Kazimierz Dolny an der Weichsel war schon in den 1920er und 1930er Jahren eine beliebte Sommerfrische, nicht zuletzt für die Warschauer Intelligenz und das künstlerische Milieu der polnischen Hauptstadt. Hier präsentiert sich ein Ensemble illustrer kleiner Heldinnen und Helden mit ihren teils diffusen Weltbildern: Geliebte beiderlei Geschlechts, Künstler, Kunstliebhaber, Frustrierte und Inspirierte, Fischer, ein Barbesitzer, eine Eisverkäuferin, ein Politfunktionär, eine jüdische Bettlerin, fromme Juden, diverse Lebedamen, elegante und weniger elegante Kavaliere sowie tiefe Frömmigkeit, katholischer Volksglaube, Kleingeist, Halbverrücktes und politische Träume. Sie umgibt eine atemberaubende Aura aus jüdischem Leben und polnisch-jüdischem Gegeneinander, Hetze und Hoffnungslosigkeit, Frömmigkeit und Libertinage.Zum Spannungsbogen zwischen Hauptstadt und Provinz gesellt sich ein dritter Schauplatz:das Städtchen Góra Kalwaria (jiddisch Ger), das westlichste Zentrum des polnischen Chassidismus. Sie bilden eine Trias zwischen kleinstädtischem Alltag, der ersehnten Flucht in die imaginierte Gegenwelt einer polnisch-jüdischen Sommeridylle und der Vitalität der chassidischen Gemeinschaft und ihrer traditionellen Heilserwartungen.Rudnickis Erzählessay besticht durch seine ironisch zugespitzte Analyse der Zwischenkriegsgesellschaft, ihren Merkwürdigkeiten und Verklemmtheiten, ihrer Sehnsucht nach einem Ausbruch aus den sozialen Konventionen und der damit einhergehenden Angst. Es gelingt ihm auf diese Weise exemplarisch, den letzten Sommer des polnischen Judentums literarisch zu bewahren.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Martin Sander versteht Adolf Rudnickis "Erzählessay" als Porträt einer Lebenswelt vor ihrem Niedergang. Die Schilderung einer bunten Sommerfrischlergemeinschaft im Jahr 1938 im Weichselbad Kazimierz bildet laut Sander die ganze Vorkriegsgesellschaft Polens ab, ihre inneren Spannungen und Spaltungen. Die genauen Skizzen über Künstler, Misfits, Zweifler, Bürger und Gläubige zeigt für Sander auch, wie radikale Ideen Einfluss gewinnen. Die "psychologische Spannung" im Text wird gebrochen durch die ironische Erzählhaltung, so Sander.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Mit leiser aber unter die Haut gehender Ironie beschreibt Rudnicki in seinen episodischen Essays das Kleinbürgertum mit seinen mehr oder weniger liebenswerten, oft auch skurrilen Persönlichkeiten. Die Szenen, die sich in diesem Sommer 1938 abspielen - ein Jahr vor der Katastrophe der Besetzung Polens durch die deutsche Wehrmacht - verraten vordergründig eine Leichtigkeit des Seins. Mittels einer Fülle von Momentaufnahmen schildert Rudnicki das Zusammenleben von Polen und Juden in all seinen Facetten, mal mit Humor,mal recht bissig, aber immer mit unbestechlicher analytischer Wahrnehmung. So streut er in das scheinbar unbeschwerte Flair dieses Sommers immer wieder Widersprüche und Konflikte ein, die das Klima zwischen Einheimischen und Sommerfrischlern überschatten.« Badische Zeitung, 16. Juni 2021 »Der polnische Schriftsteller Adolf Rudnicki veröffentlicht 1938 einen Essay über die Sommerfrische Kazimierz, in dem er mit scharfem Blick die zersplitterte polnische Gesellschaft seziert: das Dokument einer Lebenswelt vor ihrer Vernichtung. [...] 'Sommer 1938' ist ein literarisch beeindruckender Text voll psychologischer Spannung, ironisch gebrochen in der Haltung des Erzählers. Zugleich liest man dieses Buch heute zwangsläufig als einzigartiges Dokument einer Lebenswelt vor ihrer Vernichtung.« Deutschlandfunk Kultur, 12. August 2021 »Der Essay Sommer 1938 von Adolf Rudnicki ist ein herausragendes literarisches Zeitdokument, da es die durch die Shoah unwiderruflich vernichteten jüdischen Lebenswelten schildert, ohne von der Nachgeschichte nach 1945 geprägt zu sein.« Yearbook for European Jewish Literature Studies 9(1) 2022