In dem Bestseller aus Italien porträtiert Paolo Giordano vier junge Leute auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Teresa kommt jede Sommerferien zu ihrer Großmutter nach Apulien. Eines Nachts beobachtet sie, wie drei Jungs, fast noch Kinder, heimlich in das Schwimmbad eindringen. Sie sind frei, voller Leidenschaft. Die nächsten zwanzig Jahre werden sie gemeinsam verbringen, einen Hof führen, dem Rhythmus der Natur angepasst, säen, ernten, zerstören, auf der fiebrigen Suche nach dem Feuer, das sie am Leben hält. Mit einer enormen Beobachtungsgabe schreibt Paolo Giordano über Beziehungen, über Menschen, die ihre Ideale leben. In ihrer Sehnsucht nach einer alternativen Welt sind sie zu allem bereit. Sie kennen keine Grenzen, sie wollen den Himmel stürmen.
buecher-magazin.deFür sein umwerfendes Debüt "Die Einsamkeit der Primzahlen" wurde Paolo Giordano, geb. 1982 in Turin, 2008 der renommierte "Premio Strega" in seiner Heimat Italien verliehen. Sein vierter Roman erzählt mit großer erzählerischer Wucht und emotionaler Kraft die Geschichte einer Gruppe junger Männer, die auf dem Hof von Cesare leben und dort von ihm Privatunterricht erhalten. In den Sommerferien stößt Teresa dazu. Bern wird ihre erste große Liebe, doch als sie im Jahr darauf wieder aus Turin zurückkommt, ist er nicht mehr da. Es muss ein Ereignis gegeben haben, das die drei jungen Männer völlig verändert hat. Teresa erhält jedoch von niemand einen Hinweis. Selbst Cesare, der ihnen in langen Gesprächen alles über seine Sicht der Religion beigebracht hat, wird nicht bleiben. Viele Jahre später kehren Bern und Tomasso als Besetzer des verlassenen Hofes zurück und entwickeln sich zu radikalen Umweltaktivisten. Der dritte im Bunde, Nicola, wird Polizist. Als auch Teresa ihr Studium in Turin aufgibt und das harte und unbequeme Bauernleben mit ihnen teilt, kommt eine Dynamik in Gang, die sie alle nicht beherrschen können. Am Ende steht ein Mord und die Leser des Romans werden Zeuge des "merkwürdigsten Abschieds in der Geschichte der Welt". Ganz großes Kino.
© BÜCHERmagazin, Manuela Haselberger (has)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2018Früher oder später reißt der Wind uns davon
Paolo Giordanos Roman "Den Himmel stürmen" spannt ein Geflecht von Liebes- und Hassbeziehungen
Übersetzungen von Titeln sind heikel: Es geht nicht allein um Werktreue oder sprachliche Eleganz, vielmehr spielen beim exponiertesten Textteil des Buchs Publikumserwartungen eine wichtige Rolle - echte und vermeintliche. Marketingaspekte können dazu führen, dass vom Original mehr oder weniger stark abgewichen wird; der Übersetzer hat nicht immer sein Wort zu sagen. Ob es derartige Überlegungen sind, denen Paolo Giordanos vierter Roman seinen deutschen Titel "Den Himmel stürmen" verdankt, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Sicher ist, dass er das italienische Original "Divorare il cielo", "Den Himmel verschlingen", nicht trifft: Jugendliches Ungestüm steckt zwar in beiden Formeln, aber "Den Himmel stürmen" ist idealistischer und konventioneller. Die Wendung fasst nicht die je nach Deutung sinnlich-vehemente oder traumhafte Dimension des Originals.
Mit einer nächtlichen, traumhaft-sinnlichen Urszene beginnt alles: "Dann machte einer von ihnen in der Mitte des Schwimmbeckens den toten Mann. Ich spürte meine Kehle brennen, als ich ihn in seiner Nacktheit plötzlich auf dem Wasser liegen sah, auch wenn das nur ein weiterer Schatten war, mehr meine Vorstellung als sonst was." Teresa Gasparro, vierzehn Jahre, überrascht drei Jungs beim Bad im Pool ihrer Großmutter - ihr Vater verjagt sie mit Steinwürfen. Tags darauf entschuldigt sich das Trio, das auf einem benachbarten Bauernhof wohnt: Nicola, der größte und älteste, der hellhäutige Bern und der dunkle Tommaso. Teresa besucht sie bei ihrem Vater respektive Adoptivvater Cesare, eine Art christlich inspirierter Hippie, halb weise, halb scheinheilig. Eine schicksalhafte Freundschaft mit den dreien und eine große Liebe zu Bern entstehen.
