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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Die Deutschland-Politik des französischen Staatspräsidenten Mitterrand 1989/90
"Wenn er Deutscher wäre, wäre er für die Wiedervereinigung so schnell wie möglich", versicherte Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand Bundeskanzler Helmut Kohl am 4. Januar 1990 - "aber er sei Franzose." Trotz dieser entwaffnenden Offenheit gilt Mitterrands Deutschland-Politik im geschichtsmächtigen Jahr 1989/90 noch immer als hoch umstritten. Während die einen seine Zögerlichkeiten mit der Absicht begründen, die Wiedervereinigung in den europäischen Einigungsprozess einbinden zu wollen, sehen die anderen darin den Versuch, den Zug der deutschen Einheit zu bremsen, ja zu blockieren.
Dass die wissenschaftliche Kontroverse selbst ohne Einsicht in neue Quellenbestände befruchtet werden kann, verdeutlicht die Studie von Angelika Praus. Ihr origineller Ansatz besteht darin, Mitterrands Deutschland-Politik an der "Zeitenwende 1989/90" im Spiegel der Selbsteinschätzung Frankreichs als einer einzigartigen Nation zu betrachten. Charles de Gaulle hatte dem Gedanken von der "französischen Ausnahme", dessen Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen, neues Leben eingehaucht. Sechs Elemente bestimmten dieses Denken: das Selbstverständnis als Hüter der Menschen- und Bürgerrechte; der "Mythos vom heroischen Widerstand" gegen Hitler-Deutschland; die Forderung nach Zugehörigkeit zu den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs; der Aufbau einer unabhängigen Außen- und Verteidigungspolitik; der Anspruch auf Vormacht in der Europäischen Gemeinschaft und der Ruf nach nationalstaatlicher Größe.
Folgt man der Darstellung von Praus, machte sich Mitterrand das Konstrukt von der "französischen Ausnahme" zu eigen, ohne zu erkennen, dass es weder zu ihm noch in seine Zeit passte. So hielt er am gaullistischen Geschichtsmythos vom "résistancialisme" (Henry Rousso) fest, obwohl es ihm an der de Gaulleschen Legitimität mangelte. Er beschwor den Anspruch auf Unabhängigkeit, wenngleich die glorreiche Zeit der wirtschaftlichen Blüte Frankreichs längst vorbei war. Mitterrand pochte auf die von de Gaulle formulierte Verteidigungsdoktrin, wiewohl deren "Kernelement", die Atomwaffe, an Wert verlor.
Mit dem Anbruch der Zeitenwende 1989/90 sollten Anspruch und Wirklichkeit der "französischen Ausnahme" dem plausiblen Urteil von Praus zufolge vollends auseinanderbrechen. Wie sie anhand der Feierlichkeiten der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution zu zeigen vermag, rühmte Mitterrand 1989 die Proklamation der Menschenrechte von 1789, übersah aber deren umstürzende Kraft in der Gegenwart. Nach dem Fall der Berliner Mauer betrieb er eine der "französischen Ausnahme" verpflichtete Politik des Status quo und begriff offenbar nicht, dass die Umwälzungen in Europa "das gesamte Koordinatensystem" dieses Selbstverständnisses auf den Kopf gestellt hatten. Entgegen manch anderslautender Einschätzung war der "gaullistische Sozialist" kein "visionärer Realist", sondern "ein Fatalist, der in der Vergangenheit verharrte". Mitterrand versuchte nicht, das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung und die Wahrung der Stabilität in Europa auf einen Nenner zu bringen, sondern "die auf zwei deutschen Staaten basierende Ordnung zu bewahren". Erst nach den Volkskammerwahlen in der DDR vom März 1990 fügte er sich "in das nicht abwendbare Schicksal".
Doch auch nach der Zeitenwende hielt Mitterrand an der "Illusion" von der "französischen Ausnahme" fest und meinte, Frankreichs Rang in der Welt sichern zu können. Noch immer bestimmte sein "Denken in Gleichgewichten" die französische Europapolitik. Mit der Europäischen Währungsunion glaubte er, dem vereinten Deutschland seinen Trumpf, die D-Mark, zu nehmen. Doch der Maastricht-Vertrag sollte "die französische Ausnahme nicht stärken, sondern die Identitäts- und Wirtschaftskrise des Landes verschärfen". Mitterrands Nachfolger trugen zwar "einen Teil der Elemente der ,exception française' zu Grabe". Das Ende der "französischen Ausnahme" ohne Wenn und Aber einzugestehen fällt ihnen gleichwohl weiterhin schwer. "Frankreich ist eine einzigartige Nation. Es ist mehr als eine große Geschichte, es ist ein Projekt", beteuerte Staatspräsident François Hollande im Mai 2013.
Mit der Auswertung vieler, dem Kenner der Materie hinlänglich bekannter Quellen gelingt es Frau Praus nachzuweisen, wie sehr Mitterrand den de Gaulleschen Politikkategorien verhaftet war; "altem Denken", wie Brigitte Seebacher in einem Vorwort betont. Dass der Präsident 1989/90 die Chance verpasste, "Gegenwart und Zukunft zu gestalten", kann nach der tiefschürfenden Studie nicht mehr bezweifelt werden. Ob dies freilich im Sinne einer monokausalen Meistererzählung allein "dem Festhalten an der ,exception française'" zugemessen werden darf, erscheint ebenso fragwürdig wie die hier und da durchschimmernde Tendenz, der "Lichtgestalt" de Gaulle Mitterrand als "Finsterling" gegenüberzustellen.
Ob General de Gaulle - wie Willy Brandt seiner Frau Brigitte einst sagen sollte - im Dezember 1989 bei der offiziellen Öffnung des Brandenburger Tores seine Uniform angezogen hätte und "an der Spitze des Zuges marschiert" wäre, - bleibt Spekulation. Selbst wenn man also nicht allen Thesen von Praus zu folgen vermag, liest man ihr mächtiges Werk, dessen Umfang hätte deutlich schlanker ausfallen können, wenn nicht jedes französische Zitat im Anmerkungsapparat ins Deutsche übersetzt worden wäre, mit großem Gewinn.
ULRICH LAPPENKÜPER
Angelika Praus: Das Ende einer Ausnahme. Frankreich und die Zeitenwende 1989/90. Tectum Verlag, Marburg 2014. 556 S., 39,95 [Euro].
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