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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2002

Rom, Reich und Rasiermesser
Stefan Rebenich bringt das Leben des Gelehrten, Geschichtsschreibers, Organisators und Politikers Theodor Mommsen in Form
Am 11.Mai1885 schrieb Theodor Mommsen an seine Frau: „Auf meinem Grabe soll weder ein Bild noch ein Wort, nicht einmal mein Name stehen, denn ich will von dieser Nation ohne Rückgrat persönlich so bald wie möglich vergessen sein und betrachte es nicht als Ehre in ihrem Gedächtnis zu bleiben.” Die „Nation ohne Rückgrat” hat ihm diesen Wunsch nicht erfüllt. Der hervorragende Gelehrte, der klassische Geschichtsschreiber, der als erster Deutscher im Jahre 1902 mit den Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, der innovative Wissenschaftsorganisator und der passionierte Politiker ist noch immer präsent.
Mit seinen Biografien hatte Mommsen bisher freilich wenig Glück. Die erste „biografische Skizze”, die sein Schüler, der österreichische Sozialdemokrat Ludo Moritz Hartmann schon fünf Jahre nach Mommsens Tod veröffentlichte, versuchte insbesondere dem Politiker Mommsen gerecht zu werden, von dem deshalb auch „Ausgewählte Politische Aufsätze” erneut publiziert wurden.
Die 1956 erschienene Monografie von Alfred Heuß „Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert” war sehr viel anspruchsvoller. Durch seine Nähe zum Römischen Recht, seine Neigung zu Abstraktion, Sarkasmus und bitterer Polemik erschien Heuß als kongenialer Autor für seine schwierige Aufgabe. Das hohe Niveau des Werkes wurde allgemein anerkannt; es litt freilich daran, dass es die archivalischen Materialien nicht ausführlich genug heranziehen konnte.
Die breit angelegte, vierbändige Mommsen-Biografie von Lothar Wickert (1959 bis 1980) erstickte dagegen in ihren vielerlei Quellen und konnte – nach einer vernichtenden Kritik von Heuß an den ersten Bänden – Mommsens jahrzehntelanges Berliner Wirken nur noch unter ein dürftiges Notdach bringen.
Gigant der Großwissenschaft
In dem Mannheimer Althistoriker Stefan Rebenich, dem – neben Alexander Demandt – derzeit wohl besten deutschen Mommsenspezialisten mit internationaler Reputation, fand Mommsen endlich einen, wie er selbst, passionierten Gestalter. Souverän werden in Rebenichs Biografie zunächst Herkunft und Werdegang Mommsens besprochen, auch sein anfängliches Schwanken zwischen Jurisprudenz und Geschichte, das für ihn konstitutiv bleiben sollte. Es ist erfreulich, dass neben dem Vater, dem Pfarrer Jens Mommsen, der dem Sohn Bildung und Arbeitsethos vermittelte, schon früh auch die Förderung durch den nur vier Jahre älteren klassischen Philologen Otto Jahn berücksichtigt werden.
Erste Höhepunkte der Darstellung bilden dann Mommsens politisches Engagement als Journalist im Jahre 1848 in Schleswig-Holstein sowie seine Mitwirkung an den revolutionären Vorgängen in Leipzig 1848/49, die ein Jahr später zu seiner Verurteilung zu neun Monaten Gefängnis und zum Verlust seiner Professur führten. Die Strafe wurde freilich bald erlassen. Das Leben als „kleiner Flüchtling” und Professor für Römisches Recht in Zürich, vor allem jedoch die Arbeit an den ersten Bänden der „Römischen Geschichte” schlossen sich an, dem Werk, dem Rebenich eine besonders eingehende Analyse widmet.
Zu Recht wird betont, dass die einst provozierende Darstellung, die allein zu Mommsens Lebzeiten neun Auflagen erlebte, zu einem „Welterfolg” geworden ist. Dabei ging es Mommsen neben der Vermittlung römischer Geschichte vor allem darum, die „sittlich-politische Tendenz” der Bände mit Hilfe eines „modernen Tons” durchzusetzen, „die Alten... in die reale Welt zu versetzen”, in erster Linie aber ein Instrument politischer Pädagogik zu schaffen.
Rücksichten auf neuhumanistische Ideale kannte Mommsen nicht. Cicero, das Idol der Gymnasiallehrer, wurde deshalb deklassiert. Er war nach Mommsen ein „politischer Achselträger”, „in der Tat so durchaus Pfuscher, dass es ziemlich einerlei war, welchen Acker er pflügte. Eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes ... Cicero hatte keine Überzeugung und keine Leidenschaft” – für Mommsen der schwerste Vorwurf. Sein Heros hieß Caesar.
Nach einer Skizze von Mommsens Weg aus Zürich über Breslau nach Berlin wendet sich Rebenich ausführlich den rechtshistorischen, philologischen und historischen Werken des Wissenschaftlers zu. In dem Gesamtüberblick über die Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten wird insbesondere die Bedeutung der von Mommsen geschaffenen rechtshistorischen Grundlagenwerke gewürdigt: des monumentalen, dreibändigen „Römischen Staatsrechts” (1871–88) und des „Römischen Strafrechts”, das noch der 82jährige im Jahr 1899 publizieren konnte. Doch auch seine vielfältigen Einzelforschungen wie seine Editionen kommen zu ihrem Recht.
