Das Buch gehört ideell der ehrwürdigen Reihe "Topographie der historischen und Kunst-Denkmale im Königreiche Böhmen" an, die seit 1895, noch in der k.u.k. Monarchie, von der Böhmischen Akademie der Wissenschaften begründet und später als "Topographie der historischen und kunstgeschichtlichen Denkmale in der Tschechoslowakischen Republik" gemeinsam von der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die Tschechoslowakische Republik und der Archäologischen Kommission bei der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Prag fortgeführt wurde. Das Werk über Karlsbad und dessen Umland hätte der 52. Band der Reihe werden sollen, wäre der Autor nicht kurz vor der Drucklegung gestorben. Die nun vorliegende Erstausgabe ist weitaus mehr geworden als "nur" ein Kunstdenkmälerinventar aus der Zwischenkriegszeit: Die Informationen zu den Orten und Denkmälern wurden, wo immer möglich, aktualisiert und die Bibliographie wie der Anmerkungsapparat erheblich vermehrt. Derumfangreiche Bildteil enthält zahlreiche historische Aufnahmen, dokumentiert aber auch häufig den aktuellen Erhaltungszustand.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.1997Topographische Phantasien
Vater und Tochter Gnirs erkunden die Karlsbader Kunst
Sein Wasser machte es berühmt, das nordwestböhmische Kurbad Karlovy Vary, zu deutsch Karlsbad. Goethe mochte den dortigen Sprudel und kam gleich dreizehnmal; Generationen von Kurgästen aus ganz Europa taten es ihm gleich. Doch Karlsbad hat nicht nur flüssige Attraktionen. Mit der "Topographie der historischen und kunstgeschichtlichen Denkmale in dem Bezirke Karlsbad" erscheint jetzt eine Bestandsaufnahme dieser auch kulturhistorisch reizvollen Gegend, in der sich böhmischer Barock mit über Prag kommenden italienischen Einflüssen harmonisch vermengt.
Im Zentrum des Bandes steht der seit dem späten siebzehnten Jahrhundert prosperierende Badeort mit seinem Theater, seinen Kirchen, Bürgerhäusern und seiner mondänen Bäderarchitektur, mit seiner Waffenschmiede- und Glasschneiderkunst. Der Band erfaßt aber auch an die sechzig andere Orte und ihre kunsthistorischen Denkmale in Wort und Bild. So nüchtern das Genre ist, entwickelt sich Gnirs' Topographie beim Lesen zu einem anschaulichen kulturhistorischen Führer von hoher Genauigkeit und Aktualität - und das, obwohl der Band mit einer epochalen Verspätung von über sechzig Jahren erscheint.
Wenn Bücher Schicksale haben können, dann ist das eigenartige Fatum dieser Topographie die deutsch-tschechische Geschichte dieses Jahrhunderts. Der Werdegang ihres Autors, des Archäologen und Kunsthistorikers Anton Gnirs, trägt alle Züge einer damaligen Gelehrten-Biographie europäischen Zuschnitts. 1873 in Westböhmen geboren, wurde Gnirs nach dem Studium in Prag Professor an einer Militärschule der k.u.k. Kriegsmarine in Pola; er vertrat das österreichische Institut für Archäologie in Istrien und korrespondierte mit der Société Archéologique Française sowie dem Archäologischen Institut des Deutschen Reiches, dem er später auch als ordentliches Mitglied beitrat.
Im Jahr 1919 verhandelte er für die königlich-italienische Waffenstillstandskommission in Wien und kehrte in den zwanziger Jahren zurück in die neuentstandene Tschechoslowakei, wo er Staatskonservator wurde. 1933 starb Gnirs im böhmischen Elbogen, dem er einige Jahre zuvor einen Band der 1895 als "Topographie der historischen und Kunst-Denkmale im Königreiche Böhmen" begonnenen großen tschechoslowakischen Kunsttopographie gewidmet hatte.
