nowak bleibt liegen


sehr gut

Er hat sich gut gehalten, richtig fit ist er für seine 68 Jahre. Doch bei einer Routineuntersuchung findet seine Ärztin da etwas; muss nicht schlimm sein, bestimmt operabel, weitere Tests sollen Klarheit bringen. Walter Nowak macht weiter, wie jeden Morgen geht er schwimmen, zieht konsequent seine Bahnen, der Fitness wegen. Doch eine Frau lenkt ihn ab, erinnert ihn an seine zweite Ehefrau Yvonne, noch vor wenigen Jahren hatte sie auch noch so einen Pferdeschwanz – und schon passiert es: Walter Nowak schlägt mit dem Kopf am Beckenrand ein. Ein harter Schlag, der ihn aus der Bahn wirft. Kurz danach ist er bewusstlos am Badezimmerboden, was ist passiert? Erinnerungsfetzen durchziehen seinen Alltag, Erinnerungen an die Zeit mit Gisela, seiner ersten Frau; den gemeinsamen Sohn Felix, von der Schule geflogen wegen Drogenhandels; seinen Job – und immer wieder wacht er auf und findet sich in einer Situation wieder, von der er nicht weiß, wie er überhaupt in sie geraten ist. Gerade eben war er noch völlig gesund und fit und nun scheint er die Kontrolle über sein Leben zu verlieren.


Julia Wolfs zweiter Roman, auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2017, wagt einen Blick in die Tiefen der Psyche eines Mannes, der vom Erfolg verwöhnt war und alles im Griff hatte und sich plötzlich einer ganz neuen Situation gegenübersieht: sein Gehirn liefert ihm Erinnerungen, die schon jahrelang verschüttet waren, gleichzeitig kann er sich an Alltägliches nicht mehr erinnern. Die Suche nach dem Schlüssel gerät zur mühevollen Rekonstruktion des ganzen Morgens; ein Zettel auf dem Schreibtisch seiner Frau lässt ihn Schlimmstes vermuten, hat sie einen anderen oder wer war M. noch gleich? Die Reparatur an der Decke - hat er das Material schon gekauft oder sieht er den Riss zum ersten Mal?


Ein Leben, das scheinbar mit der unheilvollen Diagnose und dem schweren Schlag aus den Fugen gerät. Aber war es vorher in Ordnung? Der vermeintlich plötzliche Bruch – aber wie der Riss in der Decke hatte auch sein Leben schon Risse, da die Perspektive aber nicht stimmte, der Blick stets abgewandt war, musste er sie nicht sehen. Seine Frau geht mehrere Tage auf Reisen, verabschiedet sich jedoch nicht mit einem Kuss, sondern nur mit einem „Ach Walter“. Sein Sohn, der die Erwartungen des Vaters nicht erfüllen konnte und als Tierpfleger endete. Das Leiden des Kindes, von Walter ignoriert, erst mit 30 die notwendige Therapie. Seine Untreue, die er gar nicht als solche wahrhaben will, es gehörte offenbar zu seinem Lebenskonzept als erfolgreicher Mann. Nicht die Frage nach seiner eigenen Herkunft, nach seinem Vater, seinem genetischen Erbe hat ihn je interessiert, aber das Nachlassen der Potenz, die schwindende Möglichkeit sich fortzupflanzen belastet ihn. Gescheiterte Beziehungen pflastern die Straße seines Lebens und nun ist er allein mit seinem Kummer und der Angst. Als draußen das Unwetter tobt, findet er seine Ruhe und schließt ab mit seinem Leben.


Walter Nowak ist nicht sympathisch. Man empfindet nur wenig Mitleid mit ihm. Zu viele Fehler hat er gemacht in seinem Leben. Zu wenig reflektiert er sein eigenes Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen. Doch nun ist er am Ende, kaum einen klaren Satz bringt er zustande. Als Erzähler ist er schwierig, die abgehackten Fragmente spiegeln seinen Zustand wieder, das Springen von einem Gedanken zum nächsten ohne den ersten je zu Ende zu führen. Julia Wolf gelingt es bemerkenswert, das Innenleben ihres Protagonisten auch stilistisch umzusetzen. Nicht einfach zu lesen, aber Walter Nowak ist auch keine einfache Figur und so passt beides hervorragend zusammen.