Aber auch die Defizite von Mommsens Wirken werden nicht beschönigt, seine enttäuschende Lehrtätigkeit kritisch beleuchtet. Mommsen selbst empfand sein vierstündiges Kolleg stets als Last. Sein dünnes Stimmchen verhinderte jede rhetorische Wirkung; die zweistündigen, gut vorbereiteten Übungen standen dagegen auf höherem Niveau. Sie lebten von der Kritik des „Rasiermessers”, wie die Studenten Mommsen bezeichneten.
Besonders ertragreich ist Rebenichs Würdigung des Wissenschaftsorganisators Theodor Mommsen, ein Aktivitätsbereich, der nur selten adäquat anerkannt wird. Mommsen stand am Übergang von der Individual- zur Großforschung. In seiner Erwiderung auf Harnacks Antrittsrede in der Preussischen Akademie der Wissenschaften erklärte er 1890 programmatisch: „Auch die Wissenschaft hat ihr soziales Problem; wie der Großstaat und die Großindustrie, so ist die Großwissenschaft, die nicht von Einem geleistet, aber von Einem geleitet wird, ein notwendiges Element unserer Kulturentwicklung, und deren rechte Träger sind die Akademien oder sollten es sein.”
Er selbst hat diese Großforschung im Sektor der Altertumswissenschaften entscheidend stimuliert. Die monumentale Sammlung aller lateinischen Inschriften, die er persönlich leitete, die dreibändige Edition der Daten der Führungsgeschichte des Imperiums, die Collection der Griechischen christlichen Schriftsteller, das Corpus Nummorum, das umfassende Stempelcorpus der griechischen Numismatik, sind nur die wichtigsten Initiativen auf diesem Felde. Daneben stand seine Mitwirkung im Deutschen Archäologischen Institut, den Monumenta Germaniae historica, der Reichslimeskommission und vieles andere mehr – eine kaum vorstellbare Arbeitsleistung.
Bei all dem stand Mommsen in engem Kontakt mit dem späteren preußischen Ministerialdirektor Friedrich Althoff, der seit 1882 souverän die staatliche Wissenschafts- und Kulturpolitik leitete. Für Althoff wurde Mommsen einer der wichtigsten Ratgeber und Gutachter; Mommsen seinerseits nutzte trotz aller Kritik am obrigkeitsstaatlichen und autokratischen Regiment des „Systems Althoff” doch auch immer wieder die Einflussmöglichkeiten, die sich ihm hier boten, nicht zuletzt zur beruflichen Förderung seiner Schüler und Freunde.
Rebenich hat Mommsens hochschulpolitisches Wirken in eine Übersicht über die Gesamtentwicklung der deutschen Universitäten während des 19. Jahrhunderts eingeordnet. Mommsens Tätigkeit als Dekan der Philosophischen Fakultät (1871/72) und als Rektor der Berliner Universität (1874/75) finden dabei weniger Beachtung als ein exponierter Kampf für die akademische Freiheit und die Autonomie der Hochschulen.
Die ebenso ausführliche wie ausgewogene Darstellung des Politikers Mommen dominiert im Schlussteil. Tatsächlich durchzog die politische Passion des alten Achtundvierzigers sein ganzes Leben. Mommsen stand lange auf dem linken Flügel der Nationalliberalen, diente seinem Land 1873–1879 als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, 1881–1884 als Reichstagsabgeordneter, wurde in dieser Funktion 1882 von Bismarck mit einem Beleidigungsprozess überzogen. Geradezu fanatisch kämpfte er gegen „Junkertum” und „Kaplanokratie”, trat zuletzt für ein Bündnis zwischen Liberalen und Sozialdemokraten ein. Er war damals der Ansicht, dass „mit einem Kopf wie Bebel ein Dutzend ostelbischer Junker so ausgestattet werden könnten, dass sie unter ihresgleichen glänzen würden.”Dem „Menschen” Mommsen gilt der letzte Aspekt der Biografie. Rebenich zeichnet ein verständnisvolles Bild von Mommsens Persönlichkeit, den Beziehungen zu seiner Frau und den 16 Kindern, seinem Lebensstil und seiner „innerweltlichen Askese” wie des gesellschaftlichen Lebens, an dem er teilnahm. Am Ende schildert er Mommsens bittere letzte Jahre, Schwermut, Einsamkeit und Tod.
Die konzentrierten kritischen Anmerkungen der Anlage belegen einmal mehr die bibliografischen Kenntnisse des Autors und die Basis dieser Biografie. In Kürze werden sich die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Mommsen und sein Todestag (1.November1903) zum hundertsten Mal jähren. Während die Symposien und Reden vorbereitet werden, um Mommsen zu feiern, wäre es ein nobile officium der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Mommsens zerstreuten Nachlass und Briefwechsel zu erschließen. Was in Basel für Burckhardt richtig war, gilt auch für Mommsen in Berlin.
KARL CHRIST
STEFAN REBENICH: Theodor Mommsen. Eine Biografie. Verlag C. H. Beck, München 2002. 272 Seiten, 26,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.1998