Neben zahlreichen Veröffentlichungen zur böhmischen und istrischen Kulturgeschichte hinterließ er das Manuskript seiner Karlsbad-Studie; die dazugehörigen Fotos verschwanden während des Krieges. Jahrzehnte später suchte seine Tochter, die Kunsthistorikerin Anna Gnirs, die beschriebenen Orte und Denkmale auf, überprüfte die Befunde ihres Vaters in zahlreichen Archiven und Museen, schloß Lücken, verglich das Heute mit dem Damals, erweiterte Verzeichnisse und Bibliographie. Mit über vierhundert neuen und alten Fotos, mit Karten, Plänen, Skizzen und Zeichnungen stellte sie dem Geschriebenen zudem ein beeindruckendes Bildwerk an die Seite.
Der historischen Tiefenschärfe des Projekts kommt diese asynchrone Zusammenarbeit von Vater und Tochter nur zugute. Alles ist doppelt geprüft, auch Kleinstes und scheinbar Nebensächliches erhält seinen Kontext. Immer wieder zeigen Auszüge aus alten Kirchenbüchern und anderen Verzeichnissen, daß Kulturgeschichte eben auch eine Geschichte der Verluste ist. Kenner und Liebhaber der Gegend werden das Buch daher als eine Schule der topographischen Phantasie lesen: Allein der Weg eines kulturhistorischen Dokuments vom Ort seiner Entstehung zu einem Archiv, einer Sammlung oder einem Museum gibt eine Ahnung von der Macht historischer Dauer.
Schon Anton Gnirs sah die böhmischen Orte und Denkmale in ihrer historischen Genese. Über das damalige Bild der Karlsbader Kunst- und Kulturdenkmäler aber legt sich nun wie eine Folie die durch Anna Gnirs erstellte Aufnahme der aktuellen Kulturlandschaft. In dem immer wieder deutlichen Abstand zwischen diesen beiden Schichten spürt man die Ambivalenzen der deutsch-tschechischen Geschichte. Und es könnte als ein politisches Signal dieser glücklichen generationenübergreifenden Arbeit verstanden werden, daß auch tschechische Stellen bereitwillig mit Anna Gnirs zusammenwirkten, insbesondere die damalige Mitauftraggeberin für die Topographie, die Prager Akademie der Wissenschaften. Das zeigt, wie breit die Basis für ein kulturell offenes Europa inzwischen ist - nicht nur im Westen. In Zeiten politischer Empfindlichkeiten, wie sie erst jüngst wieder deutlich wurden, läßt man sich gerne daran erinnern. HANS-JOACHIM NEUBAUER
Anton Gnirs: "Topographie der historischen und kunstgeschichtlichen Denkmale in dem Bezirke Karlsbad (Prag 1933)." Herausgegeben vom Collegium Carolinum, besorgt von Anna Gnirs. R. Oldenbourg Verlag, München 1996. VIII, 264 S., 404 Abb., auf Tafeln, geb., 96,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vater und Tochter Gnirs erkunden die Karlsbader Kunst
Sein Wasser machte es berühmt, das nordwestböhmische Kurbad Karlovy Vary, zu deutsch Karlsbad. Goethe mochte den dortigen Sprudel und kam gleich dreizehnmal; Generationen von Kurgästen aus ganz Europa taten es ihm gleich. Doch Karlsbad hat nicht nur flüssige Attraktionen. Mit der "Topographie der historischen und kunstgeschichtlichen Denkmale in dem Bezirke Karlsbad" erscheint jetzt eine Bestandsaufnahme dieser auch kulturhistorisch reizvollen Gegend, in der sich böhmischer Barock mit über Prag kommenden italienischen Einflüssen harmonisch vermengt.
Im Zentrum des Bandes steht der seit dem späten siebzehnten Jahrhundert prosperierende Badeort mit seinem Theater, seinen Kirchen, Bürgerhäusern und seiner mondänen Bäderarchitektur, mit seiner Waffenschmiede- und Glasschneiderkunst. Der Band erfaßt aber auch an die sechzig andere Orte und ihre kunsthistorischen Denkmale in Wort und Bild. So nüchtern das Genre ist, entwickelt sich Gnirs' Topographie beim Lesen zu einem anschaulichen kulturhistorischen Führer von hoher Genauigkeit und Aktualität - und das, obwohl der Band mit einer epochalen Verspätung von über sechzig Jahren erscheint.
