Was ist dran an der Skandalgeschichte des Christentums, deren üppige filmische Inszenierungen nur so von Sperma, Blut und Gift triefen? Was ist mit Kreuzzügen, Inquisition und Hexenverfolgung? Stand das Christentum bei der Durchsetzung der Menschenrechte auf der Bremse oder auf dem Gaspedal - oder auf beidem? Was ist mit Frauenemanzipation, sexueller Revolution und vor allem: Wie steht das Christentum wirklich zum Holocaust? Manfred Lütz erzählt die spannende Geschichte des Christentums, wie sie nach Erkenntnissen der neuesten Forschung wirklich war. Dabei geht es letztlich um eine entscheidende gesellschaftliche Frage: Taugt das Christentum noch als geistiges Fundament Europas? Der international renommierte Historiker Arnold Angenendt hatte schon 2007 ein gewaltiges Werk vorgelegt: »Toleranz und Gewalt - Das Christentum zwischen Bibel und Schwert«, das die Ergebnisse der internationalen Forschung zusammenfasst und seitdem ein Standardwerk ist für alle, die sich ernsthaft mitChristentum und Kirche auseinandersetzen wollen. Allerdings hat eine breitere Öffentlichkeit von den wirklich erstaunlichen Ergebnissen bisher kaum Notiz genommen. Zusammen mit Arnold Angenendt hat nun Manfred Lütz die zentralen Aussagen von "Toleranz und Gewalt" in einem fulminanten Buch aufgegriffen, das wie in einem Krimi die spannende Geschichte der größten Menschheitsreligion aller Zeiten erzählt. Damit auch wirklich alle so genannten Skandale der Christentumsgeschichte vorkommen, wurden einige Themen hinzugefügt, so dass man jetzt auf 286 Seiten den neusten Stand der Wissenschaft über alle kritischen Phasen der Geschichte des Christentums nachlesen kann. Führende Historiker haben das Buch korrekturgelesen, damit alles stimmt, aber auch sein Friseur, damit es locker bleibt. Es ist ein Buch geworden für Christen, die keine Angst vor der Wahrheit haben und für all die anderen, damit sie besser verstehen, woher sie kommen. So kann man erleben, wie eine kleine jüdische Sekte im römischen Reich zur Weltreligion wird, wie sie dann dieses Reich zu einem christlichen Reich macht und wie es am Ende dazu gekommen ist, dass aus den siegreichen Germanen christliche Germanen wurden. Man erfährt, was die Kreuzzüge wirklich waren, welche erstaunlichen Einsichten die neueste Forschung inzwischen über Inquisition, Hexenverfolgung und Indianermission erzielt hat und was wir der Aufklärung zu verdanken haben - und was nicht. Auch den neusten Stand der Wissenschaft zu den klassischen Themen Zölibat, Unfehlbarkeit des Papstes, Frauen und Kirche, Sexualmoral kann man hier nachlesen. Ohne dieses Wissen wird man die entscheidenden gesellschaftlichen Debatten der kommenden Jahre nicht seriös führen können. Schon jetzt reden viele vom "christlichen Menschenbild" oder vom "christlichen Abendland", ohne genau sagen zu können, was sie damit meinen. Und sogar die Christen selber schämen sich für ihre eigene Geschichte - ohne sie zu kennen. Für jeden, der die geistigen Wurzeln Europas verstehen will, ist dieses Buch ein einzigartiges, aber auch notweniges Bildungserlebnis, vor allem aber Aufklärung im besten Sinne. Machen Sie sich auf spektakuläre Überraschungen gefasst!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2018Schuld sind stets die anderen
Für Manfred Lütz ist die Skandalisierung von Christentum und Kirche selbst ein Skandal. Um das zu belegen, betreibt er mit geliehenen Belegen, Halbwahrheiten und Medienschelte eine peinliche Schönfärberei.
