SPIEGEL-Bestseller und Shortlist Preis der Leipziger Buchmesse
Ingo Schulze erzählt davon, wie wird ein aufrechter Büchermensch zum Reaktionär wird - oder zum Revoluzzer? Norbert Paulini ist ein hochgeachteter Dresdner Antiquar. Lange Jahre finden Bücherliebhaber bei ihm Schätze und Gleichgesinnte zum Gedankenaustausch. Doch mit der Wende bricht das Geschäft ein, die Kunden bleiben weg. Paulini versucht mit aller Kraft, sein Lebenswerk zu retten. Doch er scheint dabei ein anderer zu werden. Er ist aufbrausend und zornig. Er wird beschuldigt, an fremdenfeindlichen Ausschreitungen beteiligt zu sein. Die Geschichte nimmt eine virtuose Volte: Ist Paulini eine tragische Figur oder ein Mörder?
Ingo Schulze erzählt davon, wie wird ein aufrechter Büchermensch zum Reaktionär wird - oder zum Revoluzzer? Norbert Paulini ist ein hochgeachteter Dresdner Antiquar. Lange Jahre finden Bücherliebhaber bei ihm Schätze und Gleichgesinnte zum Gedankenaustausch. Doch mit der Wende bricht das Geschäft ein, die Kunden bleiben weg. Paulini versucht mit aller Kraft, sein Lebenswerk zu retten. Doch er scheint dabei ein anderer zu werden. Er ist aufbrausend und zornig. Er wird beschuldigt, an fremdenfeindlichen Ausschreitungen beteiligt zu sein. Die Geschichte nimmt eine virtuose Volte: Ist Paulini eine tragische Figur oder ein Mörder?
Ingo Schulze unternimmt in diesem fabelhaften Roman nichts weniger als eine Spurensuche nach seiner möglichen eigenen Schuld. Volker Weidermann Der Spiegel 20201128
Freiheit
im Abseits
Eben doch kein
konventioneller Schlüsselroman:
Ingo Schulzes Roman
„Die rechtschaffenen Mörder“
über einen Dresdner Eigenbrötler
auf politischen Abwegen
VON JÖRG MAGENAU
Der erste Satz schafft die Atmosphäre und lässt noch alles offen. Er ist die Tür in eine unbekannte Welt. Bei Ingo Schulze klingt der erste Satz wie der einer Novelle von Heinrich von Kleist: „Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss.“
Ort und Zeit sind damit vorgegeben. „Einst“, das ist „Es war einmal“ und zugleich die DDR als Raum, in dem die Zeit stillstand. Blasewitz liegt an der Elbe, wo die blaue Brücke hinüberführt nach Loschwitz und von dort zum Weißen Hirsch, dem literarischen Terrain von Uwe Tellkamp. Es ist kein Zufall, dass Ingo Schulze seine Geschichte in dieser Nachbarschaft ansiedelt, spürt er doch der Frage nach, woher die Aggressionen, die Ängste und die Ausländerfeindlichkeit der Gegenwart stammen und wie es sein kann, dass gerade das ostdeutsche Bildungsbürgertum, wie Tellkamp es in seinem Roman „Der Turm“ geschildert hat, auf politische Abwege geraten ist und sich mit den Ressentiments der Pegida-Demonstranten vermählt. Schützt Bildung denn vor gar nichts?
Das Antiquariat als verwunschener Ort ist per se schon aus der Zeit gefallen, sodass man diesen Roman betritt wie die „Unendliche Geschichte“ von Michael Ende. Doch wenn dort der emphatische Leser ein Junge ist, der mit einem gestohlenen Buch ins Reich Phantásien aufbricht, so ist der Leser hier der Antiquar selbst, Norbert Paulini, ein Mann, der weder jung noch alt zu sein scheint und von dem sich niemand vorstellen kann, dass er jemals anders ausgesehen haben könnte als heute. Das Setting ist absolut bestsellerverdächtig. Man braucht für einen Bestseller einen verschrobenen, aus der Zeit gefallenen Helden mit Überraschungspotenzial und am besten einen Leser oder eine Leserin wie in „Sophies Welt“, in der „Unendlichen Geschichte“ oder in „Der Vorleser“. Lesende lesen gerne von Lesern und greifen vorzugsweise zu Büchern, in denen Bücher vorkommen. Davon gibt es in „Die rechtschaffenen Mörder“ mehr als genug.