Die Handlung ist komplex, es lassen sich vier große Stationen ausmachen. Die erste ist die der jugendlichen Leidenschaft zwischen Bern und der siebzehnjährigen Teresa, die einen Sommer lang zu voller sinnlicher und emotionaler Blüte gedeiht; dann muss Teresa das apulische Dorf verlassen und nach Turin zurückkehren. Im Sommer darauf ist der Hof zu verkaufen, die Bewohner sind verstreut: Nicola studiert Jura, Tommaso arbeitet in einem Hotel, und all das hat etwas damit zu tun, dass Bern offenbar ein Mädchen geschwängert hat, Violalibera. Teresa flüchtet sich ins Lernen.
Der zweite Teil setzt ein, als Teresas Großmutter stirbt: Die nun Dreiundzwanzigjährige kehrt zurück nach Speziale und stellt fest, dass der Hof illegale Bewohner beherbergt, unter ihnen Tommaso mit seiner Freundin Corinne und vor allem Bern. Nicola, der einzige leibliche Sohn Cesares, ist aus der Art geschlagen und Polizist geworden. Violalibera und ihr Kind sind tot - viele Jahre später wird Teresa von den Abgründen erfahren, die sich in dieser Geschichte auftun. Teresa bricht das Studium ab und stößt zu dem Kollektiv, das ökologischen Ackerbau betreibt - zum Entsetzen der Mutter, aber mit Verständnis ihres Vaters: "Denn wir litten beide auf dieselbe Art und Weise an Speziale, wie an einer Krankheit." Aufs Neue gibt es einen charismatischen Anführer: Danco, ein gescheiterter Student. Obwohl dessen Freundin Giuliana Teresa hasst, geht die Mini-Utopie eine Zeitlang gut; erst als Corinne schwanger wird, zerfällt die Gemeinschaft.
Giordano verlangt dem Leser einiges an Identifikationsvermögen ab: der biblisch salbadernde und tendenziell voyeuristische Cesare, der doktrinäre Ökofundamentalist Danco - man merkt, dass der Autor selbst Vorbehalte hat. Über Berns Enthusiasmus und Teresas Liebe fordert er Sympathien ein, für welche die Figuren mitunter zu klein geraten sind. Und weil er dem Leser mit Vorwegnahmen signalisiert, dass all das nicht gutgeht, hätte Giordano, dessen Romane seit dem sensationellen Erstling "Die Einsamkeit der Primzahlen" (2008) fast jedes Mal hundert Seiten zulegen, etwas sparsamer mit Worten sein können.
Das gilt auch für Teil drei, der Teresa und Bern allein auf dem Hof sieht. Sie setzen sich in den Kopf, ein Kind zu bekommen, was trotz Jugend und bester Gesundheit nicht gelingen will. Die Versuche werden verzweifelter und scheitern schließlich, ein In-vitro-Versuch in Kiew inklusive; die Beziehung des mittlerweile verheirateten Paares zerbricht.
Teresa bleibt auf dem Hof zurück. Bern stößt zu Danco und Umweltschützern, die am Bakterium Xylella erkrankte Olivenbäume vor dem Fällen retten wollen. Die Gruppe radikalisiert sich, bei einer Protestaktion tötet Bern seinen Ziehbruder, den Polizisten Nicola. Mit Danco und Giuliana geht er in den Untergrund. Jahre später, Teresa ist mittlerweile 32 Jahre alt, wird sie kontaktiert und reist zu Bern nach Island. Er hat versucht, eine ultimative Naturerfahrung zu machen, zahlt sie jedoch mit dem Leben. Teresa reist nach Hause und findet einen Weg, Bern weiterexistieren zu lassen - ein hoffnungsfrohes Ende.
