Irland 1922, mitten im Bürgerkrieg: IRA-Kämpfer bringen nachts einen toten Kameraden auf den Friedhof von Sligo. Der Friedhofswärter soll ihn beerdigen. Roseanne, dessen schöne Tochter, wird nach dem Priester geschickt - und ein verhängnisvolles Schicksal nimmt seinen Lauf.
Wie die Ereignisse einer einzigen Nacht eine Familie zerstören, weil sie zwischen alle Fronten gerät, davon erzählt Roseanne McNulty viele Jahre später. Fast einhundert Jahre alt ist sie und seit langem Insassin einer Psychiatrischen Anstalt, als sie ihre Erinnerungen niederschreibt. Auch ihr Arzt Dr. Grene will mehr über Roseannes Leben wissen, als ihre zögerlich-tastenden Gespräche und die wenigen Akten hergeben. Was er herausfindet, wirft ein ganz anderes Licht auf Roseannes Vergangenheit. War ihr geliebter Vater in Wahrheit ein Verräter? Und sie eine Kindsmörderin?
Sebastian Barrys preisgekrönter Roman erzählt von ganz normalen Menschen, die ins Räderwerk der Geschichte geraten. Hautnah läßt er uns eine Zeit miterleben, in der aus Freunden Feinde und aus Nachbarn Mörder werden, in der Glück eine rare Münze ist und Liebe ein Risiko.
Wie die Ereignisse einer einzigen Nacht eine Familie zerstören, weil sie zwischen alle Fronten gerät, davon erzählt Roseanne McNulty viele Jahre später. Fast einhundert Jahre alt ist sie und seit langem Insassin einer Psychiatrischen Anstalt, als sie ihre Erinnerungen niederschreibt. Auch ihr Arzt Dr. Grene will mehr über Roseannes Leben wissen, als ihre zögerlich-tastenden Gespräche und die wenigen Akten hergeben. Was er herausfindet, wirft ein ganz anderes Licht auf Roseannes Vergangenheit. War ihr geliebter Vater in Wahrheit ein Verräter? Und sie eine Kindsmörderin?
Sebastian Barrys preisgekrönter Roman erzählt von ganz normalen Menschen, die ins Räderwerk der Geschichte geraten. Hautnah läßt er uns eine Zeit miterleben, in der aus Freunden Feinde und aus Nachbarn Mörder werden, in der Glück eine rare Münze ist und Liebe ein Risiko.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2009Die verschwundene Tante
Der irische Schriftsteller Sebastian Barry hat mit seinem Roman ein bewegendes Stück Literatur über seine Heimat geschrieben, das von den dunklen Praktiken der Macht erzählt.
Das Verschwinden einer Tante aus dem Familiengedächtnis habe ihn zu diesem Roman bewogen, erzählt der irische Autor Sebastian Barry, dessen Roman "Ein verborgenes Leben" schon 2008 für den begehrten Booker-Preis nominiert war, den Costa Book Award erhielt und 2009 in Irland als Roman des Jahres ausgezeichnet wurde. "The Secret Scripture", wie er im Original heißt, erhielt überdies den Publikumspreis, und das wohl deshalb, weil er tief eindringt ins dunkle Herz seines Landes, aber dennoch wunderbar leicht davon zu erzählen weiß. Von Barrys verschwundener Tante blieb kein Name, kein Dokument. Sie schien wie ausgelöscht.
Vielleicht wurde auch sie irgendwann - wie Roseanne, die Hauptfigur - auf Drängen der Schwiegerfamilie und mit Hilfe eines mächtigen Priesters in einer psychiatrischen Klinik weggesperrt, so wie viele Frauen seinerzeit, einfach, weil sie unbequem waren, Krankheiten vererbten oder aus irgendeinem Grunde nicht zu verheiraten waren. Jetzt, nach Jahrzehnten, legt diese Roseanne McNulty Zeugnis ab. Aber nicht, um Mitleid zu erregen, sondern ganz bescheiden, nur für sich, "auf unerwünschtem, überschüssigem Papier", heimlich, wenn niemand in ihrem Klinikzimmer ist: "Ich bin vollkommen allein, in der weiten Welt außerhalb dieser Mauern gibt es niemanden, der mich noch kennt; meine ganze Familie, diese wenigen verlorenen Gestalten, vor allem mein kleiner Zaunkönig von einer Mutter, sie alle sind nicht mehr. Und auch meine Peiniger, denke ich, sind größtenteils dahin, und der Grund dafür ist, dass ich längst eine alte, alte Frau bin, vielleicht schon an die hundert."
