Jakob hat Panikattacken. Von allen Seiten bekommt er das Gefühl vermittelt, nicht normal zu sein, zu viel zu sein. Bis er auf Lotti trifft, die ihn dazu überredet, sie auf eine Wanderung zu begleiten. Die Beiden nähern sich an, lernen voneinander und über sich selbst. Die Geschichte bietet die Möglichkeit, sich den Themen Angststörungen und Depression anzunähern und aufzuzeigen, wie wichtig es ist, Hilfe anzunehmen. Der Roman hilft außerdem dabei, Hemmschwellen abzubauen und Jugendliche zu bestärken, ihre Probleme nicht mit sich selbst ausmachen zu müssen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.01.2022Grübel-Generator
Die Wanderung zweier Jugendlicher
„Es war sieben Uhr morgens, und ich fühlte mich scheiße. Wie immer, wenn ich aufwachte und mir klar wurde, dass ein neuer Tag anbrach, durch den ich mich schleppen musste.“ Mit diesem wenig erbaulichen Einstieg beginnt Annette Mierswas neuer Jugendroman „Liebe sich, wer kann“.
Jakob ist ein Außenseiter in seiner Klasse. Er hat kein Selbstwertgefühl, leidet unter seinem „Grübel-Generator“ und bekommt regelmäßig Panikattacken. In der Schule wird er wegen seiner vielen Beinhaare als Yeti verspottet. Auch seine Familie verleiht ihm keine Stabilität – ganz im Gegenteil: Sein Vater bezeichnet ihn als Schlappschwanz, seine Brüder benutzen ihn als willkommenes Opfer für ihre derben Späße, die Mutter arbeitet viel. Nur in der virtuellen Welt eines Computerspiels findet Jakob Zuflucht, indem er sich mit seinem Avatar identifiziert. Der ist zwar nur ein Stallknecht, verfügt aber wenigstens über enorme Kräfte.
Dann bekommt Jakob eines Tages, aus heiterem Himmel, einen Anruf von Lotti. Sie ist Schulsprecherin und atemberaubend hübsch. Nach ein paar verunglückten Telefonaten und Treffen stellt sich heraus, dass Lotti eine Begleitung für eine mehrtägige Wanderung sucht und dabei ausgerechnet an Jakob dachte. Er sei „ihre letzte Hoffnung“. Warum Lotti Zutrauen zu Jakob hat und ihn als Seelenverwandten betrachtet, versteht man später. Dieser kann sein Glück gar nicht fassen und zweifelt sowohl an Lottis Absichten als auch an seiner Eignung als beschützender Begleiter. Lottis Ziel ist ein ominöses Château, wo sie einen Erholungsurlaub machen wolle.
Das ungleiche Paar macht sich also mit Zelt und Wanderausrüstung auf den Weg. Bald wird klar, dass auch Lotti etwas zu verbergen hat und emotional alles andere als stabil ist. Sie warnt Jakob: „Also, wenn ich mal irgendwie komisch sein sollte, umkehren will oder so, dann lass es nicht zu, ja? Schleif mich notfalls hinter dir her. Versprochen?“
Unterwegs begegnen den beiden jede Menge schräger Gestalten: ein selbstverliebter, aber orientierungsloser Prolo namens Gott mit einer Schwäche für Angeberautos, die „Waldfrau“ Gunda, die mit ihrem schwerbehinderten Sohn in einem abgelegenen Haus lebt, eine Gruppe von Klimaaktivisten, die Bäume besetzen, damit diese nicht gefällt werden, oder ein krebskranker Junge, der nur noch Dinge macht, die er auf einer „Do before die Liste“ notiert hat. Am Ende wird die Wanderung sogar noch zu einem spannenden Hindernislauf, als ein unsympathischer Klassenkamerad Jakob und Lotti nachspürt.
All diese gemeinsamen Erlebnisse bringen beide weiter. Jakob kann sich besser so annehmen, wie er ist, und Lotti akzeptiert endlich, dass sie psychiatrische Hilfe braucht. Da durchgehend aus Jakobs Sicht in der Ich-Perspektive erzählt wird, kommt die Darstellung von Lottis Innenleben etwas kurz. Man erfährt nur indirekt und aus den Dialogen etwas über die weibliche Hauptfigur.
Annette Mierswa taucht den Leser ein in das kaum zu kontrollierende Gedanken- und Gefühlskarussell eines jugendlichen Außenseiters, mit wenig Selbstwertgefühl, aber vielen psychischen Problemen. (ab 14 Jahre)
HOLGER MOOS
Annette Mierswa: Liebe sich, wer kann. Loewe, 2021, 240 Seiten, 6,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Wanderung zweier Jugendlicher
„Es war sieben Uhr morgens, und ich fühlte mich scheiße. Wie immer, wenn ich aufwachte und mir klar wurde, dass ein neuer Tag anbrach, durch den ich mich schleppen musste.“ Mit diesem wenig erbaulichen Einstieg beginnt Annette Mierswas neuer Jugendroman „Liebe sich, wer kann“.