Mit der Welt der Passionen und der Naturverbundenheit dürfte Paolo Giordano, der in seiner Geburtsstadt Turin in Theoretischer Physik promoviert wurde, nicht viel gemein haben. Umso souveräner gelingt es ihm, ein labyrinthisches Geflecht von Liebes- und Hassbeziehungen aufzuspannen, in das sich letztlich alle verstricken. Parallelen zu früheren Romanen fallen ins Auge: Wie in "Der menschliche Körper" (2012) schildert er über die Hauptfigur eine Gruppe, macht einen Fächer des Menschenmöglichen und Allzumenschlichen auf - freilich tauscht Giordano das bürgerliche Milieu von "Silber und Schwarz" (2014) gegen ein alternatives. "Den Himmel stürmen" setzt zwei Hauptknotenpunkte im großen Beziehungsnetz: Die Liebe zwischen Bern und Teresa stellt die Zentralverknüpfung dar, auch wenn sie im Zeichen des Scheiterns steht. Für die Handlung ebenso entscheidend ist aber die Verstrickung der drei Brüder Nicola, Bern und Tommaso. Ihre frühe Komplizenschaft gegen den Vater geht bis zu einer im wahrsten Sinne des Wortes geteilten Liebe mit Violalibera. Genau daran zerbricht die Gemeinschaft auch, schlägt um in Konkurrenz und tödlichen Hass.
Hintergrundthema des Romans ist die Liebe zur Natur. Auf den ersten Blick scheint Giordano den Aktionen zum Schutz der Olivenhaine zuzustimmen, und tatsächlich ist in diesem Kontext mehr als ein Skandal zu finden. Den Fanatismus besonders Berns freilich teilt Giordano nicht, er lässt Hausmeister Cosimo vernünftige Worte finden: "Aber du bist ein anständiges Mädel. Sie sind anders. Sie sind mit zu kurzen Wurzeln groß geworden. Früher oder später reißt ein Windstoß sie aus und weht sie davon." Träume hingegen kann und will Giordano gelten lassen, das beweisen seine Verweise auf den Roman "Der Baron auf den Bäumen" (1957) von Gewährsmann Italo Calvino: Er erzählt von Cosimo, einem aufgeklärten Adeligen des achtzehnten Jahrhunderts, der sein Leben auf Bäumen verbringt. Bern ahmt ihn nach, steigt ebenfalls auf Bäume, endet aber nicht in der Höhe wie Cosimo, der an einer Montgolfiere hängend entschwebt. Ganz im Gegenteil, ihn treibt es in die Tiefen einer isländischen Höhle, wo er Felsspalten erkundet, in die noch kein Mensch den Fuß gesetzt hat. Das Exzessive, das der italienische Titel andeutet, wird überdeutlich, spätestens hier wird die Natursymbolik psychologisch oder gar psychoanalytisch aufgeladen; sexuelle Konnotationen liegen auf der Hand.
Giordanos Romankunst liegt in der sorgfältigen Konstruktion, die selbst abstruses Verhalten letzten Endes verständlich macht. Er motiviert es psychologisch, im Falle Berns durch die Abwesenheit der leiblichen Mutter, im Falle Teresas durch die gescheiterte Jugendliebe ihres Vaters. Auch erzählerisch wird der Roman am Ende aufs Neue mitreißend, das isländische Finale ist so absurd wie konsequent und bewegend. So überzeugt der Roman trotz Längen doch: "Den Himmel stürmen" ist eine packende Reflexion auf utopische Träume, ihre irdischen Wurzeln und ebenso irdischen Grenzen.
NIKLAS BENDER
Paolo Giordano: "Den
Himmel stürmen". Roman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 528 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Paolo Giordanos Roman "Den Himmel stürmen" spannt ein Geflecht von Liebes- und Hassbeziehungen
Übersetzungen von Titeln sind heikel: Es geht nicht allein um Werktreue oder sprachliche Eleganz, vielmehr spielen beim exponiertesten Textteil des Buchs Publikumserwartungen eine wichtige Rolle - echte und vermeintliche. Marketingaspekte können dazu führen, dass vom Original mehr oder weniger stark abgewichen wird; der Übersetzer hat nicht immer sein Wort zu sagen. Ob es derartige Überlegungen sind, denen Paolo Giordanos vierter Roman seinen deutschen Titel "Den Himmel stürmen" verdankt, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Sicher ist, dass er das italienische Original "Divorare il cielo", "Den Himmel verschlingen", nicht trifft: Jugendliches Ungestüm steckt zwar in beiden Formeln, aber "Den Himmel stürmen" ist idealistischer und konventioneller. Die Wendung fasst nicht die je nach Deutung sinnlich-vehemente oder traumhafte Dimension des Originals.