Meergreis, ich dich grüße
Mommsen, Harnack & Co.: Aus der Chefetage einer Denkfabrik

Auf dem Totenbett hatte Theodor Mommsen gewünscht, daß Adolf Harnack seine Grabrede halten solle. Der prominente Prediger wählte einen Vers aus dem Johannesevangelium über die Bestimmung des Menschen, "daß er Frucht bringt und seine Frucht bleibe". In der Auslegung des Textes konnte Harnack die wissenschaftlichen Werke des "Führers der deutschen Geschichtswissenschaft" preisen und das umstrittene politische Engagement des kämpferischen Bürgers würdigen. Der Trauergemeinde beschrieb er Mommsen als einen schwierigen, widersprüchlichen Menschen, der äußerst schroff und verletzend, aber auch unendlich sensibel und zärtlich habe sein können: "Lag doch im Grunde seiner Seele ein Bedürfnis nach Liebe und Freundschaft, wie ich es so tief, so weich und so stark niemals geschaut habe. Die unter dieser warmen Sonne gestanden haben, wissen es, mit welcher Kraft und mit welchem Zartsinn er ein Freund war. Hier erst war dieser lebendigste Geist ganz er selbst. Dieser Verkehr von Herz zu Herz und von Mund zu Mund, er war das Element seines Lebens."

