Köchin, Soldat, Mädchen, Liebhaber, Fabrikant und Revuedirektor- ein ganzer Reigen von Personen bevölkert Magdalena Tullis Roman. Wir befinden uns zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Schauplatz ist die Stadt Sciegi, die sich wandelt wie der historische Hintergrund, die Ereignisse, die den Personen widerfahren. Mal Garnisonsstadt in der finsteren Kälte des Nordens, dann wieder Metropole und Hafenstadt unter blauem Sommerhimmel, am Ende ein Trümmerfeld. Sciegi ist die Geschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2000Wo geht's hier zum Meer?
Magdalena Tullis Roman "In Rot" · Von Eberhard Rathgeb
Kann das sein? Dort hinten liegt die Stadt Nathen. Und in einem der Häuser, in einem der Wohnzimmer sitzt eine Frau und wartet auf die Rückkehr ihres Verlobten, der in den Krieg, den ersten großen europäischen, gezogen ist. Sie stickt unermüdlich, ein Monogramm nach dem anderen. Schließlich aber läßt sie ihre Hände in schwerer Traurigkeit und Trostlosigkeit sinken: Ihr Verlobter hat den diamantenen Verlobungsring verkauft, bevor er ins Feld zog. Die Frau greift nun nach der roten Stickseide und dröselt unermüdlich ein Seidenfädchen nach dem anderen auf. Die roten Flusen werden vom Luftzug, der durch das Zimmer weht, in die Welt hinausgetragen und sinken auf den Uniformen der Soldaten nieder. Wer einen Fussel trägt, der wird fallen. Dann endlich: Der Verlobte kommt zurück. Er liegt kalt in einer Holzkiste. Im Haar schimmert ein Fussel. Die Frau heißt Stefania.
So geht's und passiert es im neuen Roman der polnischen Schriftstellerin Magdalena Tulli: "In Rot". Es ist ihr zweiter Roman, nach "Träume und Steine" (deutsch 1997). Hier, auf einhundertzweiundneunzig Seiten, liegt die Stadt Nathen. Hier sitzt Stefania. Hier verlobt sich Kazimierz. Hier kauft sein Bursche Felek Chmura nach dem Krieg ein Grundstück nach dem anderen und geht dann mit Pomp und Trara am Falschgeld, das im Umlauf ist, restlos pleite, worauf er stirbt. Hier räkelt sich spätmorgens die nachkriegsmelancholische, aus schierem Lebensüberdruß rauchende Sängerin Natalie Zugoff in ihrem warmen Hotelbett, singt abends vor einem männlichen Publikum und verschwindet klammheimlich von einem Tag auf den anderen aus der Stadt, was den dicken Theaterdirektor Rauch, der am schneeweißen Flügel seine kullernden Tränen verklimpert, zu Boden schmettert. Hier taucht, und zwar ganz vorkriegsüblich, die Meute auf, darunter junge Leute mit kurzgeschorenem Haar, denen die Freiheit eine üble Last ist, weshalb sie sture Regeln und heile, heikle Sauberkeit einführen möchten, notfalls, doch auch immer wieder gerne durch einen sterbensförderlichen Dauerhagel aus Eisenstockschlägen auf ihre wehrlosen Mitmenschen. Schließlich brennt es in Nathen lichterloh. Der Zweite Weltkrieg könnte nun beginnen - da ist die Geschichte aber auch schon zu Ende.
Auf der vorletzten Seite des Romans rollt eine Limousine in das Nathener aschengraue und rußschwarze Ende hinein, der Chauffeur lehnt sich aus dem Fenster und fragt: "Leute, wo geht's hier zum Meer?" Die Nathener schütteln den Kopf, weil sich hier kein Meer nah und breit erstreckt, heben ihren Arm und weisen auf die Schneewehen, die sich am Horizont abzeichnen, weisen also auf den Anfang des Romans zurück, nach vorne auf die Seite 5, als Nathen noch eine Stadt war, die von ihrer eigenen Geschichte kein Sterbenswörtchen ahnte. Eine Geschichte bleibt eine Geschichte, wenn man von ihrem Ende zu ihrem Anfang zurückfindet.