Mit einer nächtlichen, traumhaft-sinnlichen Urszene beginnt alles: "Dann machte einer von ihnen in der Mitte des Schwimmbeckens den toten Mann. Ich spürte meine Kehle brennen, als ich ihn in seiner Nacktheit plötzlich auf dem Wasser liegen sah, auch wenn das nur ein weiterer Schatten war, mehr meine Vorstellung als sonst was." Teresa Gasparro, vierzehn Jahre, überrascht drei Jungs beim Bad im Pool ihrer Großmutter - ihr Vater verjagt sie mit Steinwürfen. Tags darauf entschuldigt sich das Trio, das auf einem benachbarten Bauernhof wohnt: Nicola, der größte und älteste, der hellhäutige Bern und der dunkle Tommaso. Teresa besucht sie bei ihrem Vater respektive Adoptivvater Cesare, eine Art christlich inspirierter Hippie, halb weise, halb scheinheilig. Eine schicksalhafte Freundschaft mit den dreien und eine große Liebe zu Bern entstehen.
Die Handlung ist komplex, es lassen sich vier große Stationen ausmachen. Die erste ist die der jugendlichen Leidenschaft zwischen Bern und der siebzehnjährigen Teresa, die einen Sommer lang zu voller sinnlicher und emotionaler Blüte gedeiht; dann muss Teresa das apulische Dorf verlassen und nach Turin zurückkehren. Im Sommer darauf ist der Hof zu verkaufen, die Bewohner sind verstreut: Nicola studiert Jura, Tommaso arbeitet in einem Hotel, und all das hat etwas damit zu tun, dass Bern offenbar ein Mädchen geschwängert hat, Violalibera. Teresa flüchtet sich ins Lernen.
Der zweite Teil setzt ein, als Teresas Großmutter stirbt: Die nun Dreiundzwanzigjährige kehrt zurück nach Speziale und stellt fest, dass der Hof illegale Bewohner beherbergt, unter ihnen Tommaso mit seiner Freundin Corinne und vor allem Bern. Nicola, der einzige leibliche Sohn Cesares, ist aus der Art geschlagen und Polizist geworden. Violalibera und ihr Kind sind tot - viele Jahre später wird Teresa von den Abgründen erfahren, die sich in dieser Geschichte auftun. Teresa bricht das Studium ab und stößt zu dem Kollektiv, das ökologischen Ackerbau betreibt - zum Entsetzen der Mutter, aber mit Verständnis ihres Vaters: "Denn wir litten beide auf dieselbe Art und Weise an Speziale, wie an einer Krankheit." Aufs Neue gibt es einen charismatischen Anführer: Danco, ein gescheiterter Student. Obwohl dessen Freundin Giuliana Teresa hasst, geht die Mini-Utopie eine Zeitlang gut; erst als Corinne schwanger wird, zerfällt die Gemeinschaft.
Giordano verlangt dem Leser einiges an Identifikationsvermögen ab: der biblisch salbadernde und tendenziell voyeuristische Cesare, der doktrinäre Ökofundamentalist Danco - man merkt, dass der Autor selbst Vorbehalte hat. Über Berns Enthusiasmus und Teresas Liebe fordert er Sympathien ein, für welche die Figuren mitunter zu klein geraten sind. Und weil er dem Leser mit Vorwegnahmen signalisiert, dass all das nicht gutgeht, hätte Giordano, dessen Romane seit dem sensationellen Erstling "Die Einsamkeit der Primzahlen" (2008) fast jedes Mal hundert Seiten zulegen, etwas sparsamer mit Worten sein können.
Das gilt auch für Teil drei, der Teresa und Bern allein auf dem Hof sieht. Sie setzen sich in den Kopf, ein Kind zu bekommen, was trotz Jugend und bester Gesundheit nicht gelingen will. Die Versuche werden verzweifelter und scheitern schließlich, ein In-vitro-Versuch in Kiew inklusive; die Beziehung des mittlerweile verheirateten Paares zerbricht.
Teresa bleibt auf dem Hof zurück. Bern stößt zu Danco und Umweltschützern, die am Bakterium Xylella erkrankte Olivenbäume vor dem Fällen retten wollen. Die Gruppe radikalisiert sich, bei einer Protestaktion tötet Bern seinen Ziehbruder, den Polizisten Nicola. Mit Danco und Giuliana geht er in den Untergrund. Jahre später, Teresa ist mittlerweile 32 Jahre alt, wird sie kontaktiert und reist zu Bern nach Island. Er hat versucht, eine ultimative Naturerfahrung zu machen, zahlt sie jedoch mit dem Leben. Teresa reist nach Hause und findet einen Weg, Bern weiterexistieren zu lassen - ein hoffnungsfrohes Ende.