Der Prediger wußte, wovon er sprach. Schon bald nach seiner 1888 erfolgten Berufung an die Berliner Universität war er dem vierunddreißig Jahre älteren berühmten Althistoriker vorgestellt worden. Der durch seine Herkunft aus einem Pfarrhaus traumatisierte Theodor Mommsen blieb zunächst reserviert, hielt er die christliche Religion doch für einen Köhlerglauben und die Theologen für Ignoranten. Schon bald erkannte er aber die hohe geschichtswissenschaftliche Kompetenz und das außergewöhnliche Organisationstalent des jungen Kirchenhistorikers. Seit 1892 bezeichnete er ihn als seinen "werten Freund". Er nutzte seinen großen Einfluß, um Harnack in der Preußischen Akademie der Wissenschaften eine Schlüsselstellung bei der Planung und Durchführung geisteswissenschaftlicher Großunternehmen zu verschaffen. Für seine Publikationen nahm er gern die "doctrina und sagacitas" des Patristikers in Anspruch. Umgekehrt bereitete es ihm Freude, die Druckfahnen von Harnacks 1902 erschienener Monographie über "Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten" mit Verbesserungsvorschlägen zu versehen. Der alte Mommsen sah in Harnack den wichtigsten Garanten für den Ausbau der Vormachtstellung Deutschlands in den historischen Kulturwissenschaften. Diese Kronprinzenrolle trug Harnack in Universität und Akademie viel Feindschaft ein. Besonders gekränkt war Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, der unter der Distanz seines autoritären Schwiegervaters litt und vergeblich versuchte, in der Akademie dessen geschicktes Zusammenspiel mit Harnack zu vereiteln.

Stefan Rebenich hat in seiner Mannheimer althistorischen Habilitationsschrift nun den fragmentarisch erhaltenen Briefwechsel der beiden Gelehrten ediert und ausgewertet. Insgesamt sind 232 Briefe überliefert. Hinzu kommen ein Brief Harnacks an Marie Mommsen, zwei Briefe Amalie Harnacks an Theodor Mommsen sowie ein 1923 geschriebener Brief des Mommsen-Sohnes Ernst. Rebenichs philologische Leistung verdient höchsten Respekt. Mommsens Handschrift läßt sich nur unter größten Anstrengungen entziffern. Harnack hatte zwar eine feine, schnurgerade Handschrift, entwickelte in seiner permanenten Rastlosigkeit aber ein System von Kürzeln, dessen Entschlüsselung großen Scharfsinn verlangt. Beide Aufgaben hat der Herausgeber überzeugend gelöst. Alle Briefe sind präzise, bisweilen zu präzise kommentiert. Störend wirken auch kleinere Druckfehler, etwa die falsche Schreibweise des Namens von Karl Lamprecht.

Kärrnerarbeit für alle

424 Seiten Quellen und Kommentar stehen 573 Seiten Interpretation gegenüber. Rebenich beschreibt zunächst die wissenschaftspolitischen Aktivitäten der machtbewußten Gelehrten. Gemeinsam zog man im Hintergrund die Fäden, um mit teils staatlichen, teils von privaten Mäzenen stammenden Mitteln Editionsprojekte auf den Weg zu bringen. Man stellte ein Heer selbstloser Mitarbeiter ein und entwickelte Strategien, um junge Gelehrte durch harte philologische Kleinarbeit auf ihre Tauglichkeit für eine akademische Laufbahn zu prüfen. Harnack war fasziniert von Mommens Arbeitsethos und sah in der genauen Kontrolle von Doktoranden ein Vorbild für die Organisation des historischen Großbetriebs. Umgekehrt war Mommsen von der Entschlossenheit beeindruckt, mit der Harnack die protestantische Theologie in eine rein historisch verfahrende Kulturwissenschaft des Christentums umformen wollte. Beide gewannen Arbeitszeit durch einen festen Tagesrhythmus, beantworteten die zahlreichen an sie gerichteten Briefe innerhalb zweier Tage und lasen wichtige Neuerscheinungen frühmorgens im Bett, um durch schnell erscheinende Rezensionen das Urteil der Fachgenossen zu präjudizieren.

