Produktdetails
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- Seitenzahl: 119
- Deutsch
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 220g
- ISBN-13: 9783630869933
- ISBN-10: 3630869939
- Artikelnr.: 24639900
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999Herzhöhlentiere
Melitta Brezniks Figuren der Einsamkeit / Von Hubert Spiegel
Acht Erzählungen über den Abschied, acht Verlustanzeigen, kurze Texte über Momente, in denen die Zeit angehalten wird und die Erinnerung einsetzt. Was ihnen zugrunde liegt, ist die müde Melancholie derer, die der eigenen Gefühllosigkeit gewahr werden, sei es die längst vergangener Tage oder die des Augenblicks. Von Momenten der Gleichgültigkeit und der Kälte, der Feigheit, aber auch der Hilflosigkeit und Überforderung erzählen diese Geschichten, und was in ihnen seinen Ausdruck findet, ist nicht zuletzt die Überzeugung, das Leben eines Menschen lasse sich auch als Summe seiner Verluste beschreiben. Man legt dieses Buch mit dem eigentümlichen Gefühl aus der Hand, die sieben Ich-Erzählerinnen seien womöglich ein und dieselbe Person und der schmale Band sei so etwas wie das Selbstporträt dieser Erzählerin, gefügt aus den Bildern der Menschen, die sie verloren hat.
Melitta Breznik, 1961 in Österreich geboren und als Ärztin in Zürich lebend, schreibt über den endgültigen, den unvermeidlichen Abschied ebenso wie über den Abschied in seiner gewöhnlichsten Form: der beiläufigen, wortlosen, unmerklichen. Sie schreibt über den Tod und darüber, wie es ist, einander einfach nur aus den Augen zu verlieren. Mitunter merkt man erst nach Jahren, dass etwas fehlt. Es hatte sich so ergeben. Wann, warum, wie es dazu kam? Man weiß es nicht recht und noch weniger, ob man sich daran erinnern möchte.
Denn die Erinnerungen und Wiederbegegnungen, die hier aufgerufen werden, sind immer auch aufgegebene Entwürfe, ausgeschlagene Möglichkeiten, Lebenswege, die nicht beschritten wurden. Eine Psychiaterin im Krankenhaus wird zu einer Selbstmörderin gerufen, die den Namen ihrer ehemals besten Freundin trägt, eine Frau lauscht in der Nacht den nervösen Schritten eines Freundes, der im Garten auf und ab geht, ein Mann begegnet nach fast einem halben Jahrhundert der Frau wieder, der er einst die Ehe versprochen hatte. Die "kleine dickliche Gestalt mit grauen Haaren", die von einem jungen Mann in den Hörsaal geführt wird, ist eine Patientin der Universitätsklinik, die den Arzt zu einem Vortrag eingeladen hat. Ein "klassischer Fall, wie er mit einem Blick erkennt", unheilbar krank und seit vierundvierzig Jahren ununterbrochen in psychiatrischen Kliniken. In den ersten Jahren hatte die Patientin noch Briefe an einen unbekannten Österreicher geschrieben, an ebenjenen, der jetzt mit dem interessierten Blick des Fachmanns ihre Krankenakte studiert, ein Verzeichnis erfolglos gebliebener Behandlungsmethoden, vom Elektroschock bis zur "Durchtrennung der beiden Hirnhälften".
Am nächsten Tag kehrt der Mann in die Klinik zurück. Er will sich zu erkennen geben, belässt es aber bei einem schlichten Gruß. Danach, als er weiß, daß die Frau ihn nicht mehr erkennt, wird er vom Betroffenen zum Beobachter. Er folgt dem zerstörten Wesen, das einmal seine Geliebte war, in den Klinikpark, um ihr von einer Parkbank aus bei ihrem Rundgang zuzusehen. Als die Patienten in die Klinik zurückgeführt werden und der Park sich leert, legt er sich "der Länge nach hin, starrt ins dunkle Laub über ihm und schließt die Augen."