Mit der Welt der Passionen und der Naturverbundenheit dürfte Paolo Giordano, der in seiner Geburtsstadt Turin in Theoretischer Physik promoviert wurde, nicht viel gemein haben. Umso souveräner gelingt es ihm, ein labyrinthisches Geflecht von Liebes- und Hassbeziehungen aufzuspannen, in das sich letztlich alle verstricken. Parallelen zu früheren Romanen fallen ins Auge: Wie in "Der menschliche Körper" (2012) schildert er über die Hauptfigur eine Gruppe, macht einen Fächer des Menschenmöglichen und Allzumenschlichen auf - freilich tauscht Giordano das bürgerliche Milieu von "Silber und Schwarz" (2014) gegen ein alternatives. "Den Himmel stürmen" setzt zwei Hauptknotenpunkte im großen Beziehungsnetz: Die Liebe zwischen Bern und Teresa stellt die Zentralverknüpfung dar, auch wenn sie im Zeichen des Scheiterns steht. Für die Handlung ebenso entscheidend ist aber die Verstrickung der drei Brüder Nicola, Bern und Tommaso. Ihre frühe Komplizenschaft gegen den Vater geht bis zu einer im wahrsten Sinne des Wortes geteilten Liebe mit Violalibera. Genau daran zerbricht die Gemeinschaft auch, schlägt um in Konkurrenz und tödlichen Hass.
Hintergrundthema des Romans ist die Liebe zur Natur. Auf den ersten Blick scheint Giordano den Aktionen zum Schutz der Olivenhaine zuzustimmen, und tatsächlich ist in diesem Kontext mehr als ein Skandal zu finden. Den Fanatismus besonders Berns freilich teilt Giordano nicht, er lässt Hausmeister Cosimo vernünftige Worte finden: "Aber du bist ein anständiges Mädel. Sie sind anders. Sie sind mit zu kurzen Wurzeln groß geworden. Früher oder später reißt ein Windstoß sie aus und weht sie davon." Träume hingegen kann und will Giordano gelten lassen, das beweisen seine Verweise auf den Roman "Der Baron auf den Bäumen" (1957) von Gewährsmann Italo Calvino: Er erzählt von Cosimo, einem aufgeklärten Adeligen des achtzehnten Jahrhunderts, der sein Leben auf Bäumen verbringt. Bern ahmt ihn nach, steigt ebenfalls auf Bäume, endet aber nicht in der Höhe wie Cosimo, der an einer Montgolfiere hängend entschwebt. Ganz im Gegenteil, ihn treibt es in die Tiefen einer isländischen Höhle, wo er Felsspalten erkundet, in die noch kein Mensch den Fuß gesetzt hat. Das Exzessive, das der italienische Titel andeutet, wird überdeutlich, spätestens hier wird die Natursymbolik psychologisch oder gar psychoanalytisch aufgeladen; sexuelle Konnotationen liegen auf der Hand.
Giordanos Romankunst liegt in der sorgfältigen Konstruktion, die selbst abstruses Verhalten letzten Endes verständlich macht. Er motiviert es psychologisch, im Falle Berns durch die Abwesenheit der leiblichen Mutter, im Falle Teresas durch die gescheiterte Jugendliebe ihres Vaters. Auch erzählerisch wird der Roman am Ende aufs Neue mitreißend, das isländische Finale ist so absurd wie konsequent und bewegend. So überzeugt der Roman trotz Längen doch: "Den Himmel stürmen" ist eine packende Reflexion auf utopische Träume, ihre irdischen Wurzeln und ebenso irdischen Grenzen.
NIKLAS BENDER
Paolo Giordano: "Den
Himmel stürmen". Roman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 528 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Maike Albath ist enttäuscht. Autor Paolo Giordano will einfach zu viel mit diesem Roman über eine Selbstversorger-Kommune in Apulien, so Albath: Religion, Unfruchtbarkeit, Abkehr vom Mainstream und Naturschutz - da stockt die Handlung und wackelt die Konstruktion. Für einen großen Gesellschaftsroman hat Giordano dann doch nicht das nötige literarische Werkzeug, fürchtet sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein Glücksfall. Michael Stoessinger Stern 20181031