Bestsellerverdächtig ist auch der behäbige, konventionelle Tonfall, den Ingo Schulze anschlägt und der auch vor Binsenweisheiten nicht zurückschreckt: „Nur der uneigennützige Leser, der sich einem Buch vorbehaltlos und ganz und gar zu öffnen vermag, kann es in seiner Differenziertheit und Komplexität erfassen.“ Brav und bieder entfaltet er die Lebensgeschichte seines Antiquars, oder vielmehr lässt er einen Ich-Erzähler, der sich immer mal wieder zwischen den Zeilen zu erkennen gibt, davon berichten, allerdings so, dass man sich fragen muss: Woher weiß dieser Biograf das alles, wenn er aus der Kindheit berichtet, von den Bücherbergen der Mutter, den Wanderungen mit dem Vater im Riesengebirge, Schul- und Armeezeit, und immer und überall von den Büchern. Seine Bestimmung und seinen Lebensort fand Norbert Paulini, als Kind eher Außenseiter und Eigenbrötler, schließlich in seinem Antiquariat, das, 1977 eröffnet, zu einem Zufluchtsort für dissidentische Geister wurde, die dort Werkausgaben von Benn, Jünger, Kafka oder Bloch finden konnten und sich regelmäßig zu einer Samstagsrunde trafen, an der auch der merkwürdig indifferente Ich-Erzähler teilgenommen hat.
Dieses intellektuelle Nischendasein geht im Herbst 1989 mit der Wende verloren. Mit dem Markt bricht auch die Zeit in dieses schöne, abseitige Utopia ein; Bücher sind auf einmal nichts mehr wert. Sie sind nicht einmal mehr Ramsch, sondern Müll, der bei Paulini ausgekippt wird, weil die Kartons kostbarer sind als ihr Inhalt. Die Kunden bleiben aus, das Antiquariat geht in Konkurs und Paulinis Ehe in die Brüche, als sich herausstellt, dass seine Frau der Stasi über die Samstagrunden Bericht erstattet hat. Ingo Schulze zeigt, dass sich der Umbruch mit seinen wirtschaftlichen Verwerfungen und politischen Erregungen tatsächlich als Büchergeschichte schreiben lässt. Aus dem Antiquar wird, nach einer Episode als Kassierer im Supermarkt, schließlich ein Nachtportier, weil das eine Tätigkeit ist, die zu lesen erlaubt.
Aber Paulini hat seine Welt verloren, seinen Ort, seine Mitte, sein Leben. Muss man sich also wundern, wenn er auf Abwege gerät? In der Wendezeit hat er sich noch politisch abstinent verhalten. Seine Politik ist die Literatur, alles andere wäre Zeitverschwendung. Doch plötzlich gilt das nicht mehr. Er, der Zeitabgewandte, beginnt, sich einzumischen und mit Pegida zu sympathisieren.
Man darf Schulzes „Die rechtschaffenen Mörder“ jedoch nicht als schlichte Erklärung dieses spezifischen Dresdner Wutbürgertums lesen. Stattdessen dringt er zu der Erkenntnis vor, dass es „in unserer Welt schwer geworden ist, immer die Ursache für eine Wirkung zu finden.“ Einfache Antworten helfen schon gar nicht. Über die Wendezeit heißt es: „Alles war da wie eh und je, nur war es nicht mehr verwunschen, sondern erlöst.“ Von diesem Gefühl der Entzauberung der Welt ausgehend, gelingt es Schulze, die Sensibilität für die Verluste zu schärfen und zu begreifen, was die neue Zeit mit den Menschen anrichtet.
Es sind seit der Wende ja nicht nur romantische Illusionen auf der Strecke geblieben, sondern die Lebenssubstanz an Unmittelbarkeit und einer – wenn auch stasiüberwachten – Unantastbarkeit, die die Menschen als Freiheit erleben konnten, während die mediale Übermacht der Gegenwart ihnen als übergriffige Daueragitation erscheint. Freiheit ist nicht einfach nur eine Systemfrage, sondern ein Lebensgefühl, das sich auch innerhalb einer Diktatur im Abseits einigeln kann. Das lässt sich am Lebensweg von Ingo Schulzes Antiquar ablesen. Da geht es längst nicht mehr um den Osten, sondern um „die Bücher überhaupt, deren Wertschätzung und Unersetzlichkeit“. So werden aus den Dissidenten des Sozialismus die Dissidenten der Gegenwart, die das verteidigen, was sie liebten: ihre Nischenexistenz.