Endlich wird die reine geschichtliche Wahrheit offenbar. Manfred Lütz, Theologe, Psychiater und Autor einiger Bestseller, will "die geheime Geschichte des Christentums" erzählen und die vielen "Falschinformationen" aufdecken, die gerade das katholische Christentum zur "unbekanntesten Religion der westlichen Welt" gemacht hätten. Dabei geht es Lütz keineswegs nur um seine Kirche. Weil die "Totalsäkularisation" des zwanzigsten Jahrhunderts die Gesellschaft "in eine schwere Krise gestürzt" habe, soll die Aufklärung über die skandalöse Verfälschung der Christentumsgeschichte dazu dienen, dem Gemeinwesen "durch Neubesinnung auf die christlichen Wurzeln" wieder ein tragfähiges "geistiges Fundament" zu geben.
Lütz schreibt Geschichte in religionspolitischer Absicht. Die Widerlegung der antichristlichen Geschichtslügen, die schlecht informierte Journalisten verbreiteten, soll die Attraktivität der Kirche als Sinninstanz steigern. Im heroischen Kampf gegen die medialen "Diffamierungskampagnen" beruft Lütz sich auf "den heutigen Stand der historischen Wissenschaft", die "zum Teil erstaunliche Ergebnisse geliefert" habe. Und macht aus achthundert zweihundertachtzig Seiten: Seine Zitate entnimmt er nämlich weithin der materialreichen Monographie "Toleranz und Gewalt" (2007) von Arnold Angenendt, der bei Lütz als Mitarbeiter firmiert.
Er beginnt mit einer kritischen Absage an Jan Assmanns These vom engen Zusammenhang zwischen Monotheismus und Religionsgewalt. Erst der eine Gott für alle habe die Gleichheit aller Menschen zu denken erlaubt und es so ermöglicht, dass Mann und Frau sich in der "partnerschaftlichen Konsens-Ehe" als gleichrangig begegnen. Patriarchalismus sei dem Christentum wesensfremd. "Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde kamen erst durch den Monotheismus auf die Tagesordnung der Weltgeschichte." Allerdings sei dies nur im Christentum konsequent realisiert worden.
Anders als Judentum und Islam sei es "immer eine Friedensreligion" gewesen, die die Vorstellung des "Heiligen Krieges" nicht kenne. Selbst die Kreuzzüge hätten keineswegs der "Mission mit Feuer und Schwert" gedient. Lütz deutet sie als "bewaffnete Wallfahrten mit ursprünglich religiöser Motivation" und "Verteidigungskriege zum Schutz der Christen im Heiligen Land". Für die Pogrome mit dem Tod vieler Juden beim ersten Kreuzzug waren in seiner Sicht weder der Papst noch "die Hochkirche", sondern allein "der Pöbel" verantwortlich.
Lütz räumt ein, dass der Papst zum Zug ins Heilige Land aufgerufen habe. Aber nicht Kleriker, sondern die "vereinigten europäischen Mächte" seien dann nach Jerusalem aufgebrochen. Obendrein hätten sich die Kreuzfahrer nicht auf das Neue Testament berufen, sondern allein auf die beiden Makkabäerbücher. In diesem Geschichtsbild haben nun jüdische Texte eine Mitschuld an dem Blutbad, das christliche Krieger bei der Eroberung Jerusalems unter Juden und Muslimen anrichteten.
Lütz leugnet nicht, dass es in der Christentumsgeschichte immer wieder Gewalt, Krieg und Hass gab. Aber dafür macht er niemals die Kirche und ihre Theologen, sondern fortwährend andere Akteure verantwortlich, die "christliche Prinzipien" ignoriert hätten: den Pöbel, habgierige Ritter, den Kaiser, weltliche Herrscher. Die von Karl dem Großen betriebene "Zwangstaufe" der Sachsen war dann "ein brutaler politischer Gewaltakt", aber keine Tat "der Kirche".
Lütz sieht in der christlichen "Erlösungsreligion" eine ganz friedliche "Befreiungsreligion". Gewiss, der Papst habe im neunzehnten Jahrhundert die modernen Menschenrechte und die Demokratie zunächst abgelehnt. Aber mit der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen habe die Kirche die einzig tragfähige Begründung der wahren Freiheit des Menschen gelehrt. Zudem seien die Katholiken in den Kriegen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts "für nationalistische Töne wie immer weniger empfänglich" als die Protestanten gewesen, "da sie ein übernationales Selbstverständnis hatten".