Jakob ist ein Außenseiter in seiner Klasse. Er hat kein Selbstwertgefühl, leidet unter seinem „Grübel-Generator“ und bekommt regelmäßig Panikattacken. In der Schule wird er wegen seiner vielen Beinhaare als Yeti verspottet. Auch seine Familie verleiht ihm keine Stabilität – ganz im Gegenteil: Sein Vater bezeichnet ihn als Schlappschwanz, seine Brüder benutzen ihn als willkommenes Opfer für ihre derben Späße, die Mutter arbeitet viel. Nur in der virtuellen Welt eines Computerspiels findet Jakob Zuflucht, indem er sich mit seinem Avatar identifiziert. Der ist zwar nur ein Stallknecht, verfügt aber wenigstens über enorme Kräfte.
Dann bekommt Jakob eines Tages, aus heiterem Himmel, einen Anruf von Lotti. Sie ist Schulsprecherin und atemberaubend hübsch. Nach ein paar verunglückten Telefonaten und Treffen stellt sich heraus, dass Lotti eine Begleitung für eine mehrtägige Wanderung sucht und dabei ausgerechnet an Jakob dachte. Er sei „ihre letzte Hoffnung“. Warum Lotti Zutrauen zu Jakob hat und ihn als Seelenverwandten betrachtet, versteht man später. Dieser kann sein Glück gar nicht fassen und zweifelt sowohl an Lottis Absichten als auch an seiner Eignung als beschützender Begleiter. Lottis Ziel ist ein ominöses Château, wo sie einen Erholungsurlaub machen wolle.
Das ungleiche Paar macht sich also mit Zelt und Wanderausrüstung auf den Weg. Bald wird klar, dass auch Lotti etwas zu verbergen hat und emotional alles andere als stabil ist. Sie warnt Jakob: „Also, wenn ich mal irgendwie komisch sein sollte, umkehren will oder so, dann lass es nicht zu, ja? Schleif mich notfalls hinter dir her. Versprochen?“
Unterwegs begegnen den beiden jede Menge schräger Gestalten: ein selbstverliebter, aber orientierungsloser Prolo namens Gott mit einer Schwäche für Angeberautos, die „Waldfrau“ Gunda, die mit ihrem schwerbehinderten Sohn in einem abgelegenen Haus lebt, eine Gruppe von Klimaaktivisten, die Bäume besetzen, damit diese nicht gefällt werden, oder ein krebskranker Junge, der nur noch Dinge macht, die er auf einer „Do before die Liste“ notiert hat. Am Ende wird die Wanderung sogar noch zu einem spannenden Hindernislauf, als ein unsympathischer Klassenkamerad Jakob und Lotti nachspürt.
All diese gemeinsamen Erlebnisse bringen beide weiter. Jakob kann sich besser so annehmen, wie er ist, und Lotti akzeptiert endlich, dass sie psychiatrische Hilfe braucht. Da durchgehend aus Jakobs Sicht in der Ich-Perspektive erzählt wird, kommt die Darstellung von Lottis Innenleben etwas kurz. Man erfährt nur indirekt und aus den Dialogen etwas über die weibliche Hauptfigur.
Annette Mierswa taucht den Leser ein in das kaum zu kontrollierende Gedanken- und Gefühlskarussell eines jugendlichen Außenseiters, mit wenig Selbstwertgefühl, aber vielen psychischen Problemen. (ab 14 Jahre)
HOLGER MOOS
Annette Mierswa: Liebe sich, wer kann. Loewe, 2021, 240 Seiten, 6,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Holger Moos lernt in Annette Mierswas "Liebe sich, wer kann" das beinahe unkontrollierbare Innenleben eines jugendlichen Außenseiters kennen. Jakob, der viele psychische Probleme, aber wenig Selbstwert mit sich rumschleppt und dessen Leben sowohl in schulischer als auch familiärer Hinsicht von Instabilität geprägt ist, erzählt in der Ich-Perspektive davon, wie er völlig unerwartet von der schönen Schulsprecherin Lotti dazu aufgefordert wird, sie bei einer mehrtägigen Wanderung zu begleiten, beschreibt Moos. Auf ihrer Reise treffen die beiden ungleichen Jugendlichen nicht nur viele komische Gestalten, sie entwickeln sich auch gemeinsam weiter und beginnen sich selbst und ihre vorwiegend psychischen Makel zu akzeptieren. Der Rezensent hätte sich durchaus darüber gefreut, weitaus mehr über die Gefühle und Gedanken der weiblichen Protagonistin zu erfahren, resümiert er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Annette Mierswa taucht den Leser ein in das kaum zu kontrollierende Gedanken- und Gefühlskarussell eines jugendlichen Außenseiters, mit wenig Selbstwertgefühl, aber vielen psychischen Problemen." Holger Moos, Süddeutsche Zeitung "Annette Mierswas einfühlsamer Roman macht deutlich, wie sehr der Dauerleistungsdruck in der Gesellschaft psychischen Problemen Vorschub leistet. Dabei verliert der Text nie seine positive Grundeinstellung und ist ein warmherziger Beitrag über Respekt und Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen." Der Standard "Eine wohltuende, Hoffnung verbreitende Geschichte trotz der Schwere des Themas. Sprachlich versiert und kurzweilig erzählt." Albert Hoffmann, Passauer Neue Presse "Wie philosophische Gedanken, psychische Erkrankungen, Ernst und Leichtigkeit, Nöte von Jugendlichen heute und ein ereignisreicher Roadtrip voller Hürden und Überraschungen in Balance gehalten werden, ist bemerkenswert." Eva Maus, eselsohr "Ein ermutigendes Jugendbuch überAngststörungen und Panikattacken." Thüringer Zeitung