Die Ära der Postpolitik ist vorbei
Dass die Politik wieder da ist, dass Debatten um Corona oder »Wokeness« längst über Twitter hinausgeschwappt sind, wird bestätigen, wer im Privaten heftige Streite erlebt. Nach einer Ära der Postpolitik, in der technokratisch verwaltet wurde, während die Bürger dies höchstens vom Sofa aus kommentierten, stehen wir vor einem allgegenwärtigen Zittern und Beben.
Anton Jäger hat dafür den Begriff »Hyperpolitik« geprägt. Zugleich stellt er fest, dass Aufregungswellen sich selten in kollektives Handeln übersetzen: Die Politisierung hat kaum politische Folgen. Dies, so Jäger in seinem Durchgang durch 150 Jahre Demokratiegeschichte, ist die Folge einer von digitaler Einsamkeit geprägten Situation, in der die Menschen nicht länger über Massenorganisationen am politischen Prozess beteiligt sind.
Dass die Politik wieder da ist, dass Debatten um Corona oder »Wokeness« längst über Twitter hinausgeschwappt sind, wird bestätigen, wer im Privaten heftige Streite erlebt. Nach einer Ära der Postpolitik, in der technokratisch verwaltet wurde, während die Bürger dies höchstens vom Sofa aus kommentierten, stehen wir vor einem allgegenwärtigen Zittern und Beben.
Anton Jäger hat dafür den Begriff »Hyperpolitik« geprägt. Zugleich stellt er fest, dass Aufregungswellen sich selten in kollektives Handeln übersetzen: Die Politisierung hat kaum politische Folgen. Dies, so Jäger in seinem Durchgang durch 150 Jahre Demokratiegeschichte, ist die Folge einer von digitaler Einsamkeit geprägten Situation, in der die Menschen nicht länger über Massenorganisationen am politischen Prozess beteiligt sind.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Wir leben in einem Zeitalter der Hyperpolitik, lernt Rezensent Robert Misik bei der Lektüre dieses Buches von Historiker Anton Jäger: Recht begriffslastig macht er klar, dass in diesen Zeiten alles politisiert wird, ohne, dass jedoch Taten daraus folgen. Jägers Hauptthese sei, dass es zwar starke Meinungen gibt, diese aber nicht zu wirklichem Engagement oder gar zu politischem Wandel führen. Auch Aktivismus bleibe in der heutigen Form oft wirkungslos, liest Misik. Nur mit "echter Politik" kann man den Krisen begegnen, gibt der Kritiker Jägers Position wieder. Inspirieren lässt sich der Autor dabei von den "Sozialisten des Roten Wien", erwähnt Misik zum Schluss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2023Ein paar Stunden Kulturkampf sind dann auch genug
Unkontrollierte Zuckungen: Anton Jäger fragt, warum die andauernde Mobilisierung politischer Kräfte keine langfristigen Folgen zeitigt
Die Grundbeobachtungen, denen der Ideenhistoriker Anton Jäger in seinem Essay "Hyperpolitik" nachgeht, sind zunächst wenig überraschend: Die Demokratien sind in der Krise, die sozialen Medien sind mächtig, die Gesellschaften sind politisiert. Neu ist aber die Frage, wieso diese gewaltige Mobilisierung politischer Kräfte keine ebenso gewaltigen politischen Folgen zeitigt. Wieso, um es kurz zu sagen, haben die Occupy-Proteste nach der Weltwirtschaftskrise, dem Aufstieg des Rechtspopulismus und seinem Pendant, der Allgegenwart des Antipopulismus, der Black-Lives-Matter-Proteste, der identitätspolitischen Skandale, Fridays-for-Future und vielem anderen zwar hohe Wellen geschlagen, aber keine andauernde Flut verursacht?
Der Begriff, der diese Aporie erklären soll, lautet "Hyperpolitik". Für Jäger der Name derjenigen Konstellation, die auf die organisierte Massendemokratie des späten neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts folgt und inzwischen die postpolitischen Zustände der 1990er- und 2000er-Jahre abgelöst hat: Waren die westlichen Gesellschaften zunächst von einer Vielzahl intermediärer Institutionen durchzogen - "Familiäre Bindungen spielten eine große Rolle; Menschen gingen regelmäßig in die Kirche, sie waren Mitglieder in Vereinen, aber auch in Gewerkschaften und Parteien" - und entlang dieser Linien auch politisiert, hat sich mit dem Fall der Mauer zunächst eine "weitgehende Entpolitisierung" ergeben. "Die Bürger zogen sich ins Private zurück" und freuten sich über ihre "Entlassung aus den ideologischen Kirchen des 20. Jahrhunderts". Sie richteten sich in dem ein, was etwa Joachim Fest 1991 hoffnungsvoll als Antithese aller Totalitarismen bezeichnete: eine Welt nur noch "privater Mythen", in der sich die Menschen politisch "mit einer Praxis abfinden, die nicht mehr Sinnfragen zu beantworten sucht".