Was denkt jemand, der erfährt, dass er vor einem halben Jahrhundert einen Menschen, der ihm nahestand, in den Wahnsinn getrieben hat? Melitta Breznik bleibt jede Antwort schuldig, in dieser wie in den anderen Erzählungen. Die Stärke dieser Prosa liegt im Erfassen und Beschreiben von Symptomen, die Diagnose wird angedeutet, von einer Therapie jedoch ist mit keinem Wort die Rede.
In der Erzählung "Elsa" trifft sich die Erzählerin mit einer früheren Mitbewohnerin im Café. Die Wohngemeinschaft ist längst aufgelöst, ihre Mitglieder haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen. "Aus den meisten wird wohl etwas geworden sein, über die ganze Geschichte mit Elsa haben wir einfach nicht mehr geredet, meine Unsicherheit von damals spüre ich heute noch", heißt es. Ob Arroganz und nachläsig verhüllte Verachtung der Studenten die Verkäuferin in Depression und Selbstmordversuche getrieben haben, bleibt ein Verdacht, den die die Erzählerin hegt, dem sie aber nicht nachzugehen vermag. Melitta Breznik beschreibt Variationen der Einsamkeit, Wiederbegegnungen, die ohne Folgen bleiben, die den Lauf der Dinge nicht ändern und ihm nichts hinzufügen - außer der Wiederkehr vergessen geglaubter Gefühle.
Die meisten der acht Erzählungen nehmen ihren Ausgang in der Wohngemeinschaft oder der Klinik. Das Krankenhaus war auch schon zentraler Ort des beeindruckenden Debüts "Nachtdienst", das vor vier Jahren erschienen ist, ein ambitioniertes, schlackenloses Buch, das den Abschied der Ich-Erzählerin von ihrem Vater beschrieb. In einer der einprägsamsten Szenen des Buches erinnert sich die Erzählerin, eine Ärztin, wie sie als Kind über einer selbst gestellten Aufgabe verzweifelt. Sie muß im Chaos des Teppichmusters in ihrem Zimmer eine Ordnung finden, eine Gesetzmäßigkeit entdecken. "Dann würde ich Glück haben, Vater würde an diesem Abend nicht betrunken nach Hause kommen, Mutter würde trotz ihres Herzleidens steinalt und ich erhielte gute Noten oder ein Fahrrrad zu Ostern." Das Muster im Teppich ist der Schlüssel zum Glück, das es nicht gibt, und ein Richterspruch in eigener Sache. Denn indem sich das Mädchen eine unlösbare Aufgabe stellt, fordert es die Strafe für sein Versagen heraus. So muss das zwangsläufige Unglück als selbstverschuldet erscheinen.
Diese trotzige, verquere Manie, sich gerade in aussichtsloser Lage verantwortlich zu fühlen, zeigt sich auch im neuen Buch. Unter allen Gefühlen, die hier unter einer mit Lakonie gepanzerten Haut subkutan mitgeführt werden, ist das der Schuld nicht das geringste. Dabei gibt es keine objektiven Tatbestände, nur die Wiederkehr früheren Unbehagens, ausgelöst vom nagenden Misstrauen der Beobachterinnen gegen sich selbst. Aber den meisten Figuren in diesem Buch ist nicht zu helfen, Elsa nicht und nicht dem todkranken Hannes und nicht der Einsiedlerin, die überall im Haus Spinnen sieht, kleine schwarze Punkte, die zu tausenden durch die Zimmer wandern und die sie in ihrem Wahn für die einzige Hinterlassenschaft des Mannes hält, der sie verlassen hat. Melittas Brezniks zweites Buch versammelt acht lebenstraurige Erzählungen über den Abschied, acht Einsamkeitsbilder von großer Eindringlichkeit. Sie zeigen hungernde Herzhöhlentiere in ihrem ausweglosen Bau.