Bewertung vom 26.08.2017
Die Geschichte der getrennten Wege / Neapolitanische Saga Bd.3
Ferrante, Elena

Die Geschichte der getrennten Wege / Neapolitanische Saga Bd.3


ausgezeichnet

Italien, 1970er Jahre. Elena Grecos Buch wird ein großer Erfolg in Italien, selbst im Rione hat man es gelesen und die Leute schwanken zwischen Bewunderung und Ablehnung ob der für ihr Empfinden expliziten Szenen. Nur Lila will der Freundin keine Anerkennung zollen. Sie ist jedoch auch zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hat und in einer Wurstfabrik schuftet. Die Strömungen der Zeit machen auch vor Neapel nicht Halt und die Gewerkschaften werden zunehmend stärker. Lila liefert ihnen Futter und bringt sich damit in höchste Gefahr. Auch Elena lässt sich von der Kampfeslust anstecken und schreibt erfolgreich über die Ausbeutung und schlechte Behandlung der Arbeiter, doch schon kurz nach ihrer Hochzeit mit Pietro ändert sich ihr Leben vollends: ungewollt schwanger wird sie mehr und mehr in das Leben einer Hausfrau und Mutter gedrängt, das an ihren Nerven zerrt und sie vom Schreiben abhält. Während ihrerseits Lila nun ihre Karriere als Programmiererin vorantreibt, geht Elenas Stern langsam unter. Der Rione versinkt im Chaos von Gewalt und Korruption, keine Familie kann sich dem Supf entziehen, nur Elena bleibt fernab der Heimat Zaungast. Und plötzlich tut sich die Chance zum Ausbruch aus dem inzwischen verhassten Leben auf.

Elena Ferrantes Saga um die beiden Kindheitsfreundinnen geht mit Band drei weiter. Aus den beiden Mädchen sind erwachsene Frauen und Mütter geworden. Das Leben schenkt keiner von ihnen etwas. Beide haben unterschiedliche Kämpfe auszutragen und es scheint fast, als sei ihr Schicksal aneinandergeknüpft: geht es bei der einen bergauf, geht es mit der anderen bergab, bis das Rad der Zeit sich weiterdreht und die Verhältnisse wieder umkehrt. Immer noch besteht zwischen ihnen eine Art Hass-Liebe: sie unterstützen sich und sie bekämpfen sich. Keine kann sich von der anderen lösen, argwöhnisch beäugen sie sich gegenseitig und geradezu gehässig schlagen sie immer wieder zu und verletzten sich gegenseitig.

Es ist vor allem die Faszination der Erzählerin für ihre Freundin, die einen gewissen Reiz ausmacht und man versteht, weshalb diese nun erwachsene Frau, die immer noch so bösartig und hinterhältig sein kann, wie man sie als Kind bereits erlebt hat, sie nicht loslässt. Auch andere Figuren spüren das Unbegreifliche an Lila, „das zugleich verführte und beunruhigte, die Kraft einer Sirene.“ (S. 169). Alle verfallen ihrem Charme eher oder später und bezahlen für die Zuneigung, die sie ihr entgegenbringen. Auch Pietro ist nicht gefeit davor, versucht sich jedoch durch seine distanzierte Analyse davor zu schützen, was auch ihm nur mäßig gelingt.

In diesem Band fand ich neben der geradezu bizarren Freundschaft der beiden vor allem Elenas Loslösung von der Familie interessant. Sie heiratete in eine andere Welt, lebt fernab von Neapel und bekommt von den Alltagssorgen nichts mit. Sie eilt jedoch immer wieder nach Hause, wenn erforderlich, nur um dort auf Ablehnung zu stoßen: sie gehört nicht mehr dazu, sie versteht ihre eigene Familie nicht mehr und kann vor allem nicht nachvollziehen, wie sich die Strukturen wandeln. Hier greift die Autorin geschickt die politischen Entwicklungen und vor allem das Erstarken der Mafia auf, das immer nur am Rande thematisiert wird. So wie man vor Ort niemals darüber sprechen kann, wird dies auch im Buch nicht offen thematisiert. Elena erfährt immer nur am Telefon von den Morden und den möglichen Verdächtigen, nie ist sie präsent, die Taten bleiben an der Peripherie.

