»Eine Pause im Irrsinn.
Noch eine Anstrengung, das Aussterben zu verhindern,
in einer seltsamen Entschlossenheit vereint.
Es ist der letzte Versuch.«
Sibylle Bergs neuer Roman setzt da an, wo »GRM« endet - in unserer neoliberalen Absurdität, in der der Einzelne machtlos scheint. Der Kapitalismus ist alternativlos geworden. Das beste aller Systeme hat wenigen zu absurdem Reichtum verholfen und sehr vielen ein menschenwürdiges Dasein genommen. Die Krise ist der Normalzustand, Ausbeutung heißt nicht mehr »Kolonialismus« sondern »Förderung strukturschwacher Länder«. Inflation, Seuchen, Kriege, Diktatoren, Naturkatastrophen, Müllberge. Und die Menschheit vereint nur noch in ihrer Todessehnsucht. Die Lage scheint ausweglos. Aber in einem abhörsicheren Container brennt noch Licht. Fünf Hacker programmieren die Weltrettung.
Manchmal gibt es diese historischen Momente, in denen Mauern eingerissen werden, Frauen studieren und wählen dürfen, Rassismus nur noch in einigen Köpfen existiert, Geschlechter keine Rolle mehr spielen, in denen verschwindet, was Menschen für hundert Jahre für ein Naturgesetz hielten.
Noch eine Anstrengung, das Aussterben zu verhindern,
in einer seltsamen Entschlossenheit vereint.
Es ist der letzte Versuch.«
Sibylle Bergs neuer Roman setzt da an, wo »GRM« endet - in unserer neoliberalen Absurdität, in der der Einzelne machtlos scheint. Der Kapitalismus ist alternativlos geworden. Das beste aller Systeme hat wenigen zu absurdem Reichtum verholfen und sehr vielen ein menschenwürdiges Dasein genommen. Die Krise ist der Normalzustand, Ausbeutung heißt nicht mehr »Kolonialismus« sondern »Förderung strukturschwacher Länder«. Inflation, Seuchen, Kriege, Diktatoren, Naturkatastrophen, Müllberge. Und die Menschheit vereint nur noch in ihrer Todessehnsucht. Die Lage scheint ausweglos. Aber in einem abhörsicheren Container brennt noch Licht. Fünf Hacker programmieren die Weltrettung.
Manchmal gibt es diese historischen Momente, in denen Mauern eingerissen werden, Frauen studieren und wählen dürfen, Rassismus nur noch in einigen Köpfen existiert, Geschlechter keine Rolle mehr spielen, in denen verschwindet, was Menschen für hundert Jahre für ein Naturgesetz hielten.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Teutsch ist ordentlich desillusioniert und ermattet nach dem Lesen von Sibylle Bergs neuem Roman. Da fährt Berg jede Menge Personal und Rechercheergebnisse auf, um ein Menetekel nach dem anderen loszulassen betreffs unsere degenerierte, durchkapitalisierte Gesellschaft, aber am Ende hat Teutsch (aus Selbstschutz?) schon gleich fast alles wieder vergessen. So hässlich Berg den Verlust einer freien Kunst und Kultur und die neue Arbeitswelt aus Tagelöhnern zeichnet, so sehr empfindet Teutsch den Overkill des Schlimmen, und die Kassandra-Erzählerin trifft bald auf müde Ohren. Teutsch mag lieber Joseph Vogl lesen, da wird das "Gespenst des Kapitals" fundierter dargestellt, findet sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2022Wir sind Berg
Literatur, die alles assimiliert: Sibylle Berg entwirft in ihrem Roman "RCE", dem zweiten einer Trilogie, unsere zukünftige Gegenwart.
Es liegt einiges im Argen in Sibylle Bergs neuem Roman über unsere zukünftige Gegenwart, nämlich der gesellschaftliche Zusammenhalt, die hässliche neue Remote-Arbeitswelt, der Mietspiegel, die Pressefreiheit, das Gesundheitssystem, unser Paarungsverhalten, unsere Meinungsbildung. Und weil man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, den Niedergang zu beschreiben, wäre ein Anfang damit gemacht, den Niedergang der Kunst zu beschreiben - er steht exemplarisch für das Niedergehen im Zeichen einer neuen Ordnung der Schlinge.