Was aber, wenn die Politik wieder "ins Private, in die Kultur, ja sogar in die Ökonomie" eindringt, so Jägers Beschreibung der neuen, "hyperpolitischen" Situation, aber Organisationen und Kanäle fehlen, diese Energie in dauerhaftes kollektives Handeln umzuwandeln? Ausgehend von der älteren Diagnose des Soziologen Robert Putnam ("Bowling Alone"), wonach das amerikanische Sozialkapital immer weiter schrumpft, während das Geldkapital wächst, beschreibt Jäger den allgemeinen Schwund von Parteimitgliedschaften, Kirchenbesuchen und Gewerkschaftsorganisation der vergangenen vierzig Jahre. Konnte etwa 1991 der Deutsche Gewerkschaftsbund noch zwölf Millionen Mitglieder verzeichnen, sind es heute gerade einmal noch gute fünf Millionen - trotz allgemeinem Bevölkerungswachstum und einer höheren Zahl Erwerbstätiger.
Anstelle dieser gesellschaftlichen Großorganisationen, die sich durch Mitgliederlisten und -beiträge, regelmäßige Treffen, eigene Informationskanäle und Entscheidungsmechanismen, Führung und Hierarchien auszeichnen, kommen heute andere Formen der Politisierung ins Spiel: Formen mit "niedrigem Aufwand, niedrigen Kosten, niedrigen Exit-Schranken und kurzen Zeitspannen". Man denke etwa an "Episoden des Kulturkampfs", die "einige Tage oder auch nur Stunden die sozialen Medien" beherrschen, um bald vom nächsten Skandal abgelöst zu werden. Oder an die Klimastreiks, die von Schweden bis Osttimor den Schulalltag lahmlegten, doch inzwischen von Extinction Rebellion und der Letzten Generation abgelöst wurden.
Die hyperpolitische Mobilisierung ähnelt nicht zufällig sozialen Medien und Finanzmärkten "mit ihren notorisch kurzen Zyklen" und "unkontrollierbaren Zuckungen und Kontraktionen" - ohne feste Strukturen auszubilden: "Hyperpolitik" ist nicht mehr das langsame Bohren harter Bretter, das Max Weber einmal beschrieben hat, sondern gleicht für Jäger eher dem "Durchschneiden eines Stücks Styropor mit einem Laser".
Prägnante Bilder wie dieses machen das Buch lesenswert. Der Titel fordert dazu auf, sich dem neuen Phänomen mit vollem Ernst zu widmen. Umso ernüchternder ist, dass der Autor die Chance nicht genutzt hat, den Implikationen seines Gedankens ausdauernder nachzugehen. Immerhin handelt es sich um einen Text, von dem Teile und Varianten bereits seit Anfang 2022 in englischsprachigen und deutschen Zeitschriften zirkulieren. Das Buch hätte es erlaubt, umfassender zu fragen, wohin jene "Repolitisierung bei fortdauernder Deinstitutionalisierung" führen mag - und welche Lösungen sich auftun könnten.
Mindestens einen historischen Vergleichsfall gäbe es ja: Noch bevor sich im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die Arbeiterbewegung formierte, griff insbesondere in Deutschland und Frankreich eine allgemeine Sorge vor der Atomisierung der bürgerlichen Gesellschaft um sich. Mit der Abschaffung der Zünfte und der Herausbildung großer Fabriken, so damals die allgemeine Überzeugung von rechts bis links, war die Masse desorganisiert und aller ökonomischen Solidarität und geteilter Lebensformen beraubt worden. Ohne solche intermediären Institutionen aber "steht der Staat in der Luft", wie es schon 1820 bei Hegel heißt. Nur sie sind in der Lage, die riesige Kluft zu schließen, die sich zwischen den besonderen Wünschen und Erlebnissen der Einzelnen und den großen Aufgaben und Erfordernissen des Staates auftut.