Der Schreibstil Elena Ferrantes ist unverkennbar und knüpft nahtlos an den Vorgängerband an. Die Seiten fliegen einmal mehr nur so dahin und wie gewohnt bleibt auch am Ende ein großes Fragezeichen bezüglich der Zukunft der Figuren. Man darf auf den Abschluss der Reihe gespannt sein.

Bewertung vom 23.08.2017
Töte mich
Nothomb, Amélie

Töte mich


ausgezeichnet

Jugendlicher Leichtsinn oder doch ein Zeichen für ihren schlimmen Zustand? Der Graf Neuville muss seine Tochter Sérieuse bei einer Wahrsagerin abholen, nachdem diese das Mädchen völlig durchgefroren nachts im Wald auffand. Zum Abschied prophezeit sie dem Vater, dass er bei einem Empfang einen seiner Gäste töten werde. Die beeindruckt Neuville zunächst nur mäßig. Geldsorgen plagen ihn und am 4. Oktober 2014 wird seine letzte große Garden Party im Château du Pluvier steigen, bei der alles perfekt sein muss. Danach wird das Schloss veräußert und die Familie sich in ein kleineres Domizil zurückziehen. Doch die Voraussagungen der Frau lassen ihm keine Ruhe. Vielleicht wäre es besser, sich auf das Ereignis vorzubereiten. So beschließt er eine Liste derjenigen Gäste zu machen, der Tod nicht nur verzeihlich, sondern sogar wünschenswert wäre. Bald hat er auch einen passenden Kandidaten ausgemacht. Doch dann überrascht ihn Sérieuse mit einem Vorschlag: er solle sie doch töten. Seit fünf Jahren bereits ist sie unglücklich und hat den Eindruck, nie mehr etwas fühlen zu können. Der Tod wäre eine Erlösung und durchaus in klassischer Tradition und somit verzeihlich. Wie kann der Graf aus dieser unsäglichen Geschichte entkommen?

Amélie Nothombs aktueller Roman ist ein herrliches Spiel mit den Klassikern der Literatur. Sie macht sich gar nicht erst die Mühe, dies groß zu verschleiern, sondern spielt ihre Persiflage en détail aus. Der verarmte Graf, geradezu ein Musterbeispiel einer Figur, die gerade zu der Commedia dell’arte entsprungen sein könnte in ihrer Schablonenhaftigkeit und Eindimensionalität der verarmten Noblesse. Er weiß um die Konventionen und was man von ihm erwartet und zelebriert die Kunst des Gastgebens in extremo, so dass diese Absurdität kaum mehr zu überbieten ist. Seine Kinder nennt er Oreste und Électre – beide schuldig gewordene Figuren der griechischen Mythologie, doch er schreckte davor zurück die Jüngste nach Iphigénie zu benennen, die durch die Hand des Vaters starb – doch wo endet er? Genau wie Agamemnon sieht er sich schon als Kindsmörder. Doch auch der Grundkonflikt ist ohne Verschleierung übernommen, die Autorin treibt ihren Spaß sogar so weit, dass sie Neuville die Geschichte Oscar Wildes um das Verbrechen von Lord Arthur Savile lesen lässt, dem von einem Wahrsager ein Mord angekündigt wurde. Ob er in Anbetracht der Hiobs-Botschaft zum Mörder zu werden wohl in der Bibel Trost und Hilfe finden kann?