Galt dies auch für irische und polnische Katholiken? Hat Lütz noch nie etwas vom kroatisch-katholischen Nationalismus gehört? Für kritische Einsicht hilfreich wäre auch die Lektüre von Predigten aus dem Ersten Weltkrieg.
Selbst beim schwierigen Thema des Verhältnisses von Juden und Christen will Lütz "die Kirche" vor Kritik schützen. Für die Pogrome im hohen Mittelalter hätten "Leute von geringerer Bildung und minderen Standes" die Verantwortung getragen, niemals aber Geistliche. "Immer wieder stemmten sich die Päpste gegen die Judenverfolgungen." Im Kirchenstaat seien "die Juden nie ernstlich belästigt" worden. Die von Gregor XIII. angeordneten "Judenpredigten", an denen alle Bewohner des römischen Gettos teilnehmen mussten, bagatellisiert Lütz zu "Pflichtübungen" ohne "Effekt".
Auch für die Ermordung konvertierter Juden in Spanien und die Vertreibung aller Juden aus dem Land seien "keine wirklich religiösen Motive, sondern die spanische Staatsräson" entscheidend gewesen. Doch wie kann die Staatsräson einer christlich legitimierten Monarchie ohne Bezug auf uralte christliche Symbole und deren kirchliche Auslegung gedacht werden?
Peinliche Schönfärberei prägt auch Lütz' Deutung der Christentümer des zwanzigsten Jahrhunderts. Die katholische Kirche sieht er als starke Kraft des Widerstandes gegen die totalitären Diktaturen. Zwar hätten die Päpste "einen vulgärtheologischen Antijudaismus" nicht zu verhindern vermocht. Dennoch gelte: "Dem Christentum, das ,zu allen Völkern' gesandt war und dessen erste Anhänger alle Juden gewesen waren, war jede Form des Rassismus fremd." "Massenhaft" hätten "Märtyrer" in Kommunismus und Nationalsozialismus Widerstand geleistet. Ernsthaft erklärt Lütz, dass "katholische Priester die am meisten verfolgte Berufsgruppe im Dritten Reich" gewesen seien. Die Vertreibung jüdischer Hochschullehrer oder die Entlassung sozialdemokratischer Beamter schon im März und April 1933 scheint ihm unbekannt zu sein.
Wirklich Überraschendes kann man lesen. Augustinus war demnach ein "leibfreundlicher Denker", und das Verbot der Geburtenregelung mit Hilfe der Pille diente primär der Stärkung der Frau gegen die sexuellen Machtansprüche der Männer. Dank ihrer "ganzheitlich-ökologischen Auffassung von Sexualität" ist "die Kirche" in Fragen der Sexualmoral eine eher liberale Organisation. Bigotte Verklemmtheit sei primär ein bürgerlich-protestantisches Phänomen. Gelebte Sexualität muss aber an die sakramentale Institution der Ehe gebunden bleiben. "Sexualität außerhalb der Ehe widerspricht aus katholischer ganzheitlich-ökologischer Sicht der Schöpfungsordnung, das betrifft alle heterosexuell Unverheirateten, alle standesamtlich Wiederverheirateten und gleichermaßen auch alle Homosexuellen." Andersdenkende werden pathologisiert. Der "Eifer mancher kirchenferner Zölibatskritiker" erinnert Lütz nur an einen "manischen Patienten" mit Wahnvorstellungen.