Wenn Bücher Schicksale haben können, dann ist das eigenartige Fatum dieser Topographie die deutsch-tschechische Geschichte dieses Jahrhunderts. Der Werdegang ihres Autors, des Archäologen und Kunsthistorikers Anton Gnirs, trägt alle Züge einer damaligen Gelehrten-Biographie europäischen Zuschnitts. 1873 in Westböhmen geboren, wurde Gnirs nach dem Studium in Prag Professor an einer Militärschule der k.u.k. Kriegsmarine in Pola; er vertrat das österreichische Institut für Archäologie in Istrien und korrespondierte mit der Société Archéologique Française sowie dem Archäologischen Institut des Deutschen Reiches, dem er später auch als ordentliches Mitglied beitrat.
Im Jahr 1919 verhandelte er für die königlich-italienische Waffenstillstandskommission in Wien und kehrte in den zwanziger Jahren zurück in die neuentstandene Tschechoslowakei, wo er Staatskonservator wurde. 1933 starb Gnirs im böhmischen Elbogen, dem er einige Jahre zuvor einen Band der 1895 als "Topographie der historischen und Kunst-Denkmale im Königreiche Böhmen" begonnenen großen tschechoslowakischen Kunsttopographie gewidmet hatte.
Neben zahlreichen Veröffentlichungen zur böhmischen und istrischen Kulturgeschichte hinterließ er das Manuskript seiner Karlsbad-Studie; die dazugehörigen Fotos verschwanden während des Krieges. Jahrzehnte später suchte seine Tochter, die Kunsthistorikerin Anna Gnirs, die beschriebenen Orte und Denkmale auf, überprüfte die Befunde ihres Vaters in zahlreichen Archiven und Museen, schloß Lücken, verglich das Heute mit dem Damals, erweiterte Verzeichnisse und Bibliographie. Mit über vierhundert neuen und alten Fotos, mit Karten, Plänen, Skizzen und Zeichnungen stellte sie dem Geschriebenen zudem ein beeindruckendes Bildwerk an die Seite.
Der historischen Tiefenschärfe des Projekts kommt diese asynchrone Zusammenarbeit von Vater und Tochter nur zugute. Alles ist doppelt geprüft, auch Kleinstes und scheinbar Nebensächliches erhält seinen Kontext. Immer wieder zeigen Auszüge aus alten Kirchenbüchern und anderen Verzeichnissen, daß Kulturgeschichte eben auch eine Geschichte der Verluste ist. Kenner und Liebhaber der Gegend werden das Buch daher als eine Schule der topographischen Phantasie lesen: Allein der Weg eines kulturhistorischen Dokuments vom Ort seiner Entstehung zu einem Archiv, einer Sammlung oder einem Museum gibt eine Ahnung von der Macht historischer Dauer.
Schon Anton Gnirs sah die böhmischen Orte und Denkmale in ihrer historischen Genese. Über das damalige Bild der Karlsbader Kunst- und Kulturdenkmäler aber legt sich nun wie eine Folie die durch Anna Gnirs erstellte Aufnahme der aktuellen Kulturlandschaft. In dem immer wieder deutlichen Abstand zwischen diesen beiden Schichten spürt man die Ambivalenzen der deutsch-tschechischen Geschichte. Und es könnte als ein politisches Signal dieser glücklichen generationenübergreifenden Arbeit verstanden werden, daß auch tschechische Stellen bereitwillig mit Anna Gnirs zusammenwirkten, insbesondere die damalige Mitauftraggeberin für die Topographie, die Prager Akademie der Wissenschaften. Das zeigt, wie breit die Basis für ein kulturell offenes Europa inzwischen ist - nicht nur im Westen. In Zeiten politischer Empfindlichkeiten, wie sie erst jüngst wieder deutlich wurden, läßt man sich gerne daran erinnern. HANS-JOACHIM NEUBAUER
Anton Gnirs: "Topographie der historischen und kunstgeschichtlichen Denkmale in dem Bezirke Karlsbad (Prag 1933)." Herausgegeben vom Collegium Carolinum, besorgt von Anna Gnirs. R. Oldenbourg Verlag, München 1996. VIII, 264 S., 404 Abb., auf Tafeln, geb., 96,- DM.
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