Hätte sie ihren Roman in fünf Akten geschrieben, er wäre in bester Tradition sehr gut auf der Bühne aufgehoben gewesen. Doch auch zu lesen macht eine herrliche Freude nicht nur ob der zahlreichen Anspielungen und Figuren, sondern auch die gelungenen Formulierungen sind ein Genuss:
Neuville weiß um seinen Status und seine Perfektion als Gastgeber: „Ich bin der letzte Vertreter dieser altmodischen Höflichkeit und exquisiten Kunst des Zusammenseins. Nach mir wird es nur noch Events geben.“ Und Kritik an der Namensgebung seines Nesthäkchens weist er deutlich von sich und verweist darauf, dass „Ernest“ auch nichts Anderes bedeute als Sérieuse, die zwar selbst auch nicht hübsch, aber wenigstens bezaubernd sei und damit nicht wie ihre Eltern einen Namen wie „Hinz und Kunz“ trage.

Ein kurzer Spaß, der in der französischen Ausgabe mit dem Satz « Ce qui est monstrueux n'est pas nécessairement indigne. » begleitet wird. Nur weil etwas monströs ist, muss es nicht würdelos sein. Die Figuren wahren den Schein und die Contenance. Der Leser bekommt ein riesiges Bouquet, in dem er vieles wiederkennen kann oder an dessen äußerer Erscheinung er sich einfach erfreut.

Bewertung vom 21.08.2017
Underground Railroad
Whitehead, Colson

Underground Railroad


ausgezeichnet

Georgia, Anfang des 19. Jahrhunderts. Cora lebt als Sklavin auf der Randall Farm, dort ist sie geboren, etwas anderes als die harte Arbeit und die schrecklichen Strafen kennt sie nicht. Ihrer Mutter ist vor Jahren die Flucht geglückt, was das Leben für Cora nicht einfacher macht. Nachdem sie sich einer Gruppe Männer erfolgreich zur Wehr gesetzt hat, gehört sie zu den ausgestoßenen Frauen, was ihr aber die Möglichkeit eines halbwegs friedlichen Lebens eröffnet. Als Caesar sie zum ersten Mal wegen einer möglichen Flucht anspricht, lehnt sie ab. Schon ihre Großmutter hatte das zugeteilte Schicksal widerspruchslos ertragen. Doch die Situation auf der Farm ändert sich und so stimmt Cora schließlich doch zu, auf das geheime Netzwerk der Underground Railroads zu vertrauen und die gefährliche Flucht zu wagen. Die nächsten Monate wird sie in Angst leben, mal mehr mal weniger, weite Teile der USA kennenlernen, von Freiheit träumen und doch immer wieder an ihre Herkunft erinnert werden. Wird die junge schwarze Frau jemals dem ihr zugeschriebenen Los endgültig entkommen können?

Colson Whiteheads Romane wurden vielfach mit Preisen ausgezeichnet und mit Lob überhäuft. „Underground Railroad“ konnte jedoch alle vorherigen weit übertreffen. Es wurde zwar schon dadurch geadelt, dass President Obama es als Sommerlektüre 2016 benannte, erhielt danach den National Book Award Fiction 2016, die Carnegie Medal for Excellence in Fiction 2017, den Pulitzer Prize for Fiction 2017, den Arthur C. Clarke Award 2017 und stand auf der Longlist des Booker Prize 2017. Sich einem solchen Roman unvoreingenommen zu nähern, ist quasi unmöglich, aber die Messlatte liegt auch hoch und kurzgefasst resümiert: locker übertrifft der Roman die Erwartungen.

Zunächst zum titelgebenden Phänomen der Underground Railroads. Diese unterirdischen Züge existierten tatsächlich und waren ein Netzwerk geheimer Routen und sicherer Häuser, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Abolitionisten geschaffen wurden, um Sklaven bei der Flucht zu helfen. Dabei riskierten die Helfer ihr Leben, was man im Roman auch leider immer wieder erleben muss. Die Strafen für sie waren drakonisch, das wussten sie, und dennoch haben sie das Risiko für diese Sache auf sich genommen. In der Geschichte der USA ist dieses Thema für mein Empfinden nur wenig präsent, umso erfreulicher, dass ein Roman es schafft, in der breiten Öffentlichkeit einen Aspekt der Sklaverei bekannt zu machen und so einen wesentlichen Beitrag zur historischen Bildung beizutragen.