Melitta Breznik: "Figuren". Erzählungen. Luchterhand Literaturverlag, München 1999. 120 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Melitta Brezniks Figuren der Einsamkeit / Von Hubert Spiegel
Acht Erzählungen über den Abschied, acht Verlustanzeigen, kurze Texte über Momente, in denen die Zeit angehalten wird und die Erinnerung einsetzt. Was ihnen zugrunde liegt, ist die müde Melancholie derer, die der eigenen Gefühllosigkeit gewahr werden, sei es die längst vergangener Tage oder die des Augenblicks. Von Momenten der Gleichgültigkeit und der Kälte, der Feigheit, aber auch der Hilflosigkeit und Überforderung erzählen diese Geschichten, und was in ihnen seinen Ausdruck findet, ist nicht zuletzt die Überzeugung, das Leben eines Menschen lasse sich auch als Summe seiner Verluste beschreiben. Man legt dieses Buch mit dem eigentümlichen Gefühl aus der Hand, die sieben Ich-Erzählerinnen seien womöglich ein und dieselbe Person und der schmale Band sei so etwas wie das Selbstporträt dieser Erzählerin, gefügt aus den Bildern der Menschen, die sie verloren hat.
Melitta Breznik, 1961 in Österreich geboren und als Ärztin in Zürich lebend, schreibt über den endgültigen, den unvermeidlichen Abschied ebenso wie über den Abschied in seiner gewöhnlichsten Form: der beiläufigen, wortlosen, unmerklichen. Sie schreibt über den Tod und darüber, wie es ist, einander einfach nur aus den Augen zu verlieren. Mitunter merkt man erst nach Jahren, dass etwas fehlt. Es hatte sich so ergeben. Wann, warum, wie es dazu kam? Man weiß es nicht recht und noch weniger, ob man sich daran erinnern möchte.
Denn die Erinnerungen und Wiederbegegnungen, die hier aufgerufen werden, sind immer auch aufgegebene Entwürfe, ausgeschlagene Möglichkeiten, Lebenswege, die nicht beschritten wurden. Eine Psychiaterin im Krankenhaus wird zu einer Selbstmörderin gerufen, die den Namen ihrer ehemals besten Freundin trägt, eine Frau lauscht in der Nacht den nervösen Schritten eines Freundes, der im Garten auf und ab geht, ein Mann begegnet nach fast einem halben Jahrhundert der Frau wieder, der er einst die Ehe versprochen hatte. Die "kleine dickliche Gestalt mit grauen Haaren", die von einem jungen Mann in den Hörsaal geführt wird, ist eine Patientin der Universitätsklinik, die den Arzt zu einem Vortrag eingeladen hat. Ein "klassischer Fall, wie er mit einem Blick erkennt", unheilbar krank und seit vierundvierzig Jahren ununterbrochen in psychiatrischen Kliniken. In den ersten Jahren hatte die Patientin noch Briefe an einen unbekannten Österreicher geschrieben, an ebenjenen, der jetzt mit dem interessierten Blick des Fachmanns ihre Krankenakte studiert, ein Verzeichnis erfolglos gebliebener Behandlungsmethoden, vom Elektroschock bis zur "Durchtrennung der beiden Hirnhälften".
Am nächsten Tag kehrt der Mann in die Klinik zurück. Er will sich zu erkennen geben, belässt es aber bei einem schlichten Gruß. Danach, als er weiß, daß die Frau ihn nicht mehr erkennt, wird er vom Betroffenen zum Beobachter. Er folgt dem zerstörten Wesen, das einmal seine Geliebte war, in den Klinikpark, um ihr von einer Parkbank aus bei ihrem Rundgang zuzusehen. Als die Patienten in die Klinik zurückgeführt werden und der Park sich leert, legt er sich "der Länge nach hin, starrt ins dunkle Laub über ihm und schließt die Augen."
Was denkt jemand, der erfährt, dass er vor einem halben Jahrhundert einen Menschen, der ihm nahestand, in den Wahnsinn getrieben hat? Melitta Breznik bleibt jede Antwort schuldig, in dieser wie in den anderen Erzählungen. Die Stärke dieser Prosa liegt im Erfassen und Beschreiben von Symptomen, die Diagnose wird angedeutet, von einer Therapie jedoch ist mit keinem Wort die Rede.