Die durchkapitalisierten Verhältnisse, die keine Lücke im System mehr dulden, schnüren dem freiheitsliebenden Individuum die Luft ab: "Kultur war etwas für die Generation Ü75 mit Schlagerevents, Ballermann und Opernarien. Dachten sich die jungen Menschen. Alte Menschen mochte keiner. Sie hatten den Planeten ruiniert und leisteten nichts - außer Oma." Dazu passt natürlich, dass auch niemand mehr Kultur mag in Bergs Gegenwartsbeschreibung. Kaum jemand wusste noch, "was das gewesen war, die Sachen, die in Theatern und Klubs und Kellerlokalen, in Bibliotheken, Buchhandlungen, Programmkinos, kleinen Galerien und illegalen Pop-up-Bars stattgefunden hatten". Denn "der Markt hatte gesprochen, er hatte gesagt: 'Kunst ist Erfolg, Erfolg gibt allem, was überlebt, recht, und sieh nur, was für eine tolle Plattform wir hier für dich gebaut haben. Du kannst was nachsingen oder was mit Titten machen. Oder Games oder Reise-Influencing. Stelle deine Kunst hier rein, wir sorgen für Minimalzahlungen und wenn du zu radikal wirst, ist dein Profil verschwunden.'"
Das ist alles wahr. Und gleichzeitig hysterisch. Denn Sibylle Berg darf ihren radikal gesellschaftskritischen Roman ja glücklicherweise noch in die Waagschale des guten alten Feuilletons legen. Und dort kann man dann erfahren, ob es sich lohnt, den zweiten Teil ihrer Abrechnung mit der Tech-Welt zu lesen. Und wenn ja, warum.
Berg, die seit Jahrzehnten ein umtriebiges Künstlerinnenleben als Romanautorin, Kolumnistin und Theaterperformerin führt, hat sich mit beispielloser Disziplin in die Welt des Datenkapitalismus hineinrecherchiert. Im Nachwort dankt sie mehr als hundert Gesprächspartnern aus dem weiten Feld zwischen Wissenschaft und Nerdszene. Alle zu nennen hätte das Buch auf doppelte Dicke anschwellen lassen, schreibt Berg. Und das will man nach der Lektüre nicht unbedingt erleben.
Berg entwirft in "RCE - #RemoteCodeExecution" eine düstere Welt, in der alles, was heute von den großen Tech-Konzernen schon angestoßen ist, in die Phase der systemischen Selbstvernichtung eingetreten ist. Die analoge Welt mit ihren realen Bezugssystemen namens Gesellschaft, Biographie, Gelddeckung, generell eines Signifikats ist passé. Die Menschheit ist zur Geisel ihrer Datenausscheidung geworden - und zur Sklavin ihres ökonomischen Potentials. Denn nur dieses erlaubt gesellschaftliche Teilhabe.
Die Welt, in der sich all das abspielt, ist nicht mehr auf einem Mittelschichtssockel gebaut. Nein, in der Welt, die Berg beschreibt, vegetiert eine breite Schicht von adipösen Tagelöhnern am Boden der Arbeitswelt. Nur die winzige Kaste von größenwahnsinnigen Milliardären, die sich auf schwimmende Inseln zurückzieht, bildet die Spitze - und zwar in ausnahmslos allen Bereichen. Der Millionär ist in dieser Welt ebenso ausgestorben wie der Sozialstaat und die Kunst. Oder wie das Bartleby'sche Prinzip des "Ich möchte lieber nicht", das zu einer freiheitlichen Ordnung ebenso gehört wie die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg. Die westlichen Kleinbürgerkörper sind "verformt und kurz vor dem Zusammenbruch"; nur wenige haben die Voraussetzung, zum "beschäftigten Konsumkörper" zu werden.
Das alles zu beschreiben erfordert nicht viel visionäres Vorgehen, dafür die Bereitschaft, sich mit Blockchain-Technologie, mit Credit Score, mit Geofencing, mit Cryptomining oder mit Amper Software zur Erstellung userkompatibler synthetischer Musik zu beschäftigen - Begriffe, die im Glossar nochmals leserfreundlicher erklärt sind.