Soweit wäre der Roman aber immer noch eine zwar rechtschaffene und kluge, aber doch literarisch wenig aufregende Angelegenheit. Interessant wird das Buch erst im zweiten und im kurzen dritten Teil, wo die Erzählperspektive wechselt. Im zweiten Teil gibt sich der Ich-Erzähler zu erkennen und rekapituliert die Geschichte noch einmal aus seiner eigenen Perspektive. Das liest sich wie ein Kommentar zum ersten Teil, indem der fiktive Autor jetzt seine Absichten offenlegt. Dieser Schultze – mit tz – ist ein Schriftsteller aus der DDR, der nach der Wende einigermaßen erfolgreich wurde und schon lange die Biografie des Antiquars schreiben wollte. Dass er ein schlechterer Schriftsteller ist als Ingo Schulze, ist gewollt, bleibt aber doch ein Problem des Romans. Angetrieben wird er von einer Obsession: Er liebt die Frau, die die rechte Hand Paulinis im Antiquariat ist, und von der er fürchtet, sie sei auch dessen Geliebte. So hat er, während sie zwischen ihm in Berlin und Paulini in Sachsen hin- und herpendelt, keine ruhige Minute mehr. Das Schreiben ist seine Ausflucht, schreibend beruhigt er sich und macht sich die Welt so zurecht, dass sie erträglich bleibt.
Die Biografie des Antiquars – der Hauptteil des Romans – wird nun als Schultzes Werk deutlich und kippt damit aus dem Rahmen der Konventionalität, denn diesem Autor ist nicht zu trauen. Ingo Schulze liebt derlei literarische Spiele; schon in seinem großen Wenderoman „Neue Leben“ hat er mit einem fiktiven Herausgeber gearbeitet. Seinem Schultze gibt er dazu noch autobiografische Erfahrungen mit, wenn er ihn nach der Wende ein Anzeigenblatt in Altenburg gründen lässt. Auch davon handelte bereits „Neue Leben“. Es gibt also nicht nur den Autor, der über sein Schreiben und die Fragwürdigkeit biografischen Erzählens nachdenkt, nicht nur den Roman im Roman, sondern die literarischen Querverweise, bei denen man Ingo Schulze hinter diesem Schultze leise kichern hört.
Aus dem Bildungsroman wird damit ein Künstlerroman, in dem ein ostdeutscher Schriftsteller über die Bedingungen seines Schreibens und seinen Ort im kapitalistischen Literaturbetrieb nachdenkt. Ihm ist durchaus bewusst, dass er mit seinem Vorhaben, dem Dresdner Antiquar ein Denkmal zu setzen und sich der eigenen Ost-Herkunft zu vergewissern, gescheitert ist. Er erkennt, dass das, was er an Paulini einst bewundert hatte, seinen Helden „zum Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab prädestinierte“, ein Besser-Ossitum, das auch eine Erklärung für die dortige Weltwut wäre. Aber das gilt ebenso für Schultze selbst, wenn er beklagt, einer Hybris erlegen zu sein, einer „Selbstüberhebung und Anmaßung“, die darin besteht, das eigene Schreiben „für etwas einsetzen, für etwas benutzen zu können, auch wenn dieses etwas die Liebe war“.
Doch damit nicht genug. Im abschließenden dritten Teil, der von der Schultzes Manuskript betreuenden Verlagslektorin erzählt wird, verwandelt sich die Künstlergeschichte in einen Kriminalroman und erfährt eine weitere, überraschende Wendung. So macht die raffinierte Anlage aus einer konventionellen, biografischen Erzählung ein höchst verblüffendes Unternehmen, bei dem am Ende nichts mehr so ist, wie es anfangs scheint, wo jede Figur fragwürdig geworden ist und sich unter dem kunstvoll eingezogenen doppelten Boden noch ein Abgrund öffnet. Ingo Schulze macht auf diese Weise mehr aus seinen literarischen Möglichkeiten, als eine plane Erzählung ihm erlaubt hätte, mehr auch, als dieser Schultze alleine vermocht hätte. Es wäre ein Wunder, wenn aus diesem trickreichen Roman, gestützt auch durch die Nominierung für den Leipziger Buchpreis, nicht ein Bestseller werden würde.
Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 320 S., 21 Euro
Paulini hat seine Welt verloren,
muss man sich wundern,
dass er auf Abwege gerät?
Schulze macht mehr aus seinen
literarischen Möglichkeiten, als
es Schultze vermocht hätte
Der Dresdner
Stadtteil Blasewitz im Jahr 1980 (oben), im Hintergrund die auch „Blaues Wunder“
genannte Brücke.
Dort spielt der
neue Roman von Ingo Schulze.
Foto: Catherina Hess
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im Abseits
Eben doch kein
konventioneller Schlüsselroman:
Ingo Schulzes Roman
„Die rechtschaffenen Mörder“
über einen Dresdner Eigenbrötler
auf politischen Abwegen
VON JÖRG MAGENAU
Der erste Satz schafft die Atmosphäre und lässt noch alles offen. Er ist die Tür in eine unbekannte Welt. Bei Ingo Schulze klingt der erste Satz wie der einer Novelle von Heinrich von Kleist: „Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss.“
Ort und Zeit sind damit vorgegeben. „Einst“, das ist „Es war einmal“ und zugleich die DDR als Raum, in dem die Zeit stillstand. Blasewitz liegt an der Elbe, wo die blaue Brücke hinüberführt nach Loschwitz und von dort zum Weißen Hirsch, dem literarischen Terrain von Uwe Tellkamp. Es ist kein Zufall, dass Ingo Schulze seine Geschichte in dieser Nachbarschaft ansiedelt, spürt er doch der Frage nach, woher die Aggressionen, die Ängste und die Ausländerfeindlichkeit der Gegenwart stammen und wie es sein kann, dass gerade das ostdeutsche Bildungsbürgertum, wie Tellkamp es in seinem Roman „Der Turm“ geschildert hat, auf politische Abwege geraten ist und sich mit den Ressentiments der Pegida-Demonstranten vermählt. Schützt Bildung denn vor gar nichts?
Das Antiquariat als verwunschener Ort ist per se schon aus der Zeit gefallen, sodass man diesen Roman betritt wie die „Unendliche Geschichte“ von Michael Ende. Doch wenn dort der emphatische Leser ein Junge ist, der mit einem gestohlenen Buch ins Reich Phantásien aufbricht, so ist der Leser hier der Antiquar selbst, Norbert Paulini, ein Mann, der weder jung noch alt zu sein scheint und von dem sich niemand vorstellen kann, dass er jemals anders ausgesehen haben könnte als heute. Das Setting ist absolut bestsellerverdächtig. Man braucht für einen Bestseller einen verschrobenen, aus der Zeit gefallenen Helden mit Überraschungspotenzial und am besten einen Leser oder eine Leserin wie in „Sophies Welt“, in der „Unendlichen Geschichte“ oder in „Der Vorleser“. Lesende lesen gerne von Lesern und greifen vorzugsweise zu Büchern, in denen Bücher vorkommen. Davon gibt es in „Die rechtschaffenen Mörder“ mehr als genug.
Bestsellerverdächtig ist auch der behäbige, konventionelle Tonfall, den Ingo Schulze anschlägt und der auch vor Binsenweisheiten nicht zurückschreckt: „Nur der uneigennützige Leser, der sich einem Buch vorbehaltlos und ganz und gar zu öffnen vermag, kann es in seiner Differenziertheit und Komplexität erfassen.“ Brav und bieder entfaltet er die Lebensgeschichte seines Antiquars, oder vielmehr lässt er einen Ich-Erzähler, der sich immer mal wieder zwischen den Zeilen zu erkennen gibt, davon berichten, allerdings so, dass man sich fragen muss: Woher weiß dieser Biograf das alles, wenn er aus der Kindheit berichtet, von den Bücherbergen der Mutter, den Wanderungen mit dem Vater im Riesengebirge, Schul- und Armeezeit, und immer und überall von den Büchern. Seine Bestimmung und seinen Lebensort fand Norbert Paulini, als Kind eher Außenseiter und Eigenbrötler, schließlich in seinem Antiquariat, das, 1977 eröffnet, zu einem Zufluchtsort für dissidentische Geister wurde, die dort Werkausgaben von Benn, Jünger, Kafka oder Bloch finden konnten und sich regelmäßig zu einer Samstagsrunde trafen, an der auch der merkwürdig indifferente Ich-Erzähler teilgenommen hat.