Als positivistische Fachmenschen betrieben sie philologische und prosopographische Spezialforschung. Zugleich suchten sie die Fülle neuen Wissens in sprachlich glänzenden Synthesen darzustellen. Besessene Hingabe ans Detail und großer Wurf waren eng verknüpft. "Der König" im Reich des Geistes müsse, wie Harnack Mommsen schrieb, "sein eigener Kärrner sein, wenn er königlich bauen will". Die Entäußerung an die Sache gewann religiöse Züge. "Arbeiten haben Sie uns gelehrt, im wörtlichen Sinn und im höhern: Sie haben uns gelehrt, das Leben durch Arbeit zu steigern, und, wo es nötig, durch Arbeit zu bekämpfen", erklärte Harnack zum goldenen Ordinariatsjubiläum des Nobelpreisträgers Mommsen.

Das Zusammenwirken in der Akademie verdeutlicht Rebenich an der gemeinsam geplanten, wesentlich von Harnack geleiteten "Kirchenväterkommission", die die "Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte" kritisch edieren sollte. Zwar gelang es Mommsen nicht, Harnack zu seinem Nachfolger als Sekretär der historisch-philologischen Klasse wählen zu lassen. Die Majorität der Philologen wollte in diesem Amt keinen Theologen sehen. Religionswissenschaftlich arbeitende Gelehrte wie Julius Wellhausen und Hermann Usener konnten Harnack später auch peinliche philologische Flüchtigkeitsfehler nachweisen. Wilamowitz spottete, daß der Theologe "mehr für die Fixigkeit als für die Richtigkeit" gut sei. Den Aufstieg Harnacks zum Repräsentanten des deutschen Wissenschaftssystems und Ratgeber des Kaisers konnten die Philologen durch Textkritik aber nicht verhindern. 1896 erhielt Harnack den Auftrag, zum zweihundertjährigen Jubiläum die Geschichte der Akademie zu schreiben. Das Manuskript lag pünktlich, im Mai 1899, vor. Vor einer internationalen akademischen Öffentlichkeit und in Anwesenheit des Kaisers hielt der Theologe bei der Jubiläumsfeier 1900 die Festrede. Seinem kulturidealistischen Credo entsprach es, durch Geschichtsschreibung Normen für die Gegenwart zu gewinnen. So erhob der zum Historiker der Akademie avancierte Theologe den Anspruch, die aktuellen Ziele deutscher Wissenschaftspolitiker zu bestimmen.

Einsam wurde nur einer

In Universität, Akademie und wissenschaftlicher Öffentlichkeit übernahm Harnack seit der Jahrhundertwende weithin Mommsens Rolle. Doch politisch verweigerte er dem Älteren die Gefolgschaft. Mommsen war durch die Achtundvierziger-Erhebung in Schleswig-Holstein geprägt worden. Er verstand sich als ein parteilicher "politischer Professor", der gegen die Herrschenden für bürgerliche Freiheit eintrat. Im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag kämpfte er für die Fortschrittspartei und später für die Nationalliberalen gegen Bismarck. Der zornige Bekenntnisliberale wurde seit den neunziger Jahren politisch immer einsamer und hatte nach Ludwig Bambergers Tod 1899 keine bedeutenden Mitstreiter mehr.