Der Roman lebt jedoch von der Protagonistin Cora. Sie hat einen großen Überlebenswillen, kann beherzt reagieren, wenn erforderlich, ist jedoch auch sehr bedacht in ihrem Handeln. Sie ist kein bedauernswertes Opfer, sondern eine starke Persönlichkeit, die zukunftsorientiert und wissbegierig ihren Weg geht und Rückschläge tapfer verkraftet. Ihr Leben ist ein kontinuierliches Auf und Ab, geschenkt wird ihr nichts, nur manchmal ist das Glück auf ihrer Seite – aber es ist ein volatiles Gut. Gerade für einen historischen Zeitpunkt, der doch sehr stark männerdominiert war, insbesondere auch bei den Weißen, eine Frau, die mutig ihren Weg geht, als Protagonistin auszuwählen, hat mir insbesondere gefallen.

Colson Whitehead und dem Übersetzer Nikolaus Stingl gelingt es auch einen passenden Ton für die Erzählung zu finden. Bisweilen brutal in der Darstellung der Bestrafung der Sklaven schafft dies aber die notwendige Authentizität, die den Roman lebendig wirken lässt. Ähnlich wie Coras Leben mal hektischer und mal in ruhigeren Bahnen verläuft, ist auch der Erzählton angepasst und findet so einen stimmigen Rhythmus.

„Underground Railroad“ ist vermutlich einer der wichtigsten Romane des Jahrzehnts, der völlig zurecht in den Kanon der amerikanischen Literatur eingehen dürfte und sollte. Es wäre ein Verlust, wenn man sich dieses Werk entgehen lassen würde.

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Bewertung vom 18.08.2017
Gegen alle Regeln
Levy, Ariel

Gegen alle Regeln


sehr gut

Ariel Levy ist eine erfolgreiche Journalistin, deren Leben offenbar aufregend und glücklich ist. Doch hinter der öffentlichen Fassade sieht vieles anders aus, als man erwarten könnte. In ihrem Buch „Gegen alle Regeln“, das auf einem Artikel basiert, der bereits 2013 im New Yorker erschienen ist, zeichnet sie ihren Weg bis zum völligen Kollaps ihres Lebens nach. Ihre Kindheit, in der sie schon früh von den starken Mädchen- und Frauenfiguren fasziniert war und bereits im Grundschulalter den Wunsch entwickelte, Journalistin zu werden. Ihre Anfänge im der Zeitungsbranche, die von Sexismus geprägt war und jungen Kollegen kaum Chancen bot. Daneben ihr Privatleben, für das die gängige Vorstellung einer heterosexuellen Monoehe nicht funktionierte; wechselnde Partner, männlich wie weiblich, bis sie schließlich in Lucy ihre Lebenspartnerin gefunden zu haben scheint. Doch auch diese Verbindung muss Höhen und Tiefen durchleben und mit Mitte 30 drängt sich die Frage nach Kindern immer mehr auf. Die Schwangerschaft verläuft zunächst glücklich, die Freude über das Kind ist groß, doch dann kommt es fernab der Heimat zu einer Notgeburt, die das Baby nicht überlebt und Ariel völlig aus der Bahn wirft.

Das Buch wird zwar insbesondere mit der Episode um den Verlust des Kindes und die daraus resultierenden Folgen für Ariels komplettes Leben beworben, tatsächlich ist dies aber nur ein kleiner Teil und für mich noch nicht einmal der Interessanteste. Ariel Levy hat im Prinzip zweierlei geschafft: zum einen erlaubt sie einen Blick in die New Yorker Scheinwelt, die von außen glamourös und sorgenfrei erscheint; zum anderen hat sie eine sehr persönliche Abrechnung mit ihrem eigenen Leben und Schicksal zu Papier gebracht, was in Anbetracht der geschilderten Episoden sehr mutig und interessant zu lesen ist.