Entschiedene Kirchenkritik übt Lütz mit Blick auf Missbrauchsskandale. Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester sei ein "besonders perfides Verbrechen". Damit verbindet er harte Kritik an "einigen Amateuren" in "der Kirche", die einen Zusammenhang zwischen Missbrauch und "priesterlicher Lebensform" konstruierten. Leider produziere "die Kirche als Institution" nun "erstmals selber Opfer": "die unschuldig Beschuldigten". Ausdrücklich spricht Lütz von einer "zweiten Opfergruppe", die nicht nur von medialen "Kinderschänder-Jägern", sondern auch manchen Bischöfen verfolgt werde. Zugleich lobt er Papst Franziskus dafür, entschieden gegen Missbrauch vorzugehen. Nach dessen Chile-Reise hat diese Zeitung dazu anderes berichtet.
Mit viel Selbstsicherheit wiederholt Lütz immer wieder: "Die Skandalisierung der Geschichte von Christentum und Kirche ist ein Skandal." Dies mag man so sehen. Aber wem dient eine dürftige Apologetik, die mit ein paar Halbwahrheiten und billiger Medienschelte nur falsche Eindeutigkeit erzeugen will?
In seinem naiven Wissenschaftsglauben meint Lütz, dass "die moderne Geschichtswissenschaft" alte kritische Deutungen der Christentumsgeschichte "eindeutig" überwunden habe. Nein, sie betreibt im gelingenden Fall das Geschäft der analytischen Differenzierung. Lütz dankt nicht nur bedeutenden Historikern und Theologen für zustimmende Lektüren, sondern auch seinem Barbier - "wie üblich hat es mein Friseur kontrolliert, damit alles allgemeinverständlich, locker und lesbar bleibt." Für anspruchsvollere Leser ist das Buch gerade wegen dieser Simplizität ungenießbar. Gut nur, dass Lütz' Affirmationsgeschichte für das intellektuelle Niveau im deutschsprachigen Bildungskatholizismus nicht repräsentativ ist.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Manfred Lütz: "Der Skandal der Skandale". Die geheime Geschichte des Christentums. Unter Mitarbeit von Professor Dr. Arnold Angenendt.
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2018. 286 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Für Manfred Lütz ist die Skandalisierung von Christentum und Kirche selbst ein Skandal. Um das zu belegen, betreibt er mit geliehenen Belegen, Halbwahrheiten und Medienschelte eine peinliche Schönfärberei.
Endlich wird die reine geschichtliche Wahrheit offenbar. Manfred Lütz, Theologe, Psychiater und Autor einiger Bestseller, will "die geheime Geschichte des Christentums" erzählen und die vielen "Falschinformationen" aufdecken, die gerade das katholische Christentum zur "unbekanntesten Religion der westlichen Welt" gemacht hätten. Dabei geht es Lütz keineswegs nur um seine Kirche. Weil die "Totalsäkularisation" des zwanzigsten Jahrhunderts die Gesellschaft "in eine schwere Krise gestürzt" habe, soll die Aufklärung über die skandalöse Verfälschung der Christentumsgeschichte dazu dienen, dem Gemeinwesen "durch Neubesinnung auf die christlichen Wurzeln" wieder ein tragfähiges "geistiges Fundament" zu geben.
Lütz schreibt Geschichte in religionspolitischer Absicht. Die Widerlegung der antichristlichen Geschichtslügen, die schlecht informierte Journalisten verbreiteten, soll die Attraktivität der Kirche als Sinninstanz steigern. Im heroischen Kampf gegen die medialen "Diffamierungskampagnen" beruft Lütz sich auf "den heutigen Stand der historischen Wissenschaft", die "zum Teil erstaunliche Ergebnisse geliefert" habe. Und macht aus achthundert zweihundertachtzig Seiten: Seine Zitate entnimmt er nämlich weithin der materialreichen Monographie "Toleranz und Gewalt" (2007) von Arnold Angenendt, der bei Lütz als Mitarbeiter firmiert.
Er beginnt mit einer kritischen Absage an Jan Assmanns These vom engen Zusammenhang zwischen Monotheismus und Religionsgewalt. Erst der eine Gott für alle habe die Gleichheit aller Menschen zu denken erlaubt und es so ermöglicht, dass Mann und Frau sich in der "partnerschaftlichen Konsens-Ehe" als gleichrangig begegnen. Patriarchalismus sei dem Christentum wesensfremd. "Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde kamen erst durch den Monotheismus auf die Tagesordnung der Weltgeschichte." Allerdings sei dies nur im Christentum konsequent realisiert worden.
