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Produktdetails
  • Verlag: Droste Vlg
  • ISBN-13: 9783770051533
  • Artikelnr.: 24934819
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2015

Redekünstler und Kartenleser
Als "Genie" konnte Hitler bis zuletzt auf umfassende Gefolgschaftstreue bauen

Noch ein Buch über Hitler - aber ein sehr originelles! Zum 70. Jahrestag des Kriegsendes möchte Wolfram Pyta die Wirkung der nationalsozialistischen Herrschaft damit erklären, dass sich Hitler schon zur Wiener Aquarellmaler-Zeit am Wagnerschen Gesamtkunstwerk berauschte und daraus später ein "ästhetisches Konzept" entwickelte, um als Politiker und schließlich auch als Feldherr seine Gefolgschaft weder überzeugen noch überreden, sondern überwältigen zu wollen. Die meisten Deutschen fielen demnach auf "Bühnenrezepte" herein, die der aus Braunau am Inn stammende Gefreite und Meldegänger systematisch für den Aufstieg vom Redekünstler nach dem Ersten Weltkrieg zum "Architekten der Festung Europa" im Zweiten Weltkrieg einsetzte.

Die Hitler-Getreuen und -Gläubigen irritierte nicht einmal das Stalingrad-Desaster 1943: Der sich in der Öffentlichkeit rar machende oberste Befehlshaber konnte darauf bauen, "dass sich das Volk auf die unermessliche Schöpferkraft des ,Führers' verließ, der schon Mittel und Wege finden würde, den Gegner zu besiegen. Zumindest eine Zeitlang immunisierte der Genieanspruch gegen nüchterne militärische Einsichten." Daher lautet der zentrale Satz in der Studie des Stuttgarter Kulturgeschichtlers: "Die hingebungsvolle Unterwerfung unter das Genie ist kein serviler Akt erzwungener Untertänigkeit, sondern die extremste Form selbstgewählter Entmündigung."

Wie konnte Hitler in die Genie-Sphäre vorstoßen? Diese Frage behandelt der erste Teil des Buches. Für Pyta war Richard Wagner "zwar nicht der antisemitische Stichwortgeber Hitlers", wohl "aber jener Großmeister der Kunst, der mit seinem Programm einer Ton-Bild-Wort-Raum-Interaktion auf der Bühne das für politische Performanzkünstler attraktivste Angebot offerierte". Durch massentaugliche Aufführungen vermochte Hitler das Publikum in seinen Bann zu schlagen - mit der eigenen Stimme als "kostbarstes politisches Gut". Der Künstler-Charismatiker habe "ästhetische Leitvorstellungen zur Legitimation seiner Herrschaft" genutzt, sich danach vom ständigen Bewährungszwang der charismatischen Herrschaft abgekoppelt und schließlich selbst zum Genie stilisiert - ausgestattet "mit einer schier unbegrenzten politischen Generalermächtigung". Bei einem "Genie der Tat" nehme die Gefolgschaft Terror und Massenmorde als "politischen und moralischen Regelbruch" hin.

Pyta beschreibt im zweiten Teil, wie der Diktator seit 1938 in die Funktion als Inhaber der obersten militärischen Kommandogewalt hineinwuchs. Nach Kriegsbeginn 1939 habe er sich nicht mit der Rolle des Schlachtenbummlers begnügen sowie keine zweiten Hindenburgs und Ludendorffs (wie in der Kaiserzeit 1916) hochkommen lassen wollen. Hitler habe die Professionalität der generalstabsmäßig geschulten Oberbefehlshaber verachtet und darauf vertraut, dass er als Feldherr "die militärische Lage mit einem Blick räumlich erfasste und daraus die richtigen militärischen Lehren zog", zumal es sich im Kern um eine ästhetische Begabung handeln würde, "die vom Feldherrn wie vom Künstler verlangt wurde: die Einnahme einer Perspektive, aus der die Gesamtheit des Geschehens erfasst und damit eingeordnet werden konnte".

Hitler bildete sich ein, "den Raum mit Hilfe exakten Kartenmaterials beherrschen zu können". Weil er nicht in konventionellen Vorstellungen befangen war, ließ er sich während des Frankreich-Feldzuges "von überrumpelnden Kriegslisten" inspirieren: "Als Generalfeldmarschall Göring als ranghöchster Militär am 20. Mai 1940 der Weltöffentlichkeit verkündete, dass Hitler persönlich den genialen Angriffsplan entwickelt habe und auch die militärischen Operationen in diesem Geiste persönlich befehligte, stieß die Ausrufung zum militärischen Genie auf erheblichen Widerhall in Kreisen des Militärs wie der Bevölkerung."

Nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 herrschte Hitler unumschränkt als Außenpolitiker, operativer Führer und "Weltanschauungstäter, der mit dem Ostkrieg daranging, seine ideologischen Kernziele - Vernichtung der europäischen Juden sowie des Kommunismus - zu verwirklichen". Pyta rekonstruiert einige militärische Fehlentscheidungen Hitlers, der Ende 1941 zusätzlich den Oberbefehl über das Heer übernommen hatte, um anschließend das Stalingrad-Problem zu beleuchten, als Hitler "vom Kartentisch aus bis auf die Bataillons-Ebene hinunter Anweisungen" erteilte.

Sogar nach dem Untergang der 6. Armee gelang es Hitler, seinen Genialitätsanspruch gegenüber dem Generalstabswissen durchzusetzen - nach dem Motto: risikoreiche Operationen wagen, die nicht im Lehrbuch standen, mit der Hoffnung auf den Zufall als einzig verbliebenen Bundesgenossen. Ausgerechnet das Attentat vom 20. Juli 1944 hob Hitlers ramponiertes Ansehen: "Eine Aktion, die im Kern eine Absage an Hitlers militärischen Genieanspruch war, erwies sich nach ihrem Misserfolg als lebensverlängernde Maßnahme für dessen Feldherrnmonopol." Der körperlich immer hinfälligere Hitler hielt um jeden Preis an seiner "Haltedoktrin" fest und setzte auf "Wunderwaffen". Bis zum 27. April 1945 hoffte er, dass Wehrmachttruppen die Festung Berlin von außen entsetzen würden.

Seit 1923 hielt sich Hitler an seine Devise: "Nicht die Zahl gibt den Ausschlag, sondern der Wille." Seine "Entwurfsfreiheit" wollte er nicht durch militärisches Zahlenwerk einschränken lassen - bis er der "Flucht in die Simulation" am 30. April 1945 selbst ein Ende setzte. Bis zuletzt begleitete ihn stets ein Porträt Friedrichs des Großen, der sich ihm "als historische Berufungsinstanz gerade in Kriegszeiten anbot". Dabei blendete er aus, dass zwischen dem Siebenjährigen Krieg und dem Zweiten Weltkrieg Welten lagen. Dennoch eiferte der verhinderte Theaterarchitekt aus Braunau dem Flötenspieler von Sanssouci in der Art der Kriegführung nach. Hitler konnte "den Charismaverlust durch die Mobilisierung eines Geniekults" kompensieren, resümiert Pyta: "So blieb selbst ein Hitler, der kommunikative Abstinenz praktizierte und eine Kette militärischer Niederlagen zu verantworten hatte, bis in seine letzten Monate hinein ein Herrscher, der auf umfassende Gefolgschaftstreue bauen konnte." Den großen Manipulator überwältigte aber wohl auch die Faszination der eigenen Kulissen.

RAINER BLASIUS

Wolfram Pyta: Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. Siedler Verlag, München 2015. 846 S., 39,99 [Euro].

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