Es ist dieser leise, unschuldige Ton einer uralten Erzählerin, die keiner Leser bedarf, um zu schreiben. Es ist dieser märchenhafte, weitsinnige Blick einer Frau, die bisweilen Züge jener Figur der Baba Jaga trägt, die slawische Mythen durchkreuzt - anziehend, verführerisch, zart, ungeschliffen, vielleicht nicht so unheimlich wie diese Figur, aber trotz ihrer tiefen seelischen Verletzungen unendlich weise. Man traut dieser Erzählerin am Ende alles zu, sogar, dass sie sich noch auf dem Sterbebett verwandelt und engelsgleich davonschwebt. Andererseits könnten diese Erzählerin und ihre Geschichte wohl kaum irischer sein. Barrys Roman ist ein bewegendes Stück Literatur über Irlands Kriege und Männer und eines ihrer mundtot gemachten Opfer - Roseanne. Und so wie gute Romane über Länder, in denen Konflikte und Tod Generationen prägen, nutzt Barry die Möglichkeiten der Literatur, diese Konflikte von mehreren Seiten, nie einseitig zu beleuchten.
So lesen wir nicht nur Roseannes Hommage an den längst verstorbenen Vater, der, als sie Mädchen war, in Sligo als presbyterianischer Friedhofswärter eine Zeitlang, von allen im Ort geschätzt, die jungen, katholischen Toten des Bürgerkriegs begrub. Wir erfahren nicht nur ihre Version über jene verhängnisvolle Nacht im Jahre 1922, mitten im Bürgerkrieg, als nach einem Schusswechsel in den nahen Bergen junge IRA-Kämpfer ihren toten Kameraden brachten, dem Roseannes Vater die letzte Ehre erwies - kurz darauf degradierte man ihn zum städtischen Rattenfänger. Wir hören zwischen Roseannes nie zynischen, poetischen, sprunghaften Rückblicken immer wieder Mr. Grene, ihren Psychiater. Der muss entscheiden, welche seiner jahrelangen Patienten ohne Grund in seiner Klinik sind.
Mr. Grene nun ist gleichfalls beeindruckt von seiner ältesten Patientin, die schon als junge Dame eine Schönheit gewesen sein soll - vielleicht war ebendies sogar ihr Verderben. Aber ein Gespräch zwischen beiden entwickelt sich trotz mehrfacher Versuche kaum. So bleibt es also vor allem bei beiderseitigen Aufzeichnungen, die sich irgendwann, etwa in der Mitte des Romans, zu kreuzen beginnen: Grene stellt Nachforschungen an über Roseanne. Und als wir schon, verführt von Roseannes traumwandlerischer Erzählerstimme, glaubten, sie habe einen wunderbaren Vater gehabt, der nachts für sie auf den Kirchturm stieg und Federn und Hammer hinunterwarf, um seiner aufmerksam von unten hochschauenden Tochter die Theorie zu veranschaulichen, dass alle Körper die gleiche Fallgeschwindigkeit haben, weiß Mr. Grene ganz Anderes zu berichten. Er erfährt, dass dieser Vater oft betrunken, vielleicht sogar ein Verräter gewesen sein soll und Roseanne eine Kindsmörderin. Die Szene im Turm mit den leicht herunterschwebenden Federn, von denen die alte Roseanne bis heute schwärmt, habe sich überhaupt ganz anders abgespielt, so schrecklich, so traurig, dass man sie hier gar nicht erzählen mag. Wem also soll man glauben? Selbst der recherchierende Psychiater Grene weiß das lange nicht. Und ist doch verstrickter, als er ahnt.
Sebastian Barry bezieht mit seinem flüssig erzählten, lange alles in Schwebe haltenden Roman aber doch Position. "Ein verborgenes Leben" ist deshalb zweierlei: ein leuchtendes Erzählfeuerwerk mit glasklaren, innerlichen Sätzen, für die Hans-Christian Oeser in seiner Übersetzung immer wieder berückend schöne Wendungen findet - etwa, wenn es über Roseannes labile Mutter heißt, sie sei "jenseits des Gesehenwerdens". Barrys Roman über eine von Irlands "verlorenen Frauen" ist nicht zuletzt aber auch ein politischer Roman, der jene dunklen Praktiken beleuchtet, mit denen Drahtzieher der Macht - wie in diesem Fall ein katholischer Priester - Lebensläufe unbestraft für Jahrzehnte ausbremsten.