Dieses intellektuelle Nischendasein geht im Herbst 1989 mit der Wende verloren. Mit dem Markt bricht auch die Zeit in dieses schöne, abseitige Utopia ein; Bücher sind auf einmal nichts mehr wert. Sie sind nicht einmal mehr Ramsch, sondern Müll, der bei Paulini ausgekippt wird, weil die Kartons kostbarer sind als ihr Inhalt. Die Kunden bleiben aus, das Antiquariat geht in Konkurs und Paulinis Ehe in die Brüche, als sich herausstellt, dass seine Frau der Stasi über die Samstagrunden Bericht erstattet hat. Ingo Schulze zeigt, dass sich der Umbruch mit seinen wirtschaftlichen Verwerfungen und politischen Erregungen tatsächlich als Büchergeschichte schreiben lässt. Aus dem Antiquar wird, nach einer Episode als Kassierer im Supermarkt, schließlich ein Nachtportier, weil das eine Tätigkeit ist, die zu lesen erlaubt.
Aber Paulini hat seine Welt verloren, seinen Ort, seine Mitte, sein Leben. Muss man sich also wundern, wenn er auf Abwege gerät? In der Wendezeit hat er sich noch politisch abstinent verhalten. Seine Politik ist die Literatur, alles andere wäre Zeitverschwendung. Doch plötzlich gilt das nicht mehr. Er, der Zeitabgewandte, beginnt, sich einzumischen und mit Pegida zu sympathisieren.
Man darf Schulzes „Die rechtschaffenen Mörder“ jedoch nicht als schlichte Erklärung dieses spezifischen Dresdner Wutbürgertums lesen. Stattdessen dringt er zu der Erkenntnis vor, dass es „in unserer Welt schwer geworden ist, immer die Ursache für eine Wirkung zu finden.“ Einfache Antworten helfen schon gar nicht. Über die Wendezeit heißt es: „Alles war da wie eh und je, nur war es nicht mehr verwunschen, sondern erlöst.“ Von diesem Gefühl der Entzauberung der Welt ausgehend, gelingt es Schulze, die Sensibilität für die Verluste zu schärfen und zu begreifen, was die neue Zeit mit den Menschen anrichtet.
Es sind seit der Wende ja nicht nur romantische Illusionen auf der Strecke geblieben, sondern die Lebenssubstanz an Unmittelbarkeit und einer – wenn auch stasiüberwachten – Unantastbarkeit, die die Menschen als Freiheit erleben konnten, während die mediale Übermacht der Gegenwart ihnen als übergriffige Daueragitation erscheint. Freiheit ist nicht einfach nur eine Systemfrage, sondern ein Lebensgefühl, das sich auch innerhalb einer Diktatur im Abseits einigeln kann. Das lässt sich am Lebensweg von Ingo Schulzes Antiquar ablesen. Da geht es längst nicht mehr um den Osten, sondern um „die Bücher überhaupt, deren Wertschätzung und Unersetzlichkeit“. So werden aus den Dissidenten des Sozialismus die Dissidenten der Gegenwart, die das verteidigen, was sie liebten: ihre Nischenexistenz.