Für mich faszinierend für allem ihr Weg im Journalismus. Die ersten Jahre, der harte Kampf um gute Reportagen und Anerkennung ihrer Arbeit. Die Glasdecke, die vor allem für Frauen in der Branche eine harte Realität darstellt und die zu durchbrechen nicht nur viel Durchhaltevermögen und Hartnäckigkeit, sondern auch Glück erfordert. Die Geschichten und Menschen, die Ariel anlocken zeigen, dass sie ein Händchen für außergewöhnliche Stories hat und es ihr auch gelingt, diese rüberzubringen. Auch ihr Privatleben, vor allem die Schwierigkeit, mit einem süchtigen Partner zusammenzuleben, ist eine Offenbarung, die in dieser Deutlichkeit viel Mut erfordert. Das Leugnen der Zeichen, die Hoffnung, dass doch alles gut werden könnte und die schleichend sich doch einstellende Erkenntnis, dass dieser Wunsch womöglich nicht erfüllt werden wird. Hier wird das Buch bis an die Schmerzgrenze persönlich.

Insbesondere die Thematik rund um die Schwangerschaft wird sehr authentisch geschildert. Immer wieder scheint das Thema Kinder durch das Buch. Als Teenager gilt es eine ungewollte Schwangerschaft unbedingt zu verhindern; in den 20er ist Frau mit Karriere beschäftigt und nicht bereit, alles gerade Errungene wieder aufzugeben. Mit 30 langsam treten das bürgerliche Leben und ausreichende finanzielle Mittel ein, die eine Familiengründung erlauben würden und plötzlich spielt die Natur nicht mehr mit und der Wunsch nach einem Kind kann nur noch mit medizinischer Unterstützung erfüllt werden – wenn überhaupt. Viele Frauen ab Ende 30 werden diese Geschichten aus eigene Erfahrung oder ihrem Umfeld kennen und einer unschönen Realität ins Auge blicken müssen: Karriere und Kinder sind schlichtweg nicht so einfach vereinbar, wie man es uns immer vorgaukelt und manche Entscheidung bereut man vielleicht einige Jahre später bitter.

„Gegen alle Regeln“ ist die Lebensgeschichte einer Frau, die viel Licht, aber auch viel Schatten kennengelernt hat und in vielerlei Hinsicht symptomatisch für moderne Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist.

Bewertung vom 16.08.2017
The House
Lelic, Simon

The House


sehr gut

Finding a house in London is more or less impossible; therefore, Sydney and Jack are happy when they finally get one. It is not what they have dreamt of, but, with the time, they became realistic about what is possible and accepted the offer. Soon after they move in, strange things start to happen and they become more and more alert: is the house haunted or is somebody playing tricks on them? Is it because they interfered with the neighbour? His daughter confided herself in Sydney and awoke bad memories in her: just like Betsi, Sydney was suffering under her father’s temper and violence throughout her childhood. Unable to find help, she ran away at the age of 14 and left her younger sister with the situation at home alone. A bad conscience makes Sydney support the young neighbour, but obviously, her father is going to stop this. Or is the threat coming from somewhere completely different? No matter what is behind, soon Sydney and Jack find themselves in danger and even start losing faith in each other.


Simon Lelic’s novel starts a bit as a surprise, it’s not the typical third person narrator we have, but a kind of diary entries or letters that the two protagonists write to each other. So we have Jack’s and Sydney’s perspective in alternation which makes it quite lively and authentic, especially since you get the impression of the highly stressful situation they are in and which has gone out of control. The way they write reflects their emotional state, it is repetitive, not well organised and thought through but rather like a stream of consciousness just coming out of their mouth.


The plot itself has many surprises to offer, at first you are with the protagonists, not knowing what is happening and always trying to make sense of what they write. Then, slowly, you realise that Sydney and Jack have hidden some useful and important information from you, too, and you start getting sceptical about actually trusting them. As the novel moves on, you have to adjust your idea of the characters and the action again and again which I liked a lot since you could never feel absolutely secure about it.