In der Erzählung "Elsa" trifft sich die Erzählerin mit einer früheren Mitbewohnerin im Café. Die Wohngemeinschaft ist längst aufgelöst, ihre Mitglieder haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen. "Aus den meisten wird wohl etwas geworden sein, über die ganze Geschichte mit Elsa haben wir einfach nicht mehr geredet, meine Unsicherheit von damals spüre ich heute noch", heißt es. Ob Arroganz und nachläsig verhüllte Verachtung der Studenten die Verkäuferin in Depression und Selbstmordversuche getrieben haben, bleibt ein Verdacht, den die die Erzählerin hegt, dem sie aber nicht nachzugehen vermag. Melitta Breznik beschreibt Variationen der Einsamkeit, Wiederbegegnungen, die ohne Folgen bleiben, die den Lauf der Dinge nicht ändern und ihm nichts hinzufügen - außer der Wiederkehr vergessen geglaubter Gefühle.
Die meisten der acht Erzählungen nehmen ihren Ausgang in der Wohngemeinschaft oder der Klinik. Das Krankenhaus war auch schon zentraler Ort des beeindruckenden Debüts "Nachtdienst", das vor vier Jahren erschienen ist, ein ambitioniertes, schlackenloses Buch, das den Abschied der Ich-Erzählerin von ihrem Vater beschrieb. In einer der einprägsamsten Szenen des Buches erinnert sich die Erzählerin, eine Ärztin, wie sie als Kind über einer selbst gestellten Aufgabe verzweifelt. Sie muß im Chaos des Teppichmusters in ihrem Zimmer eine Ordnung finden, eine Gesetzmäßigkeit entdecken. "Dann würde ich Glück haben, Vater würde an diesem Abend nicht betrunken nach Hause kommen, Mutter würde trotz ihres Herzleidens steinalt und ich erhielte gute Noten oder ein Fahrrrad zu Ostern." Das Muster im Teppich ist der Schlüssel zum Glück, das es nicht gibt, und ein Richterspruch in eigener Sache. Denn indem sich das Mädchen eine unlösbare Aufgabe stellt, fordert es die Strafe für sein Versagen heraus. So muss das zwangsläufige Unglück als selbstverschuldet erscheinen.
Diese trotzige, verquere Manie, sich gerade in aussichtsloser Lage verantwortlich zu fühlen, zeigt sich auch im neuen Buch. Unter allen Gefühlen, die hier unter einer mit Lakonie gepanzerten Haut subkutan mitgeführt werden, ist das der Schuld nicht das geringste. Dabei gibt es keine objektiven Tatbestände, nur die Wiederkehr früheren Unbehagens, ausgelöst vom nagenden Misstrauen der Beobachterinnen gegen sich selbst. Aber den meisten Figuren in diesem Buch ist nicht zu helfen, Elsa nicht und nicht dem todkranken Hannes und nicht der Einsiedlerin, die überall im Haus Spinnen sieht, kleine schwarze Punkte, die zu tausenden durch die Zimmer wandern und die sie in ihrem Wahn für die einzige Hinterlassenschaft des Mannes hält, der sie verlassen hat. Melittas Brezniks zweites Buch versammelt acht lebenstraurige Erzählungen über den Abschied, acht Einsamkeitsbilder von großer Eindringlichkeit. Sie zeigen hungernde Herzhöhlentiere in ihrem ausweglosen Bau.
Melitta Breznik: "Figuren". Erzählungen. Luchterhand Literaturverlag, München 1999. 120 S., geb., 29,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Martin Krumbholz kann sich nicht wirklich begeistern für diese Erzählungen. Er vermisst eine "gewisse negative Energie" und wittert ein schlechtes Gewissen bei der Autorin, das durch Schreiben zu einem guten Gewissen werden soll. Zu viel "Trauerrand" diagnostiziert er an diesen Texten, zu viel Empfindsamkeit, gleichzeitig bleiben seiner Ansicht nach alle Figuren - einschliesslich die der Erzählerin - zu blass. Dies sei in Brezniks "Nachtdienst" anders gewesen, und er erinnert an die gut gezeichnete Vaterfigur, die darin eine Rolle spielte. Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen findet Krumbholz in "Figuren" sehr oberflächlich und unverbindlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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