Roseanne fand nie aus den Mauern der Anstalt heraus, wurde sogar noch innerhalb dieses Gefängnisses jahrelang missbraucht. Niemand interessierte sich für ihr Schicksal. In den Augen jenes fiktiven Father Gaunt, der ihr nach dem Tod des Vaters freundschaftlicher Berater und intrigierender Feind zugleich war, hatte sie Makel: schön zu sein; nicht katholisch; nicht willens, einen ältlichen Katholiken zu heiraten. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf in jenen musikbegeisterten dreißiger Jahren, wo man zu Jelly Roll Morton tanzt und in denen "aus guter Geschichte allmählich schlechte Geschichte" wird. Wer war Freund, wer Feind? "Ach, es ist ein irritierendes Rätsel."
Dass in diesem Roman Dialoge rar sind, ist bezeichnend, geht es doch um Tabus, um mangelnde Kommunikation. Schade, dass von Sebastian Barry, 1955 in Dublin geboren, lange Dozent für Latein und Englisch und Autor von Theaterstücken, Lyrik und Prosa, bislang nur sein Roman "Die Zeitläufte des Eneas McNulty" 1999 auf Deutsch erschien. Im Kern verhandelte er bereits ein ähnliches Thema: wie es sich unter dem Bannfluch gesellschaftlicher Ächtung weiterlebt. Roseanne nun findet einen ganz eigenen, intimen Weg, indem sie in der Erinnerung abfälscht, was nicht zu ertragen wäre. Sie disoziiert, spaltet ab, verläuft sich dabei in ihrem Erzählirrgarten, was diesem Roman seine irritierende poetische Kraft verleiht. Mr. Grenes Erzählung hingegen reguliert, aber auch sein Hirn irrt.
Barrys Kunst besteht darin, verschiedene Versionen einer Geschichte anzubieten, und zwar jedes Mal überzeugend. Selten wurde so mit dem Vertrauen des Lesers gespielt. Dass er sich letztlich doch auf die Seite von Roseanne schlagen wird, dass er ihrer Version mehr Glauben zu schenken gewillt ist, auch wenn sie Dramatisches ausblendet, beweist die Kraft dieser Erzählerfigur. "Ein verborgenes Leben" ist ein raffinierter, einfühlsam erzählter Roman über notdürftig gepflasterte Erinnerungsrisse, über die Fragwürdigkeit von Konfessionen, über folgenschwere Nachbeben einer scheinbar kleinen Entscheidung. Am Ende hält man ergriffen Bruchstücke in den Händen. Ebendeshalb ist es nicht nur Irlands Roman.
ANJA HIRSCH
Sebastian Barry: "Ein verborgenes Leben". Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2009. 392 S., geb., 19,90 [Euro].
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Der irische Schriftsteller Sebastian Barry hat mit seinem Roman ein bewegendes Stück Literatur über seine Heimat geschrieben, das von den dunklen Praktiken der Macht erzählt.
Das Verschwinden einer Tante aus dem Familiengedächtnis habe ihn zu diesem Roman bewogen, erzählt der irische Autor Sebastian Barry, dessen Roman "Ein verborgenes Leben" schon 2008 für den begehrten Booker-Preis nominiert war, den Costa Book Award erhielt und 2009 in Irland als Roman des Jahres ausgezeichnet wurde. "The Secret Scripture", wie er im Original heißt, erhielt überdies den Publikumspreis, und das wohl deshalb, weil er tief eindringt ins dunkle Herz seines Landes, aber dennoch wunderbar leicht davon zu erzählen weiß. Von Barrys verschwundener Tante blieb kein Name, kein Dokument. Sie schien wie ausgelöscht.
