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  • Hersteller: Dino Classics,
  • EAN: 4010190751374
  • Artikelnr.: 60392132
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2024

Die Sprache spielt Theater und macht die Musik
Huldigung für Hofmannsthal: Brigitte Fassbaender und Stefan Vladar behandeln in Lübeck Richard Strauss' Oper "Elektra" ganz texttreu

Eine junge Frau steht auf der Bühne mit schmerzgequältem Gesicht und strähnigem Haar. Panisch lauscht sie einer Stimme der Unterwelt: der ihres Vaters Agamemnon, der im elften Gesang aus Homers Epos dem Irrfahrer Odysseus über seine Ermordung durch Klytämnestra berichtet - deren Rache dafür, dass er seine Tochter Iphigenie geopfert hat.

Ihrer Inszenierung von Richard Strauss' "Elektra" an der Oper Lübeck hat Brigitte Fassbaender die Hexameter Homers vorangestellt - eine triftige, zwingende Idee. Denn mit diesem Introitus wird die Wendung der Sophokles-Tragödie durch Hugo von Hofmannsthal deutlich: dass nicht der zur Blutrache an der Mutter aufgerufene Orest im Mittelpunkt steht, sondern die seelischen Irrungen und die selbstzerstörerische Liebe Elektras, die sich in ihrem Einsamkeitsmonolog die Rache für den Tod des Vaters ausmalt: "wird das Blut aus hundert Kehlen stürzen auf dein Grab". Wie treffend ein Wort Daniel Barenboims: "Komponierte Grausamkeit".

Als Richard Strauss 1924 zu seinem 60. Geburtstag das Werk dirigierte, bat er das Orchester: "Spielen Sie am Abend recht leise - es ist ohnehin schon so laut komponiert." Es war wohl ein selbstironischer Scherz über sein ingenieurshaft konstruiertes Werk, als er sagte, dass die für 117 Musiker geschriebene Partitur wie "Elfenmusik" von Mendelssohn gespielt werden solle. Auch die von ihm autorisierte Fassung mit 34 Streichern, 27 Bläsern, zwei Harfen, Celesta und fünf Spielern Schlagwerk und Pauke kann mit ihren Klangballungen an die äußersten Grenzen der Aufnahmefähigkeit gehen; und selbst sie kann die Sänger der Gefahr aussetzen, in einigen Szenen zugedeckt zu werden. Dies umso mehr, als Strauss, wie Thomas Mann anmerkte, "von Wagners Kunst, die Deklamation mit dem Riesenorchester nicht zuzudecken, gar nichts versteht".

In ihren Erinnerungen ("Komm aus dem Staunen nicht heraus") betont Brigitte Fassbaender, dass sie bei der Erarbeitung einer Operninszenierung (es sind inzwischen an die neunzig) von der Musik ausgehe, "in der alles gesagt ist, was Worte nicht vermögen . . . und von den Menschen, die diese Rollen zu gestalten haben". Sie sucht nicht nach Anstößen durch Anstößigkeiten oder neuen "Lesarten". Es zeugt von einer glückhaften Zusammenarbeit mit dem Dirigier-Energetiker Stefan Vladar am Pult des sowohl furios als auch feinsinnig spielenden Philharmonischen Orchesters Lübeck, dass eine dicht verknüpfte musikalisch-szenische Aktion zu erleben war. Dass spürbar wurde, dass alle Motive aus der Sprache herausgetrieben sind - die Instrumente "sprechen" in jeder Szene.

Vor der Uraufführung an der Königlichen Oper Dresden (1909) schrieb Strauss an den Dirigenten Ernst von Schuch. "Elektra ist fertig und der Schluß saftig geworden. Die Hauptrolle muß nun auf jeden Fall von der allerhöchstdramatischsten Sängerin gegeben werden." Sie soll in der Lage sein, in der höchsten Lage mit kontrollierter Klangkonzentration zu singen, sei es in der rasenden Invektive gegenüber Klytämnestra: "Wer dann noch lebt, der jauchzt, und kann sich seines Lebens freun!", sei es im Anruf "Agamemnon" im Eingangsmonolog, sei es im Wehlaut der Wiedererkennungsszene mit dem dreimal wiederholten, dynamisch fein gestuften "Orest". Die dänische Sopranistin Trine Møller wurde den extremen Anforderungen dieser Partie, der womöglich schwierigsten des Repertoires auch wegen der Singzeit (rund 70 Minuten), gesanglich wie darstellerisch eindrucksvoll gerecht. Dass sie klangliche Schärfen in exponierten Phrasen nicht vermeiden konnte (was wohl nur Inge Borkh und Birgit Nilsson gelang), ist auf die maßlosen Anforderungen des Komponisten zurückzuführen; sie gehören wohl zu den Opfern, die leider als selbstverständlich angesehen werden.

In Lena Kutzner fand sie eine ebenbürtige Partnerin für die Partie der Chrysothemis, die selbst die hohen Töne klangreich und weich verströmen konnte. Zu den wichtigen Anforderungen an die Darsteller gehöre, bemerkte Strauss, dass Klytämnestra keine "alte verwitterte Hexe sein soll". Die junge Edna Prochnik stellte sie als eine edel Verblühte auf die Bühne. Selbst wenn sie "grässlich atmend vor Angst" vor Elektra steht, imitiert sie den Affekt nicht durch Fauchen oder Keuchen. Auch Aegisth wurde von Wolfgang Schwaninger als Gesangspartie verstanden und nicht, wie von "Charaktertenören", zur grotesken Camp-Figur entstellt. Nach kleinen Reibungen in den ersten Phrasen gelang Rúni Brattaberg ein eindringliches Porträt des Orest mit viel Gespür für den Subtext, wenn er im uneigentlichen Dialog mit Elektra sagt: "Ich war so alt wie er und sein Gefährte bei Tag und Nacht."

Imponierend geriet das Quintett der Mägde, die mit ihrem Bösartigkeitsgeplapper die vergiftete Atmosphäre am Ort spürbar machen. Auch hier war Hofmannsthals Text als akustisch-szenisches Bild des Hofes in Mykene durchgehend zu verstehen. Eine überraschende "Elektra"-Erfahrung, die mit gut dosiertem Jubel belohnt wurde. JÜRGEN KESTING

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