Magdalena Tullis schmaler Roman zieht dahin wie kleine schwarze Unglückswolken - schwebt, wie es nur märchenhaften Erzählungen gelingt, in denen die Figuren Zwitterwesen sind, Menschen, die zwar aussehen, handeln und reden wie Menschen, doch nicht so ganz aus Fleisch und Blut, sondern vor allem aus einem einwiegenden Ton, aus einer gleichmütigen Stimmung gemacht sind. Man kann ihnen nicht fest in die Augen schauen, weil man zu ihnen in kein seelisches Verhältnis gerät. Sie gleichen besonderen Auswüchsen eines historischen Geflechts: Exemplare einer Gattung, die Glück und Unglück , Wunsch und Scheitern kennt, und zwar vor dem Krieg, nach dem Krieg, vor dem Krieg.
So rasch, wie man nach Nathen geriet - gleich mit dem ersten Satz -, so rasch kommt man aus der Stadt wieder heraus. Man schaut auf und findet sich unterwegs: vielleicht sogar auf dem Weg zum Meer.
Das Meer begrenzt die kleine und überschaubare Tullische Landschaft. In der Limousine, die am Ende in die Stadt hineinfährt, sitzen keine Zeitzeugen - sonst hätte der Chauffeur ja nur den Kopf nach hinten drehen und dorthin seine Frage richten müssen. Es sitzen hier jene, die auf der Durchfahrt sind. Alle Wege führen zum Meer, zum Sog, durch den die Geschichten sich irgendwann einmal von ihrer Leidens- und Erdenschwere lösen.
Diese kleine Lektion über den Anfang vom Ende möchte Magdalena Tullis moralisch handtaschengroßer Roman jedem Handlungsreisenden erteilen - "Handlungsreisender, der du Glück oder Rettung suchst": Einmal könnte das Ende keinen Anfang mehr haben, und dann wäre die reale Geschichte endgültig vorbei. Im Meer sind alle Menschen nur noch Schwimmer in Not.
Magdalena Tulli: "In Rot". Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000. 192 S., geb., 36 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Magdalena Tullis Roman "In Rot" · Von Eberhard Rathgeb
Kann das sein? Dort hinten liegt die Stadt Nathen. Und in einem der Häuser, in einem der Wohnzimmer sitzt eine Frau und wartet auf die Rückkehr ihres Verlobten, der in den Krieg, den ersten großen europäischen, gezogen ist. Sie stickt unermüdlich, ein Monogramm nach dem anderen. Schließlich aber läßt sie ihre Hände in schwerer Traurigkeit und Trostlosigkeit sinken: Ihr Verlobter hat den diamantenen Verlobungsring verkauft, bevor er ins Feld zog. Die Frau greift nun nach der roten Stickseide und dröselt unermüdlich ein Seidenfädchen nach dem anderen auf. Die roten Flusen werden vom Luftzug, der durch das Zimmer weht, in die Welt hinausgetragen und sinken auf den Uniformen der Soldaten nieder. Wer einen Fussel trägt, der wird fallen. Dann endlich: Der Verlobte kommt zurück. Er liegt kalt in einer Holzkiste. Im Haar schimmert ein Fussel. Die Frau heißt Stefania.
