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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.08.2010

DAS HÖRBUCH
O, Nacht!
„Sich selbst ein Abscheu“:
Walter Rheiners „Kokain“
Am 12. Juni 1925 nahm sich der Dichter Walter Rheiner in einer schäbigen Absteige in der Berliner Kantstraße durch eine Überdosis Morphium das Leben. Es war ein angekündigter Tod. Seiner Mutter – er war 1895 als Walter Heinrich Schnorrenberg in Köln geboren worden – hatte er kurz zuvor geschrieben, er wolle entweder bis zum 15.6. eine Stellung finden, die ihn ernähre, oder sich „selbst die gute Ruhe des Todes“ geben. In seiner Novelle „Kokain“ erschießt sich der süchtige Tobias – besitzlos, krank, erschöpft, einsam – in echt Kleistscher Manier, so wie es sich für einen expressionistischen Helden gehört. Das bis heute immer wieder aufgelegte Werk erschien erstmals 1918, versehen mit sieben Zeichnungen Conrad Felixmüllers. Der hielt auch das Ende des Freundes im Bild fest: Auf dem Gemälde „Tod des Dichters W. Rheiner“ hat dieser, über einer Stadtlandschaft schwebend, in der linken Hand eine Kokainspritze, mit der rechten greift er in einen Gardinenschleier. Rheiner hatte 1914 versucht, sich durch Simulation einer Drogensucht dem Kriegsdienst zu entziehen. Es wurde sein Verhängnis und half wenig. Man schickte ihn an die russische Front, wo er dann wegen Drogenkonsums verhaftet wurde. Später suspendierte man ihn als untauglich. In seinem Werk – Gedichte, die Novelle „Kokain“, Prosaskizzen – findet man die expressionistischen Lieblingsmotive versammelt: Sturz, Schrei, Aufruhr und Empörung, Großstadtrausch und Verruchtheit.
Das Hörbuch der Edition Apollon setzt dem unglücklichen, jung verstorbenen Dichter ein Denkmal, wie man es sich schöner kaum hätte wünschen können. Zur Einführung dient eine ausführliche Biographie, nebst Gedichten und Briefen – großartig gelesen von Marc Bator und Ulrich Tukur. Die Gedichtrezitationen von Helmut Krauss treffen das jugendlich Ungestüme dieser Aufschwungs- und Untergangspoesie nicht ganz, aber wie er „Kokain“ liest, dem Stimmungswechsel und der psychotischen Weltverengung, der Angst und der Nüchternheit gleichermaßen Stimme verleiht, das wird man so schnell nicht vergessen – auch dank des Klangteppichs von Ingo Tito. Hier nervt die Musik einmal nicht, sondern dient dem Text. Sie erzeugt und verstärkt das Grundgefühl, der Welt abhanden gekommen zu sein.
Als „letztes Gedicht“ firmiert dieses: „Komm, holder Schnee! Verschütte dies schwere Herz! / Mit deiner Gnade zaubre die Träne starr, / so aus der ewigen Quelle rinnet, / täglich geboren, geliebt noch immer. / O gib, daß mir aus dieser verlorenen Qual, / der bittern, werde das große, das ernste Grab, / darin ich mich zur Ruhe finde: / weinende, liebend erlöste Seele.“ Nicht nur in diesen Versen, in jeder Zeile Rheiners erklingt eine uns ganz fremd gewordene Erlösungssehnsucht.
JENS BISKY
WALTER RHEINER: Kokain. Biographie, Lyrik, Prosa, Briefe. Gelesen von Helmut Krauss, Marc Bator, Ulrich Tukur und Isabella Lewandowski. Edition Apollon, Königs Wusterhausen 2010. 2 CDs, 127 Min, 17,99 Euro.
„Nacht hing groß in
den Bäumen der Allee und tropfte
auf seine Schultern nieder  . . . “ 
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