Das macht die Lektüre aber nicht unbedingt angenehmer. Denn im Staate Berg ist alles schlimm. Dass eine kleine Gruppe von Hackern teilweise schon im ersten Band der Trilogie ("GRM - Brainfuck" aus dem Jahr 2019) begonnen hat, den ultimativen Schlussstrich zu ziehen, ändert wenig daran: Dieses Buch liest sich wie eine zum Troll gewordene Kolumne. Seine kassandrahafte Erzählerinnenstimme nutzt sich ab: "Es war die Zeit nach dem Kapitalismus. Der Glaube an Zukunft, Fortschritt, Wohlstand, Urlaubsreisen, die runde Welt, das friedliche Ende, die glückliche Familie, hatte die Menschen zusammengehalten, lange Zeit. Doch nun - glaubte keiner mehr irgendwas. Die unfassbare Menge an realen und gefälschten Informationen, an Schwachsinn, Brutalität, und die Geschwindigkeit, mit der die alten Gesellschaftsordnungen verschwanden und durch irgendwas ausgetauscht wurden, versetzten die Bevölkerungen und ihre Organe in permanente Erregung. Der Darm. Ein großes Thema."
Die Arbeitshypothese ist klar: Längst leben Bewohner und Bewohnerinnen der Berg-Welt, die den Wohnort der Autorin - nämlich die finanzadelige Schweiz - ordentlich abwatscht, nicht mehr in einer Demokratie, sondern in einer Technokratie. Längst ist der Plattformkapitalismus, wie wir ihn heute niedlicherweise noch nennen, kein Wirtschaftssystem mehr, sondern eine Episteme, die sich alles auch außerhalb der Sphäre des Ökonomischen einverleibt. Das Politische, das Soziale, das Ästhetische, einfach alles.
Wer mehr über die Dynamiken einer im Rahmen der Wirtschaftsgeschichte immer selbstreferenzieller werdenden Globalökonomie erfahren möchte, ist mit Joseph Vogls Essay "Das Gespenst des Kapitals" aus dem Jahr 2010 besser, weil viel fundierter bedient. Seine Geschichte eines von lebensweltlichen Referenzen zunehmend unabhängigen Primats des Ökonomischen liest sich dabei wie ein Krimi der Wissensgeschichte.
Die Hacker in Sibylle Bergs Roman wissen immerhin dies: dass nur ein Angriff auf das System, vom dem heute jeder und alles abhängt, den neuen Finanzfeudalismus zum Einsturz bringen kann. Bis es allerdings zur großen Aktion kommt, vergehen bei Sibylle Berg fast siebenhundert Seiten, auf denen gleichtönig gemenetekelt wird. Über die Auswirkungen des großen "Ereignisses" dürfen wir dann erst im geplanten dritten Teil der Trilogie lesen. Bleibt unter dem Strich der literarische Mittelbau einer geistreichen, aber ästhetisch ziemlich flachen Systembegehung. Als Transmitter des dort gesammelten Wissens werden unüberschaubare Mengen an Personal bereitgestellt, das man leider gleich wieder vergisst: eine Poetik mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, die man gutmeinend auch als Poetik des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms interpretieren könnte.
Am Ende des Buchs ist man erschöpft und desillusioniert, bekommt aber auch einen Tropfen Hoffnung verabreicht, denn bald schon - so viel Spoiler darf wohl sein - wird es "das Finanzsystem" nicht mehr geben. Remote Code Execution! KATHARINA TEUTSCH
Sibylle Berg: "RCE - #RemoteCode Execution". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 704 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Literatur, die alles assimiliert: Sibylle Berg entwirft in ihrem Roman "RCE", dem zweiten einer Trilogie, unsere zukünftige Gegenwart.
Es liegt einiges im Argen in Sibylle Bergs neuem Roman über unsere zukünftige Gegenwart, nämlich der gesellschaftliche Zusammenhalt, die hässliche neue Remote-Arbeitswelt, der Mietspiegel, die Pressefreiheit, das Gesundheitssystem, unser Paarungsverhalten, unsere Meinungsbildung. Und weil man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, den Niedergang zu beschreiben, wäre ein Anfang damit gemacht, den Niedergang der Kunst zu beschreiben - er steht exemplarisch für das Niedergehen im Zeichen einer neuen Ordnung der Schlinge.