Harnack hingegen konnte seinen politischen Einfluß seit der Jahrhundertwende konsequent ausweiten. Als Präsident des Evangelisch-sozialen Kongresses wollte er die Regierenden durch wissenschaftliche Reflexion sozialpolitisch beraten, ohne Partei zu ergreifen. Niemals trat er in eine Partei ein. Die Vorstellung, ins Parlament zu gehen, lag ihm fern. Zu Recht schildert Rebenich ihn als einen gouvernementalen Gelehrtenpolitiker, der ein überparteiliches, konsensorientiertes Wächteramt wahrzunehmen suchte. Die Freiheit der Wissenschaft sah Harnack weniger durch den Staat als durch einen von den Parteien und Verbänden ausgehenden Politisierungsdruck bedroht. Seine vermeintlich neutrale, etatistische Gelehrtenpolitik folgte dem kulturprotestantischen Ideal, die Spannungen zwischen Bürgerfreiheit und Gemeinwohl durch wissenschaftlich begründete Kulturwerte aufzuheben. Faktisch legte er die deutsche Kulturnation auf spezifisch protestantische Werte fest. Darin lag die Grenze, aber auch die Anziehungskraft seines Integrationskonzepts in der halbkonstitutionellen Monarchie evangelischer Hohenzollern.

Rebenich deutet den gelehrten Austausch seiner Helden mit Begriffen, die seit Rüdiger vom Bruchs Studie zur "Gelehrtenpolitik im wilhelminischen Deutschland" zum Gemeingut der Wissenschaftstheoretiker gehören. Ihm geht es um Wissenschaftspolitik, Fächergrenzen, Leitwissenschaften und die Institutionalisierung akademischer Rationalitätskriterien. Selbst große Fachmenschen gehen in jener szientifischen Vernünftigkeit aber nicht auf, die sie lehren und durch asketische Selbstdisziplinierung leben. Sie haben auch Gefühle und müssen die Kontingenzen endlichen Lebens deuten. Über die persönliche Nähe der Freunde weiß Rebenich leider nur wenig zu sagen. Mit gediegenem Positivismus bleibt er auf akademische Scharmützel und den Austausch von Sonderdrucken fixiert. Für Mommsen und Harnack aber ging es um sehr viel mehr. Da hatte ein alter Mann, der sich vor dem Sterben fürchtete, einen jungen Theologen getroffen, mit dem er über den Glauben seiner Väter reden konnte, den er durch kritische Wissenschaft verloren hatte. Als Junge hatte Mommsen lieber Jens statt Theodor - Gottesgeschenk - gerufen werden wollen. Mit religionskritischem Pathos hatte er in seiner "Römischen Geschichte" die Christen für den Untergang des römischen Reiches verantwortlich gemacht.

Im hohen Alter begann der Historiker, der Fachmann fürs Zeitliche, über Johann Rists altes Kirchenlied "O Ewigkeit, du Donnerwort, o Ewigkeit, Zeit ohne Zeit" nachzusinnen. Im Jüngeren sah er sein alter ego, und durch die Seelenverwandtschaft erschloß sich ihm eine neue Intensität des Lebens. Bei Harnacks fünfzigstem Geburtstag hielt der dreiundachtzigjährige Mommsen 1901 die Geburtstagsrede: "Ich alter Meergreis konnte keinen Anspruch mehr auf Freundschaften machen - daher betrachte ich es als ein unerwartetes Glück, daß ich noch meine Rose von Jericho gefunden habe in diesem Mann, der den Orient mit dem Occident verbunden hat." Harnacks Grabrede ist als Antwort auf diese Liebeserklärung zu lesen. FRIEDRICH WILHELM GRAF

Stefan Rebenich: "Theodor Mommsen und Adolf Harnack". Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Edition und Kommentierung des Briefwechsels. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1997. XXI, 1018 S., 2 Abb., geb., 348,- DM.

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"Ungemein materialreiches Werk. Es ermöglicht tiefe Einblicke in die Wissenschafts- und Bildungsgeschichte des Kaiserreichs."
Wolgang Neugebauer in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 12/2005