Vielleicht wurde auch sie irgendwann - wie Roseanne, die Hauptfigur - auf Drängen der Schwiegerfamilie und mit Hilfe eines mächtigen Priesters in einer psychiatrischen Klinik weggesperrt, so wie viele Frauen seinerzeit, einfach, weil sie unbequem waren, Krankheiten vererbten oder aus irgendeinem Grunde nicht zu verheiraten waren. Jetzt, nach Jahrzehnten, legt diese Roseanne McNulty Zeugnis ab. Aber nicht, um Mitleid zu erregen, sondern ganz bescheiden, nur für sich, "auf unerwünschtem, überschüssigem Papier", heimlich, wenn niemand in ihrem Klinikzimmer ist: "Ich bin vollkommen allein, in der weiten Welt außerhalb dieser Mauern gibt es niemanden, der mich noch kennt; meine ganze Familie, diese wenigen verlorenen Gestalten, vor allem mein kleiner Zaunkönig von einer Mutter, sie alle sind nicht mehr. Und auch meine Peiniger, denke ich, sind größtenteils dahin, und der Grund dafür ist, dass ich längst eine alte, alte Frau bin, vielleicht schon an die hundert."
Es ist dieser leise, unschuldige Ton einer uralten Erzählerin, die keiner Leser bedarf, um zu schreiben. Es ist dieser märchenhafte, weitsinnige Blick einer Frau, die bisweilen Züge jener Figur der Baba Jaga trägt, die slawische Mythen durchkreuzt - anziehend, verführerisch, zart, ungeschliffen, vielleicht nicht so unheimlich wie diese Figur, aber trotz ihrer tiefen seelischen Verletzungen unendlich weise. Man traut dieser Erzählerin am Ende alles zu, sogar, dass sie sich noch auf dem Sterbebett verwandelt und engelsgleich davonschwebt. Andererseits könnten diese Erzählerin und ihre Geschichte wohl kaum irischer sein. Barrys Roman ist ein bewegendes Stück Literatur über Irlands Kriege und Männer und eines ihrer mundtot gemachten Opfer - Roseanne. Und so wie gute Romane über Länder, in denen Konflikte und Tod Generationen prägen, nutzt Barry die Möglichkeiten der Literatur, diese Konflikte von mehreren Seiten, nie einseitig zu beleuchten.
So lesen wir nicht nur Roseannes Hommage an den längst verstorbenen Vater, der, als sie Mädchen war, in Sligo als presbyterianischer Friedhofswärter eine Zeitlang, von allen im Ort geschätzt, die jungen, katholischen Toten des Bürgerkriegs begrub. Wir erfahren nicht nur ihre Version über jene verhängnisvolle Nacht im Jahre 1922, mitten im Bürgerkrieg, als nach einem Schusswechsel in den nahen Bergen junge IRA-Kämpfer ihren toten Kameraden brachten, dem Roseannes Vater die letzte Ehre erwies - kurz darauf degradierte man ihn zum städtischen Rattenfänger. Wir hören zwischen Roseannes nie zynischen, poetischen, sprunghaften Rückblicken immer wieder Mr. Grene, ihren Psychiater. Der muss entscheiden, welche seiner jahrelangen Patienten ohne Grund in seiner Klinik sind.
Mr. Grene nun ist gleichfalls beeindruckt von seiner ältesten Patientin, die schon als junge Dame eine Schönheit gewesen sein soll - vielleicht war ebendies sogar ihr Verderben. Aber ein Gespräch zwischen beiden entwickelt sich trotz mehrfacher Versuche kaum. So bleibt es also vor allem bei beiderseitigen Aufzeichnungen, die sich irgendwann, etwa in der Mitte des Romans, zu kreuzen beginnen: Grene stellt Nachforschungen an über Roseanne. Und als wir schon, verführt von Roseannes traumwandlerischer Erzählerstimme, glaubten, sie habe einen wunderbaren Vater gehabt, der nachts für sie auf den Kirchturm stieg und Federn und Hammer hinunterwarf, um seiner aufmerksam von unten hochschauenden Tochter die Theorie zu veranschaulichen, dass alle Körper die gleiche Fallgeschwindigkeit haben, weiß Mr. Grene ganz Anderes zu berichten. Er erfährt, dass dieser Vater oft betrunken, vielleicht sogar ein Verräter gewesen sein soll und Roseanne eine Kindsmörderin. Die Szene im Turm mit den leicht herunterschwebenden Federn, von denen die alte Roseanne bis heute schwärmt, habe sich überhaupt ganz anders abgespielt, so schrecklich, so traurig, dass man sie hier gar nicht erzählen mag. Wem also soll man glauben? Selbst der recherchierende Psychiater Grene weiß das lange nicht. Und ist doch verstrickter, als er ahnt.
