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Streitbarer Stoff für die Atomdebatte
Die Kernkraft sieht sich im Aufwind. Auf der Weltklimakonferenz in Dubai haben mehr als 20 Regierungen beschlossen, ihre Nuklearkapazitäten bis 2050 zu verdreifachen, um den CO2-Ausstoß zu verringern. Im Abschlussdokument der fast 200 Staaten steht der Atomstrom gleichberechtigt neben Wind und Solar. Selbst die Verdreifachung brächte die Nukleartechnik zwar nur auf einen Anteil von 30 Prozent an der Stromproduktion der Welt. Oft vergessen wird aber, wie die Internationale Energieagentur IEA feststellt, dass die Kernenergie hinter der Wasserkraft die größte Quelle der emissionsarmen Erzeugung ist. Zudem stelle sie, grundlastfähig und in Maßen regelbar, eine notwendige Ergänzung zum Ökostrom dar.
Im April gingen in Deutschland die letzten drei Reaktoren vom Netz. Zwar behaupten Kernkraftgegner, dies habe auf die Versorgung keinen Einfluss. Auffällig ist aber, dass Deutschland seither mehr Strom ein- als ausführt. Andere Länder überdenken längst ihre Ausstiegspläne. Schweden ist zur Kernkraft zurückgekehrt, Belgien hat die Laufzeiten verlängert, in Finnland befürworten sogar die Grünen die Technik. In Deutschland hat die CDU die Atomkraft in den Entwurf ihres neuen Grundsatzprogramms aufgenommen.
Angesichts solcher Diskussionen kommt das Buch von Christian von Hirschhausen zur rechten Zeit. Der Volkswirt und Wirtschaftsingenieur an der TU Berlin weiß, wovon er schreibt. Schon der Untertitel des Bändchens verrät, dass er die Kernkraft kritisch sieht: "Geschichte und Zukunft einer riskanten Technologie". Leider setzt sich dieser holprig vom englischen "technology" übertragene Begriff immer mehr durch, wenn eigentlich "Technik" gemeint ist. Auch im Text schreibt der Autor von "Reaktortechnologie", um einen bestimmten Typ zu beschreiben. Auf Deutsch bezeichnet Technologie die Wissenschaft und Lehre von der Technik, das ist hier nicht gemeint. Der Hochschulprofessor oder das Lektorat des Verlags hätten das wissen müssen.
Das sind Marginalien, ansonsten ist das kleine gelbe Taschenbuch gut lesbar und klar strukturiert. Trotz seiner Knappheit findet es Platz für ein Register, ein Literaturverzeichnis, eine farbige Landkarte zu Endlagerstätten und für Grafiken. Am besten ist das Buch in den ersten drei von fünf Teilen, wo Hirschhausen die Kernspaltung und ihre bisherige Bedeutung erläutert. Und zwar sowohl den militärischen wie den zivilen Teil, wobei letzterer aus ersterem erwachsen ist. Zu Recht spricht Hirschhausen von einem "Janusgesicht".
Der Autor analysiert die Atomenergie als "Systemgut", womit er die Entwicklungskette vom Rohstoff bis zur Wiederaufbereitung und Endlagerung meint. In praktisch allen Stufen entdeckt er Gefahren und hohe, oft nicht internalisierte Kosten, so durch die Umweltverschmutzung in der Urangewinnung, die potentielle Nutzung des Spaltmaterials in Waffen oder durch die ungelöste Frage der Lagerung. Der Begriff Atomausstieg sei falsch, da diesem ein Einstieg in die Entsorgung folge, treffender müsse es "Atomwende" heißen.
Hirschhausen argumentiert nachvollziehbar, zu vielen seiner Behauptungen gibt es allerdings gut belegte Gegenpositionen. Darunter zu dem vorschnellen Urteil, die Atomkraft habe "niemals den Sprung zu einer wettbewerbsfähigen Energiequelle geschafft" und dürfte "für den dringend benötigten Klimaschutz unbedeutend bleiben". Dass die Reaktoren oft nicht ihre volle Kapazität ausnutzten und dass der schnelle Leistungswechsel aufwendig sei, stimmt für einige Anlagen. Aber sie stehen allemal besser da als die von Hirschhausen favorisierten erneuerbaren Energien. Und ob die Weiterentwicklung der Nukleartechnik wirklich am Ende ist, muss man hinterfragen. So könnte der "Dual-Fluid-Ansatz" für frischen Wind sorgen.
Einige von Hirschhausens steilen Thesen basieren auf veraltetem Wissen. Etwa dass die Kernkraft tendenziell im Widerspruch stehe zu Demokratie und Marktwirtschaft, dass sie von autokratischen Regimen profitiere und dass diese sie oft gegen die Bevölkerung durchsetzten. In Deutschland wünschte sich schon vor der Abschaltung der letzten Reaktoren eine Mehrheit den Weiterbetrieb, Netzbetreiber und Ökonomen hielten ihn für notwendig, um Versorgungssicherheit und Preisstabilität zu gewährleisten. Zudem ist es keinesfalls so, dass die meisten Staaten, die neue Anlagen planen, Autokratien sind. Selbst Japan, das 2011 den Unfall in Fukushima erlebte, will die Laufzeiten verlängern.
Hirschhausen, ein Bruder des Comedians Eckart von Hirschhausen, blendet wichtige Fragen aus, zum Beispiel: Wie stünde es um das Klima, wenn China, das trotz der größten Erneuerbaren-Kapazitäten der Welt ein Drittel aller Treibhausgase ausstößt, keine Kernkraftwerke betriebe? Oder: Welche Beiträge kann die Strahlentechnik in der Anpassung an den Klimawandel leisten? Auch würde für den gesamten hoch radioaktiven Abfall in Deutschland der Weiterbetrieb kaum eine Rolle spielen: Die bisherigen Mengen sind nicht viel größer als das Volumen des Brandenburger Tors - und müssen ohnehin entsorgt werden. Weil aber alle Endlagerstätten verworfen wurden, auch wegen Bürgerprotesten, liegt der Müll jetzt oberirdisch und damit deutlich weniger sicher. Das Buch bietet einen konzisen Ein- und Überblick zu den wichtigsten Fragen rund um die Kernkraft. Es ist lehrreich und streitbar, ohne polemisch zu sein. Aber man sollte sich in der Meinungsbildung nicht nur auf diese Quelle verlassen. CHRISTIAN GEINITZ
Christian von Hirschhausen: Atomenergie. Geschichte und Zukunft einer riskanten Technologie, C.H. Beck (Reihe Wissen), München 2023, 128 Seiten, 12 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, Christian Geinitz