"Mit welchen Augen betrachtete der Mensch des Mittelalters seine Welt? Was dachte er über die Natur, die ihn umgab, was über die Gesellschaft, in der er lebte? Und wie sah er sich selbst inmitten des Stroms seiner Zeit?" Fragen, die zeitgenössische Mediävisten beschäftigen und die sich kaum aus den schriftlichen Zeugnissen jener Epoche beantworten lassen, in denen Individualität und Wahrnehmung der Autoren hinter literarischen Konventionen verschwinden. Eine reiche Quelle der Alltagskultur bieten hingegen die Exempla. Aaron J. Gurjewitsch analysiert diese Lehrbeispiele, welche vor allem der überwältigenden Mehrheit der Schriftunkundigen in den Predigten Gottesfurcht und Moral vermitteln sollten. Neben Motiven aus Legenden und Chroniken, aus der Antike, der Bibel und den Viten der Heiligen, aus Bestiarien und Märchen bilden ganz alltägliche Begebenheiten die Rahmenhandlung und ermöglichen auf diese Weise Einblicke in den Alltag des ausgehenden Mittelalters in Westeuropa. Auf nur wenigen Zeilen von großer Dichte entfalten die Exempla Szenarien der alltäglichen irdischen Existenz, in die Vertreter der jenseitigen Welt einbrechen und die menschlichen Protagonisten in existentielle Extremsituationen treiben, deren Ausgang ihr weiteres dies- oder jenseitiges Dasein bestimmt. Der Mediävist analysiert eine Vielzahl von Beispielen aus verschiedenen Themengebieten. Die großen religiösen Fragen nach Leben und Tod, Buße und Sühne, Jüngstem Gericht und Fegefeuer, Hölle und Paradies beschäftigen die Exempla ebenso wie die Grundlagen des sozialen Lebens: gesellschaftliche und materielle Unterschiede, Frauen, Sexualität und Ehe, Familie und Kindererziehung, der Umgang mit Fremden und Andersgläubigen. Die analoge künstlerische Ausgestaltung dieser Lehrbeispiele findet sich vielerorts in den kirchlichen Schmuckelementen und ist in den Abbildungen dokumentiert.