Anders als Judentum und Islam sei es "immer eine Friedensreligion" gewesen, die die Vorstellung des "Heiligen Krieges" nicht kenne. Selbst die Kreuzzüge hätten keineswegs der "Mission mit Feuer und Schwert" gedient. Lütz deutet sie als "bewaffnete Wallfahrten mit ursprünglich religiöser Motivation" und "Verteidigungskriege zum Schutz der Christen im Heiligen Land". Für die Pogrome mit dem Tod vieler Juden beim ersten Kreuzzug waren in seiner Sicht weder der Papst noch "die Hochkirche", sondern allein "der Pöbel" verantwortlich.
Lütz räumt ein, dass der Papst zum Zug ins Heilige Land aufgerufen habe. Aber nicht Kleriker, sondern die "vereinigten europäischen Mächte" seien dann nach Jerusalem aufgebrochen. Obendrein hätten sich die Kreuzfahrer nicht auf das Neue Testament berufen, sondern allein auf die beiden Makkabäerbücher. In diesem Geschichtsbild haben nun jüdische Texte eine Mitschuld an dem Blutbad, das christliche Krieger bei der Eroberung Jerusalems unter Juden und Muslimen anrichteten.
Lütz leugnet nicht, dass es in der Christentumsgeschichte immer wieder Gewalt, Krieg und Hass gab. Aber dafür macht er niemals die Kirche und ihre Theologen, sondern fortwährend andere Akteure verantwortlich, die "christliche Prinzipien" ignoriert hätten: den Pöbel, habgierige Ritter, den Kaiser, weltliche Herrscher. Die von Karl dem Großen betriebene "Zwangstaufe" der Sachsen war dann "ein brutaler politischer Gewaltakt", aber keine Tat "der Kirche".
Lütz sieht in der christlichen "Erlösungsreligion" eine ganz friedliche "Befreiungsreligion". Gewiss, der Papst habe im neunzehnten Jahrhundert die modernen Menschenrechte und die Demokratie zunächst abgelehnt. Aber mit der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen habe die Kirche die einzig tragfähige Begründung der wahren Freiheit des Menschen gelehrt. Zudem seien die Katholiken in den Kriegen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts "für nationalistische Töne wie immer weniger empfänglich" als die Protestanten gewesen, "da sie ein übernationales Selbstverständnis hatten".
Galt dies auch für irische und polnische Katholiken? Hat Lütz noch nie etwas vom kroatisch-katholischen Nationalismus gehört? Für kritische Einsicht hilfreich wäre auch die Lektüre von Predigten aus dem Ersten Weltkrieg.
Selbst beim schwierigen Thema des Verhältnisses von Juden und Christen will Lütz "die Kirche" vor Kritik schützen. Für die Pogrome im hohen Mittelalter hätten "Leute von geringerer Bildung und minderen Standes" die Verantwortung getragen, niemals aber Geistliche. "Immer wieder stemmten sich die Päpste gegen die Judenverfolgungen." Im Kirchenstaat seien "die Juden nie ernstlich belästigt" worden. Die von Gregor XIII. angeordneten "Judenpredigten", an denen alle Bewohner des römischen Gettos teilnehmen mussten, bagatellisiert Lütz zu "Pflichtübungen" ohne "Effekt".
Auch für die Ermordung konvertierter Juden in Spanien und die Vertreibung aller Juden aus dem Land seien "keine wirklich religiösen Motive, sondern die spanische Staatsräson" entscheidend gewesen. Doch wie kann die Staatsräson einer christlich legitimierten Monarchie ohne Bezug auf uralte christliche Symbole und deren kirchliche Auslegung gedacht werden?