“The House” really deserves the label “thriller”. Quite often, you feel a cold shiver running down your spine when again something strange happens in the house. The characters’ actions are all credibly motivated and the plot itself is convincingly constructed. The strongest aspect for me was the psychological construction behind the story; knowing what Sydney went through, you can understand her reaction when she finds out about Betsi’s life at home. But also Sydney’s mother – even though she is a rather tragic figure – can be understood in her way of behaving. So, the novel is not just playing on your nerves with a thrilling plot, but also offer some insight in emotionally induced actions and decisions.

Bewertung vom 15.08.2017
Kein guter Ort (eBook, ePUB)
Stäber, Bernhard

Kein guter Ort (eBook, ePUB)


sehr gut

Eine gelungene Festnahme eines gesuchten Verbrechers bringt Kari Bergland auch mit Janne, der Tochter ihres Vorgesetzten In Verbindung. Diese ist offenkundig schwer drogenabhängig und therapiebedürftig. In Bergen wird das nur schwer zu realisieren sein, daher schlägt Kari vor, Janne zum Psychologen Arne Eriksen zu bringen, der der Polizei in der Vergangenheit bereits wiederholt geholfen hat und nun in Südnorwegen praktiziert. In der Nähe seiner neuen Heimat befindet sich auch die sogenannte Rabenschlucht, ein unheimlicher Ort, der heute nur noch ein verlassenes Hotel beherbergt, in dem zehn Jahre zuvor ein junges Mädchen und ihr Vater unter mysteriösen Umständen ums Leben kamen. Janne ist ebenfalls sofort fasziniert von diesem verwunschenen Ort und begibt sich in größte Gefahr. Offenbar haben sie schlafende Geister geweckt, die noch nicht mit der Vergangenheit abgeschlossen haben.

„Kein guter Ort“ ist bereits der dritte band in der Reihe um den deutsch-norwegischen Psychologen Arne Eriksen. Der Quereinstieg in die Reihe ist unproblematisch möglich, dass Arne und Kari vorher bereits in Kontakt standen, wird kurz umrissen, Details sind aber für das Verständnis der Figuren und der Handlung nicht weiter erforderlich.

Der Roman holt erst sehr weit aus, bevor der tatsächliche Fall überhaupt in den Fokus kommt. Dies fand ich verwunderlich und auch nur teilweise gelungen, da man sich schon fragt, weshalb so ausführlich auf einen anderen Fall eingegangen wird, der dann gänzlich in Vergessenheit gerät. Nur um Janne ins Spiel zu bringen - das hätte vielleicht auch stringenter und schneller geschehen können. Hat man aber endlich den Hauptschauplatz erreicht, besticht der Krimi vor allem durch die Atmosphäre. Bernhard Stäber gelingt es überzeugend, das verfallende Hotel und die Schlucht als geradezu mystisch Ort darzustellen, der von übersinnlichen Mächten regiert wird und für die Menschen große Gefahren in sich birgt. Immer wieder wird im Roman Bezug genommen auf nordischen Sagen und den alten Glauben an die Kraft bestimmter Orte. Dies trifft nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere haben scheinbar ein Empfinden für diese nicht greif- und verstehbaren Naturgewalten.

Die Figuren agieren glaubwürdig und nachvollziehbar, vor allem die Protagonistin Janne kann hier mit einer überzeugenden Charakterzeichnung punkten. Der Fall ist nicht übertrieben komplex und wird entsprechend zielgerichtet und plausibel gelöst. Auch wenn die Handlung speziell gegen Ende deutlich an Fahrt gewinnt, ist es jedoch kein Krimi, der sich durch permanente Hochspannung auszeichnet. Er kann mehr durch das Setting punkten, das sehr gelungen dargestellt und in die Handlung eingebaut wird.