Soweit wäre der Roman aber immer noch eine zwar rechtschaffene und kluge, aber doch literarisch wenig aufregende Angelegenheit. Interessant wird das Buch erst im zweiten und im kurzen dritten Teil, wo die Erzählperspektive wechselt. Im zweiten Teil gibt sich der Ich-Erzähler zu erkennen und rekapituliert die Geschichte noch einmal aus seiner eigenen Perspektive. Das liest sich wie ein Kommentar zum ersten Teil, indem der fiktive Autor jetzt seine Absichten offenlegt. Dieser Schultze – mit tz – ist ein Schriftsteller aus der DDR, der nach der Wende einigermaßen erfolgreich wurde und schon lange die Biografie des Antiquars schreiben wollte. Dass er ein schlechterer Schriftsteller ist als Ingo Schulze, ist gewollt, bleibt aber doch ein Problem des Romans. Angetrieben wird er von einer Obsession: Er liebt die Frau, die die rechte Hand Paulinis im Antiquariat ist, und von der er fürchtet, sie sei auch dessen Geliebte. So hat er, während sie zwischen ihm in Berlin und Paulini in Sachsen hin- und herpendelt, keine ruhige Minute mehr. Das Schreiben ist seine Ausflucht, schreibend beruhigt er sich und macht sich die Welt so zurecht, dass sie erträglich bleibt.
Die Biografie des Antiquars – der Hauptteil des Romans – wird nun als Schultzes Werk deutlich und kippt damit aus dem Rahmen der Konventionalität, denn diesem Autor ist nicht zu trauen. Ingo Schulze liebt derlei literarische Spiele; schon in seinem großen Wenderoman „Neue Leben“ hat er mit einem fiktiven Herausgeber gearbeitet. Seinem Schultze gibt er dazu noch autobiografische Erfahrungen mit, wenn er ihn nach der Wende ein Anzeigenblatt in Altenburg gründen lässt. Auch davon handelte bereits „Neue Leben“. Es gibt also nicht nur den Autor, der über sein Schreiben und die Fragwürdigkeit biografischen Erzählens nachdenkt, nicht nur den Roman im Roman, sondern die literarischen Querverweise, bei denen man Ingo Schulze hinter diesem Schultze leise kichern hört.
Aus dem Bildungsroman wird damit ein Künstlerroman, in dem ein ostdeutscher Schriftsteller über die Bedingungen seines Schreibens und seinen Ort im kapitalistischen Literaturbetrieb nachdenkt. Ihm ist durchaus bewusst, dass er mit seinem Vorhaben, dem Dresdner Antiquar ein Denkmal zu setzen und sich der eigenen Ost-Herkunft zu vergewissern, gescheitert ist. Er erkennt, dass das, was er an Paulini einst bewundert hatte, seinen Helden „zum Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab prädestinierte“, ein Besser-Ossitum, das auch eine Erklärung für die dortige Weltwut wäre. Aber das gilt ebenso für Schultze selbst, wenn er beklagt, einer Hybris erlegen zu sein, einer „Selbstüberhebung und Anmaßung“, die darin besteht, das eigene Schreiben „für etwas einsetzen, für etwas benutzen zu können, auch wenn dieses etwas die Liebe war“.
Doch damit nicht genug. Im abschließenden dritten Teil, der von der Schultzes Manuskript betreuenden Verlagslektorin erzählt wird, verwandelt sich die Künstlergeschichte in einen Kriminalroman und erfährt eine weitere, überraschende Wendung. So macht die raffinierte Anlage aus einer konventionellen, biografischen Erzählung ein höchst verblüffendes Unternehmen, bei dem am Ende nichts mehr so ist, wie es anfangs scheint, wo jede Figur fragwürdig geworden ist und sich unter dem kunstvoll eingezogenen doppelten Boden noch ein Abgrund öffnet. Ingo Schulze macht auf diese Weise mehr aus seinen literarischen Möglichkeiten, als eine plane Erzählung ihm erlaubt hätte, mehr auch, als dieser Schultze alleine vermocht hätte. Es wäre ein Wunder, wenn aus diesem trickreichen Roman, gestützt auch durch die Nominierung für den Leipziger Buchpreis, nicht ein Bestseller werden würde.
Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 320 S., 21 Euro
Paulini hat seine Welt verloren,
muss man sich wundern,
dass er auf Abwege gerät?
Schulze macht mehr aus seinen
literarischen Möglichkeiten, als
es Schultze vermocht hätte
Der Dresdner
Stadtteil Blasewitz im Jahr 1980 (oben), im Hintergrund die auch „Blaues Wunder“
genannte Brücke.
Dort spielt der
neue Roman von Ingo Schulze.
Foto: Catherina Hess
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Auf fulminante Weise erzählt Ingo Schulze von unserem Land in diesen Tagen und zieht uns den Boden der Gewissheiten unter den Füßen weg. Buch-Magazin, 10/2021