Sebastian Barry bezieht mit seinem flüssig erzählten, lange alles in Schwebe haltenden Roman aber doch Position. "Ein verborgenes Leben" ist deshalb zweierlei: ein leuchtendes Erzählfeuerwerk mit glasklaren, innerlichen Sätzen, für die Hans-Christian Oeser in seiner Übersetzung immer wieder berückend schöne Wendungen findet - etwa, wenn es über Roseannes labile Mutter heißt, sie sei "jenseits des Gesehenwerdens". Barrys Roman über eine von Irlands "verlorenen Frauen" ist nicht zuletzt aber auch ein politischer Roman, der jene dunklen Praktiken beleuchtet, mit denen Drahtzieher der Macht - wie in diesem Fall ein katholischer Priester - Lebensläufe unbestraft für Jahrzehnte ausbremsten.
Roseanne fand nie aus den Mauern der Anstalt heraus, wurde sogar noch innerhalb dieses Gefängnisses jahrelang missbraucht. Niemand interessierte sich für ihr Schicksal. In den Augen jenes fiktiven Father Gaunt, der ihr nach dem Tod des Vaters freundschaftlicher Berater und intrigierender Feind zugleich war, hatte sie Makel: schön zu sein; nicht katholisch; nicht willens, einen ältlichen Katholiken zu heiraten. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf in jenen musikbegeisterten dreißiger Jahren, wo man zu Jelly Roll Morton tanzt und in denen "aus guter Geschichte allmählich schlechte Geschichte" wird. Wer war Freund, wer Feind? "Ach, es ist ein irritierendes Rätsel."
Dass in diesem Roman Dialoge rar sind, ist bezeichnend, geht es doch um Tabus, um mangelnde Kommunikation. Schade, dass von Sebastian Barry, 1955 in Dublin geboren, lange Dozent für Latein und Englisch und Autor von Theaterstücken, Lyrik und Prosa, bislang nur sein Roman "Die Zeitläufte des Eneas McNulty" 1999 auf Deutsch erschien. Im Kern verhandelte er bereits ein ähnliches Thema: wie es sich unter dem Bannfluch gesellschaftlicher Ächtung weiterlebt. Roseanne nun findet einen ganz eigenen, intimen Weg, indem sie in der Erinnerung abfälscht, was nicht zu ertragen wäre. Sie disoziiert, spaltet ab, verläuft sich dabei in ihrem Erzählirrgarten, was diesem Roman seine irritierende poetische Kraft verleiht. Mr. Grenes Erzählung hingegen reguliert, aber auch sein Hirn irrt.
Barrys Kunst besteht darin, verschiedene Versionen einer Geschichte anzubieten, und zwar jedes Mal überzeugend. Selten wurde so mit dem Vertrauen des Lesers gespielt. Dass er sich letztlich doch auf die Seite von Roseanne schlagen wird, dass er ihrer Version mehr Glauben zu schenken gewillt ist, auch wenn sie Dramatisches ausblendet, beweist die Kraft dieser Erzählerfigur. "Ein verborgenes Leben" ist ein raffinierter, einfühlsam erzählter Roman über notdürftig gepflasterte Erinnerungsrisse, über die Fragwürdigkeit von Konfessionen, über folgenschwere Nachbeben einer scheinbar kleinen Entscheidung. Am Ende hält man ergriffen Bruchstücke in den Händen. Ebendeshalb ist es nicht nur Irlands Roman.
ANJA HIRSCH
Sebastian Barry: "Ein verborgenes Leben". Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2009. 392 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Anja Hirsch ist ergriffen von diesem Buch. Sebastian Barrys Roman hält sie für typisch irisch, aber thematisch allgemeingültig genug, um nicht als Roman Irlands etikettiert zu werden. Es geht um Erinnerung, um Konfession und Tabus, um eine Frau, die, wie Hirsch erklärt, aus dem Familiengedächtnis verschwindet. Erzählt wird aus zwei konträren Perspektiven, einer traumwandlerisch unschuldigen und einer die Untiefen offen legenden. Jede für sich findet Hirsch glaubhaft, darin besteht für sie die Kunst des Autors. Bewegend erscheint ihr der an sich politische Text über eine von Irlands "verlorenen Frauen" auch durch seine poetische Kraft, die "glasklaren innerlichen Sätze", die ihr auch in der deutschen Übersetzung "berückend schön" erscheinen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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