Peinliche Schönfärberei prägt auch Lütz' Deutung der Christentümer des zwanzigsten Jahrhunderts. Die katholische Kirche sieht er als starke Kraft des Widerstandes gegen die totalitären Diktaturen. Zwar hätten die Päpste "einen vulgärtheologischen Antijudaismus" nicht zu verhindern vermocht. Dennoch gelte: "Dem Christentum, das ,zu allen Völkern' gesandt war und dessen erste Anhänger alle Juden gewesen waren, war jede Form des Rassismus fremd." "Massenhaft" hätten "Märtyrer" in Kommunismus und Nationalsozialismus Widerstand geleistet. Ernsthaft erklärt Lütz, dass "katholische Priester die am meisten verfolgte Berufsgruppe im Dritten Reich" gewesen seien. Die Vertreibung jüdischer Hochschullehrer oder die Entlassung sozialdemokratischer Beamter schon im März und April 1933 scheint ihm unbekannt zu sein.
Wirklich Überraschendes kann man lesen. Augustinus war demnach ein "leibfreundlicher Denker", und das Verbot der Geburtenregelung mit Hilfe der Pille diente primär der Stärkung der Frau gegen die sexuellen Machtansprüche der Männer. Dank ihrer "ganzheitlich-ökologischen Auffassung von Sexualität" ist "die Kirche" in Fragen der Sexualmoral eine eher liberale Organisation. Bigotte Verklemmtheit sei primär ein bürgerlich-protestantisches Phänomen. Gelebte Sexualität muss aber an die sakramentale Institution der Ehe gebunden bleiben. "Sexualität außerhalb der Ehe widerspricht aus katholischer ganzheitlich-ökologischer Sicht der Schöpfungsordnung, das betrifft alle heterosexuell Unverheirateten, alle standesamtlich Wiederverheirateten und gleichermaßen auch alle Homosexuellen." Andersdenkende werden pathologisiert. Der "Eifer mancher kirchenferner Zölibatskritiker" erinnert Lütz nur an einen "manischen Patienten" mit Wahnvorstellungen.
Entschiedene Kirchenkritik übt Lütz mit Blick auf Missbrauchsskandale. Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester sei ein "besonders perfides Verbrechen". Damit verbindet er harte Kritik an "einigen Amateuren" in "der Kirche", die einen Zusammenhang zwischen Missbrauch und "priesterlicher Lebensform" konstruierten. Leider produziere "die Kirche als Institution" nun "erstmals selber Opfer": "die unschuldig Beschuldigten". Ausdrücklich spricht Lütz von einer "zweiten Opfergruppe", die nicht nur von medialen "Kinderschänder-Jägern", sondern auch manchen Bischöfen verfolgt werde. Zugleich lobt er Papst Franziskus dafür, entschieden gegen Missbrauch vorzugehen. Nach dessen Chile-Reise hat diese Zeitung dazu anderes berichtet.
Mit viel Selbstsicherheit wiederholt Lütz immer wieder: "Die Skandalisierung der Geschichte von Christentum und Kirche ist ein Skandal." Dies mag man so sehen. Aber wem dient eine dürftige Apologetik, die mit ein paar Halbwahrheiten und billiger Medienschelte nur falsche Eindeutigkeit erzeugen will?
In seinem naiven Wissenschaftsglauben meint Lütz, dass "die moderne Geschichtswissenschaft" alte kritische Deutungen der Christentumsgeschichte "eindeutig" überwunden habe. Nein, sie betreibt im gelingenden Fall das Geschäft der analytischen Differenzierung. Lütz dankt nicht nur bedeutenden Historikern und Theologen für zustimmende Lektüren, sondern auch seinem Barbier - "wie üblich hat es mein Friseur kontrolliert, damit alles allgemeinverständlich, locker und lesbar bleibt." Für anspruchsvollere Leser ist das Buch gerade wegen dieser Simplizität ungenießbar. Gut nur, dass Lütz' Affirmationsgeschichte für das intellektuelle Niveau im deutschsprachigen Bildungskatholizismus nicht repräsentativ ist.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Manfred Lütz: "Der Skandal der Skandale". Die geheime Geschichte des Christentums. Unter Mitarbeit von Professor Dr. Arnold Angenendt.
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2018. 286 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main