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Ursula Poznanski erzählt in "Shelter" von der Gefahr, Verwirrte aus ihren Verstecken zu locken.
Für eine gute Verschwörungstheorie - oder besser: eine wirksame - gibt es drei Zutaten, sagt die Psychologiestudentin Liv: Erstens die Überzeugung, dass nichts zufällig geschieht, zweitens, dass nichts ist, wie es scheint, und drittens, dass alles mit allem im Geheimen verbunden ist.
So weit die Theorie. Weil aber bei fünf jungen Menschen um die zwanzig am Ende einer Geburtstagsfeier noch genug Energie vorhanden ist, um das Schlafengehen aufzuschieben, entwickeln sie spontan die Idee zu einer obskuren Verschwörung, die sie in die Welt setzen wollen, angeregt durch den Ärger, den es mit zwei esoterisch verblendeten Gästen gab, die die Party dann im Streit verlassen haben.
Liv, der Medizinstudent Nando, der Jurastudent Till, die Künstlerin Darya und der angehende Schauspieler Benny, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, gehen vielleicht naiv an ihre Verschwörungsidee heran, aber nicht verantwortungslos. Es sind brave junge Menschen, die da ihre Pläne schmieden. Ausdrücklich wollen sie "keinen Schaden anrichten", auch keine Sachbeschädigung, und natürlich, wie Liv betont, "am Schluss alles aufklären". Dafür, wann der Zeitpunkt dafür gekommen ist, gibt es unter ihnen allerdings keinen Plan und auch keine gemeinsame Haltung, wie sich bald herausstellt. "Treibt das Spiel nicht zu weit", sagt Nando schon bald. Nur dass die fünf Initiatoren feststellen müssen, keine Kontrolle mehr über ihr Werk zu haben. Es ist längst aus dem Ruder gelaufen.
Ursula Poznanskis neuer Roman "Shelter" hat sehr viel von dem, was fast alle ihre zuverlässig im jährlichen Rhythmus erscheinenden Jugendbücher seit "Erebos" (2010) prägt: Die Faszination, die von neuen Technologien und ihren Anwendungen ausgeht, steht ebenso im Zentrum wie die Gefahren, die damit verbunden sind. Wer sich blind auf avancierte Augmented-Reality-Brillen ("Layers", 2015), hyperrealistische digitale Welten ("Cryptos", 2020) oder sensationelle medizinische Innovationen ("Thalamus", 2018) einlässt, gibt damit zugleich die Kontrolle über das eigene Leben ab. Er profitiert von den Möglichkeiten einer faszinierend neuen, aber für ihn nicht durchschaubaren Welt und gerät, wenn er diesen Kontrollverlust abwenden und das Informationsdefizit ausgleichen will, nicht selten in Lebensgefahr. Nachdem die Autorin eine dystopische Jugendbuchtrilogie um eine Art Datenarmband auf einer künftigen, weitgehend zerstörten Erde angesiedelt hat ("Die Verratenen", "Die Verschworenen", "Die Vernichteten", 2012 bis 2014), spielen ihre Romane sonst in unserer Gegenwart und entwerfen eine Technologie, die sich bisweilen nur leicht von der unterscheidet, die wir bereits nutzen. Oder die, wie jetzt in "Shelter", ganz auf dem Geläufigen basiert.
Der Freundeskreis um Nando, der sich mit Liv und Benny eine Wohnung teilt, ist auf der Suche nach einer möglichst abstrusen, aber von dafür Empfänglichen gerade noch zu akzeptierenden Verschwörungstheorie auf eine Invasion gekommen, bei der Aliens menschliche Körper übernehmen, um darin Schutz vor den ungewohnten irdischen Gegebenheiten zu finden - so kommt es zum Romantitel "Shelter". Wichtiger noch als der Inhalt der erfundenen Theorie ist den Freunden der Weg ihrer Verbreitung. Also entwirft Darya ad hoc ein Logo, das, unbestimmt genug, offen für alle möglichen Interpretationen ist, und Benny erstellt eine Reihe von Social-Media-Accounts, derer sie sich von nun an bedienen, um die Diskussion zur "Shelter"-Verschwörung anzuheizen.
Die Exposition zu all dem, die Stunden zwischen der Party und dem nächsten Morgen, zeigt Poznanskis großes erzählerisches Vermögen, gerade weil sie so beiläufig daherkommt. Nicht nur, weil die Autorin die einzelnen Charaktere geschickt einführt und das Gemeinsame ebenso betont wie das, was die fünf im Lauf des Romans auseinanderbringen wird. Sondern auch, weil sie deutlich macht, was jeder von ihnen einbringt, wie jeder so das Ganze erst ermöglicht, wie aber auch gerade wegen der Partikularfähigkeiten und -interessen die Kontrolle verloren geht.