In dieser Situation war die Entscheidungsmacht hoher Verwaltungsbeamter (weil sie die Einzigen sind, die sich nachhaltig dem Staatsinteresse zuwenden) in der Regel besonders stark ausgeprägt, die Parlamentsmehrheiten waren im Allgemeinen volatiler, und die Kabinettsposten mussten häufiger neu besetzt werden, die öffentliche Meinung war erratischer, als solche aber auch einflussreich; Anlass zu Aufruhr gab es genug, aber nur selten verstetigte er sich in einer politischen Bewegung. Das aufblühende utopische Verlangen stand im Gegensatz zu einer um sich greifenden Unprognostizierbarkeit der Zukunft.
Wer heute vor dieser Möglichkeit zurückschreckt, mag danach fragen, wie diese Form der Vergesellschaftung schließlich schlagkräftige und dauernde Massenorganisationen aus sich hervorbrachte - und, wie der Autor, sich auch für das 21. Jahrhundert einen frischen "Geist der Assoziation" erhoffen. Wer hingegen diese Hoffnung für unbegründet hält, der tut gut daran, dieses Buch nur als eine Einführung zu betrachten, um die Bewegungsgesetze hyperpolitischer Zustände zukünftig genauer zu studieren. Denn so atomisiert die politische Welt auch sein mag: Auch Atome folgen glücklicherweise Gesetzen. OLIVER WEBER
Anton Jäger: "Hyperpolitik". Extreme Politisierung ohne politische Folgen.
Aus dem Englischen von Daniela Janser, Thomas Zimmermann und Heinrich Geiselberger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 136 S., br., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unkontrollierte Zuckungen: Anton Jäger fragt, warum die andauernde Mobilisierung politischer Kräfte keine langfristigen Folgen zeitigt
Die Grundbeobachtungen, denen der Ideenhistoriker Anton Jäger in seinem Essay "Hyperpolitik" nachgeht, sind zunächst wenig überraschend: Die Demokratien sind in der Krise, die sozialen Medien sind mächtig, die Gesellschaften sind politisiert. Neu ist aber die Frage, wieso diese gewaltige Mobilisierung politischer Kräfte keine ebenso gewaltigen politischen Folgen zeitigt. Wieso, um es kurz zu sagen, haben die Occupy-Proteste nach der Weltwirtschaftskrise, dem Aufstieg des Rechtspopulismus und seinem Pendant, der Allgegenwart des Antipopulismus, der Black-Lives-Matter-Proteste, der identitätspolitischen Skandale, Fridays-for-Future und vielem anderen zwar hohe Wellen geschlagen, aber keine andauernde Flut verursacht?
Der Begriff, der diese Aporie erklären soll, lautet "Hyperpolitik". Für Jäger der Name derjenigen Konstellation, die auf die organisierte Massendemokratie des späten neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts folgt und inzwischen die postpolitischen Zustände der 1990er- und 2000er-Jahre abgelöst hat: Waren die westlichen Gesellschaften zunächst von einer Vielzahl intermediärer Institutionen durchzogen - "Familiäre Bindungen spielten eine große Rolle; Menschen gingen regelmäßig in die Kirche, sie waren Mitglieder in Vereinen, aber auch in Gewerkschaften und Parteien" - und entlang dieser Linien auch politisiert, hat sich mit dem Fall der Mauer zunächst eine "weitgehende Entpolitisierung" ergeben. "Die Bürger zogen sich ins Private zurück" und freuten sich über ihre "Entlassung aus den ideologischen Kirchen des 20. Jahrhunderts". Sie richteten sich in dem ein, was etwa Joachim Fest 1991 hoffnungsvoll als Antithese aller Totalitarismen bezeichnete: eine Welt nur noch "privater Mythen", in der sich die Menschen politisch "mit einer Praxis abfinden, die nicht mehr Sinnfragen zu beantworten sucht".
Was aber, wenn die Politik wieder "ins Private, in die Kultur, ja sogar in die Ökonomie" eindringt, so Jägers Beschreibung der neuen, "hyperpolitischen" Situation, aber Organisationen und Kanäle fehlen, diese Energie in dauerhaftes kollektives Handeln umzuwandeln? Ausgehend von der älteren Diagnose des Soziologen Robert Putnam ("Bowling Alone"), wonach das amerikanische Sozialkapital immer weiter schrumpft, während das Geldkapital wächst, beschreibt Jäger den allgemeinen Schwund von Parteimitgliedschaften, Kirchenbesuchen und Gewerkschaftsorganisation der vergangenen vierzig Jahre. Konnte etwa 1991 der Deutsche Gewerkschaftsbund noch zwölf Millionen Mitglieder verzeichnen, sind es heute gerade einmal noch gute fünf Millionen - trotz allgemeinem Bevölkerungswachstum und einer höheren Zahl Erwerbstätiger.