Bewertung vom 12.08.2017
Mein Leben als Hoffnungsträger
Steiner, Jens

Mein Leben als Hoffnungsträger


ausgezeichnet

Nachdem er seine Mechatronikerlehre abgebrochen hat, taumelt Philipp etwas planlos durchs Leben. Aus seiner WG ist er ebenfalls geflogen, sein Putzfimmel hat die Mitbewohner so sehr unter Druck gesetzt, dass sie im Rauswurf den einzigen Ausweg sahen. Eines Tages spricht ihn Uwe an und zeigt ihm den städtischen Recyclinghof, den er leitet. Philipp findet wieder Erwarten in dem ernsten Uwe, der Recycling als nicht nur wichtige, sondern auch sehr ernsthafte Sache begreift, seinen Mentor und mit den beiden portugiesischen Mitarbeitern João und Arturo zwei angenehme wenn auch eigenwillige Kollegen. Sein Leben gewinnt einen neuen Rhythmus und die kleine Zweckgemeinschaft wird bald durch ein aus dem Ruder laufendes Nebengeschäft Joãos auf eine ernste Probe gestellt.

„Mein Leben als Hoffnungsträger“ ist kein Buch, das einem sofort anspringt und sich aufdrängt – was ein echter Fehler ist. Das Cover erschließt sich nicht zwingend auf den ersten Blick, das Recylingzeichen ist zwar gut erkennbar, aber schon die andere Farbwahl, orange statt grün, schafft einen Bruch. Der Titel des „Hoffnungsträgers“ bezieht sich auf Philipp: zunächst war er der Hoffnungsträger für den Vater, dessen Erwartungen er jedoch in keiner Weise erfüllen konnte oder wollte. Später sieht Uwe in ihm den Recyclingnachwuchs, der mit demselben Elan wie er selbst die Abfallwirtschaft wird vorantreiben können.

Das Buch lebt von den Figuren, die liebevoll gezeichnet wurden und echte Persönlichkeit haben und sich nicht nur auf wenige Charakterzüge beschränken. Die Mischung auf dem Recyclinghof schafft eine besondere Spannung: der ernsthaften Chef, der fast pedantisch korrekt ist und in seiner Arbeit zugleich einen Bildungsauftrag an den Bürgern sieht; João, der den Hauptberuf als günstige Quelle für seine Nebengeschäfte nutzt; Arturo, der einfältige Gehilfe, der jedoch unerwartet über künstlerische Fähigkeiten und pragmatische Lösungen verfügt; Philipp, der eher zurückgezogene Träumer, der nicht genau weiß, was er im Leben möchte und sich mehr für Dinge als für Menschen begeistern kann. Diese Zweckgemeinschaft reibt sich immer wieder, zeigt jedoch im Moment der größten Not als funktionierendes Gespann, wo das Einspringen für den anderen und die notwendige Schützenhilfe selbstverständlich sind. Durch und durch menschlich erscheinen sie, keiner ohne Macke und Fehler und gerade dadurch so sympathisch.

Daneben sind es die kleinen Beobachtungen, die im Buch zutage treten und einem durchaus innehalten lassen: die Frage danach, in welchem Überfluss wir leben und es uns erlauben, sogar noch funktionstüchtige Apparate zu entsorgen. Die selbstverständliche Erwartung, dass jeder eine Karriere anstreben muss und das Einkommen als natürlicher Maßstab für Erfolg und Glücklichsein.

Philipp als Erzähler wurden von Jens Steiner auch passende Formulierungen in den Mund gelegt, die immer wieder zu einem Schmunzeln führen. Das holprige Deutsch der Portugiesen ist herrlich ohne diese zu verunglimpfen, wenn sie beispielsweise „die Sache von die Angelegenheit“ besprechen und sie den „Wegwerf rezikeln“. Bisweilen wird es gar philosophisch und ernsthaft, denn mit Philipp hat Steiner einen beobachtenden Protagonisten geschaffen, der mit einer innerlichen Distanz unsere Welt betrachtet und infrage stell: „Die Niedertracht der Welt, in der ich lebte, bestand darin, dass jede Generation noch ein bisschen mehr aus sich herauszuholen hatte als die vorherige“ (S. 135)

Ein unterhaltsamer Roman, der durchaus auch zum Nachdenken anregt.