Die durchkapitalisierten Verhältnisse, die keine Lücke im System mehr dulden, schnüren dem freiheitsliebenden Individuum die Luft ab: "Kultur war etwas für die Generation Ü75 mit Schlagerevents, Ballermann und Opernarien. Dachten sich die jungen Menschen. Alte Menschen mochte keiner. Sie hatten den Planeten ruiniert und leisteten nichts - außer Oma." Dazu passt natürlich, dass auch niemand mehr Kultur mag in Bergs Gegenwartsbeschreibung. Kaum jemand wusste noch, "was das gewesen war, die Sachen, die in Theatern und Klubs und Kellerlokalen, in Bibliotheken, Buchhandlungen, Programmkinos, kleinen Galerien und illegalen Pop-up-Bars stattgefunden hatten". Denn "der Markt hatte gesprochen, er hatte gesagt: 'Kunst ist Erfolg, Erfolg gibt allem, was überlebt, recht, und sieh nur, was für eine tolle Plattform wir hier für dich gebaut haben. Du kannst was nachsingen oder was mit Titten machen. Oder Games oder Reise-Influencing. Stelle deine Kunst hier rein, wir sorgen für Minimalzahlungen und wenn du zu radikal wirst, ist dein Profil verschwunden.'"
Das ist alles wahr. Und gleichzeitig hysterisch. Denn Sibylle Berg darf ihren radikal gesellschaftskritischen Roman ja glücklicherweise noch in die Waagschale des guten alten Feuilletons legen. Und dort kann man dann erfahren, ob es sich lohnt, den zweiten Teil ihrer Abrechnung mit der Tech-Welt zu lesen. Und wenn ja, warum.
Berg, die seit Jahrzehnten ein umtriebiges Künstlerinnenleben als Romanautorin, Kolumnistin und Theaterperformerin führt, hat sich mit beispielloser Disziplin in die Welt des Datenkapitalismus hineinrecherchiert. Im Nachwort dankt sie mehr als hundert Gesprächspartnern aus dem weiten Feld zwischen Wissenschaft und Nerdszene. Alle zu nennen hätte das Buch auf doppelte Dicke anschwellen lassen, schreibt Berg. Und das will man nach der Lektüre nicht unbedingt erleben.
Berg entwirft in "RCE - #RemoteCodeExecution" eine düstere Welt, in der alles, was heute von den großen Tech-Konzernen schon angestoßen ist, in die Phase der systemischen Selbstvernichtung eingetreten ist. Die analoge Welt mit ihren realen Bezugssystemen namens Gesellschaft, Biographie, Gelddeckung, generell eines Signifikats ist passé. Die Menschheit ist zur Geisel ihrer Datenausscheidung geworden - und zur Sklavin ihres ökonomischen Potentials. Denn nur dieses erlaubt gesellschaftliche Teilhabe.
Die Welt, in der sich all das abspielt, ist nicht mehr auf einem Mittelschichtssockel gebaut. Nein, in der Welt, die Berg beschreibt, vegetiert eine breite Schicht von adipösen Tagelöhnern am Boden der Arbeitswelt. Nur die winzige Kaste von größenwahnsinnigen Milliardären, die sich auf schwimmende Inseln zurückzieht, bildet die Spitze - und zwar in ausnahmslos allen Bereichen. Der Millionär ist in dieser Welt ebenso ausgestorben wie der Sozialstaat und die Kunst. Oder wie das Bartleby'sche Prinzip des "Ich möchte lieber nicht", das zu einer freiheitlichen Ordnung ebenso gehört wie die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg. Die westlichen Kleinbürgerkörper sind "verformt und kurz vor dem Zusammenbruch"; nur wenige haben die Voraussetzung, zum "beschäftigten Konsumkörper" zu werden.
Das alles zu beschreiben erfordert nicht viel visionäres Vorgehen, dafür die Bereitschaft, sich mit Blockchain-Technologie, mit Credit Score, mit Geofencing, mit Cryptomining oder mit Amper Software zur Erstellung userkompatibler synthetischer Musik zu beschäftigen - Begriffe, die im Glossar nochmals leserfreundlicher erklärt sind.
Das macht die Lektüre aber nicht unbedingt angenehmer. Denn im Staate Berg ist alles schlimm. Dass eine kleine Gruppe von Hackern teilweise schon im ersten Band der Trilogie ("GRM - Brainfuck" aus dem Jahr 2019) begonnen hat, den ultimativen Schlussstrich zu ziehen, ändert wenig daran: Dieses Buch liest sich wie eine zum Troll gewordene Kolumne. Seine kassandrahafte Erzählerinnenstimme nutzt sich ab: "Es war die Zeit nach dem Kapitalismus. Der Glaube an Zukunft, Fortschritt, Wohlstand, Urlaubsreisen, die runde Welt, das friedliche Ende, die glückliche Familie, hatte die Menschen zusammengehalten, lange Zeit. Doch nun - glaubte keiner mehr irgendwas. Die unfassbare Menge an realen und gefälschten Informationen, an Schwachsinn, Brutalität, und die Geschwindigkeit, mit der die alten Gesellschaftsordnungen verschwanden und durch irgendwas ausgetauscht wurden, versetzten die Bevölkerungen und ihre Organe in permanente Erregung. Der Darm. Ein großes Thema."