Anstelle dieser gesellschaftlichen Großorganisationen, die sich durch Mitgliederlisten und -beiträge, regelmäßige Treffen, eigene Informationskanäle und Entscheidungsmechanismen, Führung und Hierarchien auszeichnen, kommen heute andere Formen der Politisierung ins Spiel: Formen mit "niedrigem Aufwand, niedrigen Kosten, niedrigen Exit-Schranken und kurzen Zeitspannen". Man denke etwa an "Episoden des Kulturkampfs", die "einige Tage oder auch nur Stunden die sozialen Medien" beherrschen, um bald vom nächsten Skandal abgelöst zu werden. Oder an die Klimastreiks, die von Schweden bis Osttimor den Schulalltag lahmlegten, doch inzwischen von Extinction Rebellion und der Letzten Generation abgelöst wurden.
Die hyperpolitische Mobilisierung ähnelt nicht zufällig sozialen Medien und Finanzmärkten "mit ihren notorisch kurzen Zyklen" und "unkontrollierbaren Zuckungen und Kontraktionen" - ohne feste Strukturen auszubilden: "Hyperpolitik" ist nicht mehr das langsame Bohren harter Bretter, das Max Weber einmal beschrieben hat, sondern gleicht für Jäger eher dem "Durchschneiden eines Stücks Styropor mit einem Laser".
Prägnante Bilder wie dieses machen das Buch lesenswert. Der Titel fordert dazu auf, sich dem neuen Phänomen mit vollem Ernst zu widmen. Umso ernüchternder ist, dass der Autor die Chance nicht genutzt hat, den Implikationen seines Gedankens ausdauernder nachzugehen. Immerhin handelt es sich um einen Text, von dem Teile und Varianten bereits seit Anfang 2022 in englischsprachigen und deutschen Zeitschriften zirkulieren. Das Buch hätte es erlaubt, umfassender zu fragen, wohin jene "Repolitisierung bei fortdauernder Deinstitutionalisierung" führen mag - und welche Lösungen sich auftun könnten.
Mindestens einen historischen Vergleichsfall gäbe es ja: Noch bevor sich im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die Arbeiterbewegung formierte, griff insbesondere in Deutschland und Frankreich eine allgemeine Sorge vor der Atomisierung der bürgerlichen Gesellschaft um sich. Mit der Abschaffung der Zünfte und der Herausbildung großer Fabriken, so damals die allgemeine Überzeugung von rechts bis links, war die Masse desorganisiert und aller ökonomischen Solidarität und geteilter Lebensformen beraubt worden. Ohne solche intermediären Institutionen aber "steht der Staat in der Luft", wie es schon 1820 bei Hegel heißt. Nur sie sind in der Lage, die riesige Kluft zu schließen, die sich zwischen den besonderen Wünschen und Erlebnissen der Einzelnen und den großen Aufgaben und Erfordernissen des Staates auftut.
In dieser Situation war die Entscheidungsmacht hoher Verwaltungsbeamter (weil sie die Einzigen sind, die sich nachhaltig dem Staatsinteresse zuwenden) in der Regel besonders stark ausgeprägt, die Parlamentsmehrheiten waren im Allgemeinen volatiler, und die Kabinettsposten mussten häufiger neu besetzt werden, die öffentliche Meinung war erratischer, als solche aber auch einflussreich; Anlass zu Aufruhr gab es genug, aber nur selten verstetigte er sich in einer politischen Bewegung. Das aufblühende utopische Verlangen stand im Gegensatz zu einer um sich greifenden Unprognostizierbarkeit der Zukunft.
Wer heute vor dieser Möglichkeit zurückschreckt, mag danach fragen, wie diese Form der Vergesellschaftung schließlich schlagkräftige und dauernde Massenorganisationen aus sich hervorbrachte - und, wie der Autor, sich auch für das 21. Jahrhundert einen frischen "Geist der Assoziation" erhoffen. Wer hingegen diese Hoffnung für unbegründet hält, der tut gut daran, dieses Buch nur als eine Einführung zu betrachten, um die Bewegungsgesetze hyperpolitischer Zustände zukünftig genauer zu studieren. Denn so atomisiert die politische Welt auch sein mag: Auch Atome folgen glücklicherweise Gesetzen. OLIVER WEBER
Anton Jäger: "Hyperpolitik". Extreme Politisierung ohne politische Folgen.
Aus dem Englischen von Daniela Janser, Thomas Zimmermann und Heinrich Geiselberger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 136 S., br., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Alles will politisch sein, und doch verpufft aller Aktivismus. Dieses Buch erklärt, warum.« Marc Reichwein WELT AM SONNTAG 20231203