So geht's und passiert es im neuen Roman der polnischen Schriftstellerin Magdalena Tulli: "In Rot". Es ist ihr zweiter Roman, nach "Träume und Steine" (deutsch 1997). Hier, auf einhundertzweiundneunzig Seiten, liegt die Stadt Nathen. Hier sitzt Stefania. Hier verlobt sich Kazimierz. Hier kauft sein Bursche Felek Chmura nach dem Krieg ein Grundstück nach dem anderen und geht dann mit Pomp und Trara am Falschgeld, das im Umlauf ist, restlos pleite, worauf er stirbt. Hier räkelt sich spätmorgens die nachkriegsmelancholische, aus schierem Lebensüberdruß rauchende Sängerin Natalie Zugoff in ihrem warmen Hotelbett, singt abends vor einem männlichen Publikum und verschwindet klammheimlich von einem Tag auf den anderen aus der Stadt, was den dicken Theaterdirektor Rauch, der am schneeweißen Flügel seine kullernden Tränen verklimpert, zu Boden schmettert. Hier taucht, und zwar ganz vorkriegsüblich, die Meute auf, darunter junge Leute mit kurzgeschorenem Haar, denen die Freiheit eine üble Last ist, weshalb sie sture Regeln und heile, heikle Sauberkeit einführen möchten, notfalls, doch auch immer wieder gerne durch einen sterbensförderlichen Dauerhagel aus Eisenstockschlägen auf ihre wehrlosen Mitmenschen. Schließlich brennt es in Nathen lichterloh. Der Zweite Weltkrieg könnte nun beginnen - da ist die Geschichte aber auch schon zu Ende.
Auf der vorletzten Seite des Romans rollt eine Limousine in das Nathener aschengraue und rußschwarze Ende hinein, der Chauffeur lehnt sich aus dem Fenster und fragt: "Leute, wo geht's hier zum Meer?" Die Nathener schütteln den Kopf, weil sich hier kein Meer nah und breit erstreckt, heben ihren Arm und weisen auf die Schneewehen, die sich am Horizont abzeichnen, weisen also auf den Anfang des Romans zurück, nach vorne auf die Seite 5, als Nathen noch eine Stadt war, die von ihrer eigenen Geschichte kein Sterbenswörtchen ahnte. Eine Geschichte bleibt eine Geschichte, wenn man von ihrem Ende zu ihrem Anfang zurückfindet.
Magdalena Tullis schmaler Roman zieht dahin wie kleine schwarze Unglückswolken - schwebt, wie es nur märchenhaften Erzählungen gelingt, in denen die Figuren Zwitterwesen sind, Menschen, die zwar aussehen, handeln und reden wie Menschen, doch nicht so ganz aus Fleisch und Blut, sondern vor allem aus einem einwiegenden Ton, aus einer gleichmütigen Stimmung gemacht sind. Man kann ihnen nicht fest in die Augen schauen, weil man zu ihnen in kein seelisches Verhältnis gerät. Sie gleichen besonderen Auswüchsen eines historischen Geflechts: Exemplare einer Gattung, die Glück und Unglück , Wunsch und Scheitern kennt, und zwar vor dem Krieg, nach dem Krieg, vor dem Krieg.
So rasch, wie man nach Nathen geriet - gleich mit dem ersten Satz -, so rasch kommt man aus der Stadt wieder heraus. Man schaut auf und findet sich unterwegs: vielleicht sogar auf dem Weg zum Meer.
Das Meer begrenzt die kleine und überschaubare Tullische Landschaft. In der Limousine, die am Ende in die Stadt hineinfährt, sitzen keine Zeitzeugen - sonst hätte der Chauffeur ja nur den Kopf nach hinten drehen und dorthin seine Frage richten müssen. Es sitzen hier jene, die auf der Durchfahrt sind. Alle Wege führen zum Meer, zum Sog, durch den die Geschichten sich irgendwann einmal von ihrer Leidens- und Erdenschwere lösen.
Diese kleine Lektion über den Anfang vom Ende möchte Magdalena Tullis moralisch handtaschengroßer Roman jedem Handlungsreisenden erteilen - "Handlungsreisender, der du Glück oder Rettung suchst": Einmal könnte das Ende keinen Anfang mehr haben, und dann wäre die reale Geschichte endgültig vorbei. Im Meer sind alle Menschen nur noch Schwimmer in Not.
Magdalena Tulli: "In Rot". Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000. 192 S., geb., 36 DM.
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