Die Arbeitshypothese ist klar: Längst leben Bewohner und Bewohnerinnen der Berg-Welt, die den Wohnort der Autorin - nämlich die finanzadelige Schweiz - ordentlich abwatscht, nicht mehr in einer Demokratie, sondern in einer Technokratie. Längst ist der Plattformkapitalismus, wie wir ihn heute niedlicherweise noch nennen, kein Wirtschaftssystem mehr, sondern eine Episteme, die sich alles auch außerhalb der Sphäre des Ökonomischen einverleibt. Das Politische, das Soziale, das Ästhetische, einfach alles.
Wer mehr über die Dynamiken einer im Rahmen der Wirtschaftsgeschichte immer selbstreferenzieller werdenden Globalökonomie erfahren möchte, ist mit Joseph Vogls Essay "Das Gespenst des Kapitals" aus dem Jahr 2010 besser, weil viel fundierter bedient. Seine Geschichte eines von lebensweltlichen Referenzen zunehmend unabhängigen Primats des Ökonomischen liest sich dabei wie ein Krimi der Wissensgeschichte.
Die Hacker in Sibylle Bergs Roman wissen immerhin dies: dass nur ein Angriff auf das System, vom dem heute jeder und alles abhängt, den neuen Finanzfeudalismus zum Einsturz bringen kann. Bis es allerdings zur großen Aktion kommt, vergehen bei Sibylle Berg fast siebenhundert Seiten, auf denen gleichtönig gemenetekelt wird. Über die Auswirkungen des großen "Ereignisses" dürfen wir dann erst im geplanten dritten Teil der Trilogie lesen. Bleibt unter dem Strich der literarische Mittelbau einer geistreichen, aber ästhetisch ziemlich flachen Systembegehung. Als Transmitter des dort gesammelten Wissens werden unüberschaubare Mengen an Personal bereitgestellt, das man leider gleich wieder vergisst: eine Poetik mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, die man gutmeinend auch als Poetik des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms interpretieren könnte.
Am Ende des Buchs ist man erschöpft und desillusioniert, bekommt aber auch einen Tropfen Hoffnung verabreicht, denn bald schon - so viel Spoiler darf wohl sein - wird es "das Finanzsystem" nicht mehr geben. Remote Code Execution! KATHARINA TEUTSCH
Sibylle Berg: "RCE - #RemoteCode Execution". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 704 S., geb., 26,- Euro.
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»Mit Wucht, schonungsloser Anklage und zornigen Anschlägen auf einer glühenden Tastatur legt Berg ein Gesellschaftspanorama vor, das weder an Groteske noch an Schauerlichkeit zu überbieten ist.« Björn Hayer neues deutschland 20220721
Rezensentin Katharina Teutsch ist ordentlich desillusioniert und ermattet nach dem Lesen von Sibylle Bergs neuem Roman. Da fährt Berg jede Menge Personal und Rechercheergebnisse auf, um ein Menetekel nach dem anderen loszulassen betreffs unsere degenerierte, durchkapitalisierte Gesellschaft, aber am Ende hat Teutsch (aus Selbstschutz?) schon gleich fast alles wieder vergessen. So hässlich Berg den Verlust einer freien Kunst und Kultur und die neue Arbeitswelt aus Tagelöhnern zeichnet, so sehr empfindet Teutsch den Overkill des Schlimmen, und die Kassandra-Erzählerin trifft bald auf müde Ohren. Teutsch mag lieber Joseph Vogl lesen, da wird das "Gespenst des Kapitals" fundierter dargestellt, findet sie.
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»Torben Kessler und Lisa Hrdina sprechen abwechselnd herrlich trocken die beißende Satire über einen entfesselten Kapitalismus, der schon fast nicht mehr Science-Fiction ist.« Helmut Schneider VORMagazin 20220901