Liv etwa betreibt die Sache mit Blick auf ihr Psychologiestudium - sie sieht darin ein faszinierendes Experiment, weswegen sie sich auch am meisten dagegen wehrt, dass die Freunde von einem gewissen Punkt an Einfluss nehmen, was dem Vorsatz entgegensteht, "keinen Schaden anzurichten". Till und Benny sind mehr oder weniger in Darya verliebt, was besonders Benny erst zur Teilnahme veranlasst und dann, als Darya plötzlich verschwindet, zur Forderung an die anderen, die Verschwörung endlich aufzuklären. Als er es dann auf eigene Faust tut, glaubt ihm niemand unter den Hunderten, die im Netz inzwischen über "Shelter" diskutieren.
Der Vorsatz "Ein bisschen warten wir noch mit der Wahrheit" erweist sich jedenfalls als hochgefährlich, und Poznanski zeichnet besonders Livs Zufriedenheit mit ihrer eigenen Manipulation der Verschwörungsanhänger als das, was sie im Kern ist: arrogant und blind. "Es war so läppisch einfach, Irre jeder Art aus ihren Löchern zu locken", überlegt Benny einmal, nur dass ihn das verstört, während diese Erkenntnis offensichtlich Livs Forscherehrgeiz eher befriedigt.
Bennys Hintergrund ist eine kluge Wahl der Autorin: Er bereitet sich auf die Prüfung zur Schauspielschule vor. Offensichtlich kann er sich Hoffnungen machen, angenommen zu werden, denn wenigstens Darya, die ihn bei seinen Monologen abhört, findet ihn darin überzeugend. Wer beruflich in Rollen schlüpft, wird dies auch in den sozialen Medien nicht befremdlich finden, und so ist es eben Benny, der dafür die Charaktere der anderen entwirft. Zugleich aber erweist er sich als besonders sensibel in der Frage, mit wem sie es eigentlich bei denen zu tun haben, die sich vor allem auf Facebook an der Diskussion um die vermeintliche Alien-Invasion beteiligen. Und er ist es, der am genauesten beobachtet, welche Rolle diese Netz-Identitäten in der Realität spielen.
Auch diese Frage ist Poznanski-Lesern vertraut, sie prägt bereits den Roman "Erebos", in dem ein Computerspiel so programmiert ist, dass die Teilnehmer in der Realität Aufgaben erfüllen müssen, um sich online Vorteile zu verschaffen - wäre es anders, könnte man das Spiel ebenso ignorieren wie die Nachrichten der Verschwörungsanhänger.
Hier aber baut sich für die fünf Initiatoren eine unterschiedlich intensive Bedrohung auf, die sich nicht als Beleidigungswelle im Internet, sondern als physische Gefahr manifestiert. Benny, der - nicht zuletzt aus Sorge um Darya - allmählich wachsam dafür wird, registriert aber noch weitere Folgen für sich selbst, die vielleicht sogar gravierender sind: Er nimmt harmlose Passanten als Feinde wahr, sieht hinter jedem, der ihn länger anschaut, einen Anhänger des "Shelter"-Mythos, der ihm seine offenen Worte über dessen Ursprung übel nimmt und ihn mundtot machen will. Auch die Freundschaft der fünf Urheber erweist sich bald als bedroht und am Ende irreparabel geschädigt.
Dass Poznanskis Bücher ihr Publikum erreichen, zeigen die Verkaufszahlen insgesamt ebenso wie Beobachtungen, die man an einzelnen Jugendlichen machen kann. Der besondere Reiz dieses Bandes liegt darin, dass er die Schuldfrage für das, was passiert, gekonnt in der Schwebe lässt, ohne sich um eine Antwort zu drücken. Welche Verantwortung hat man für etwas, das als Scherz gedacht war, das sich nicht aggressiv gegen eine bestimmte Person richtet und zudem ja von vielen Rezipienten ausdrücklich als Fake erkannt wird? Die Antwort darauf ist komplex. Auch davon spricht dieser hervorragende Jugendroman. TILMAN SPRECKELSEN
Ursula Poznanski: "Shelter". Roman.
Loewe Verlag, Bindlach 2021. 432 S., geb., 19,95 Euro. Ab 14 J.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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