Wer diese Aufzeichnungen liest, wird sie nie wieder vergessen
Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges wird eine junge polnische Frau von der sowjetischen Armee festgenommen, tagelang verhört und dann für zehn Jahre in einem Gulag inhaftiert: Dies ist das Schicksal Barbara Skargas, einer Frau und Philosophin, die mit ihrem scharfen Verstand, ihrer unverbrüchlichen Menschlichkeit und nicht zuletzt ihrem Humor einen Alptraum überlebte, von dem sie in einem beeindruckenden und nun entdeckten Memoir Zeugnis ablegt. Nach der Befreiung ist ein historisch bedeutendes, hochaktuelles Buch - und zugleich ein einzigartiger, ergreifender Bericht über den unerschütterlichen Willen, unter unmenschlichen Bedingungen Mensch zu bleiben.
Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges wird eine junge polnische Frau von der sowjetischen Armee festgenommen, tagelang verhört und dann für zehn Jahre in einem Gulag inhaftiert: Dies ist das Schicksal Barbara Skargas, einer Frau und Philosophin, die mit ihrem scharfen Verstand, ihrer unverbrüchlichen Menschlichkeit und nicht zuletzt ihrem Humor einen Alptraum überlebte, von dem sie in einem beeindruckenden und nun entdeckten Memoir Zeugnis ablegt. Nach der Befreiung ist ein historisch bedeutendes, hochaktuelles Buch - und zugleich ein einzigartiger, ergreifender Bericht über den unerschütterlichen Willen, unter unmenschlichen Bedingungen Mensch zu bleiben.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit großem Interesse liest die hier rezensierende Historikerin Gabriele Lesser die Aufzeichnungen der langjährigen Gefangenschaft von Barbara Skarga. Als junge Philosophiestudentin kam Skarga 1944 "nach der Befreiung" durch das russisch-sowjetische Regime unter dem Vorwurf der Kollaboration mit den Deutschen ins Gefängnis und verbrachte über zehn Jahre in russisch-sowjetischer Gefangenschaft, zum Schluss in einer sibirischen Kolchose, so Lesser. Aus dieser entsetzlichen Zeit voller Angst vor Vergewaltigungen, Folter, Hunger und psychischer Abstumpfung erzählt Skarga in ihrem Bericht, den sie erst viele Jahre später, mit 65, verfasste - zunächst aus Angst noch mit geänderten Ortsnamen und unter einem Pseudonym. Dabei ist Skargas assoziativer, nicht nach zeitlicher Chronologie, sondern nach Themenfeldern sortierter Bericht aus verschiedenen Gefangenenlagern herausfordernd zu lesen, so die Kritikerin, aber Stück für Stück ergibt sich für sie ein zeitliches Gesamtbild. Besonders eindrücklich findet sie die Schilderungen des Gestanks, auch etwa von Menstruationsblut, der zum Zerfall der Selbstachtung führte und hier aus einer speziell weiblichen Perspektive beleuchtet wird. Eine wertvolle, von der polnisch-belgischen Philosophin Alicja Gescinska veranlasste Herausgabe, die auf das Schicksal hunderttausender Repressionierter nach dem Zweiten Weltkrieg verweist, schließt Lesser.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2024Die Welt außerhalb des Lagers sollte für die Häftlinge untergehen
Beschreibungen des Lebens im Gulag: Die Erinnerungen der polnischen Philosophin Barbara Skarga aus den Jahren 1944 bis 1956
Es gab im kommunistischen Polen nicht viele Frauen, die allgemeine Autorität genossen, auf zwei traf es aber bestimmt zu: die Literaturwissenschaftlerin Maria Janion und Barbara Skarga, die als die bedeutendste polnische Philosophin des zwanzigsten Jahrhunderts gilt. Von ihren Schriften sind leider keine ins Deutsche übersetzt, dafür ist soeben ihr persönlichstes Buch erschienen: "Nach der Befreiung" - Aufzeichnungen aus den Jahren 1944 bis 1956, die sie in sowjetischer Haft verbrachte.
Ihre Odyssee begann im September 1944, als sie knapp 25-jährig in Vilnius von den Russen als Mitglied der antikommunistischen, der polnischen Exilregierung in London unterstehenden Heimatarmee (AK) verhaftet wurde. Sie blieb fast zwei Jahre in den örtlichen Gefängnissen, wurde dann nacheinander in die Arbeitslager Woiwotsch, Uchta und Balqasch verschickt und musste anschließend noch ein Jahr lang in einer Kolchose in der Nähe von Petropawlowsk Zwangsarbeit leisten. Erst im Dezember 1955 durfte sie nach Polen zurückkehren und ihr normales Leben wiederaufnehmen, was ihr auch erstaunlich gut gelang: Sie studierte Philosophie und machte anschließend eine steile akademische Karriere, die zu einem umfangreichen Werk und Scharen dankbarer Studenten führte.
Es mussten allerdings Jahrzehnte vergehen, bis sie sich entschloss, ihre Erinnerungen an die Gulag-Zeit niederzuschreiben. Sie tat es zögernd und langsam, wohl wissend, dass nach so langer Zeit "die Vergangenheit verblasst", aber auch dass es "Dinge" gibt, die man "so laut hinausschreien" sollte, "dass jeder die Schreie hören kann". Zum Glück entschied sie sich letztendlich für einen leiseren Erzählton, und ihre Bedenken "erinnerungstechnischer" Natur waren offenbar unbegründet: Ihr Buch setzt sich aus mehreren Kapiteln zusammen, deren Detailreichtum eine genaue Vorstellung vom Leben im Lager ermöglicht. Denn einerseits deckt es komplett ihre Haftzeit ab, von den Gefängnissen über die Lager, in denen sie Krankenschwester, Vorarbeiterin in der Ziegelei und manches mehr war, bis hin zur Kolchose. Und andererseits schreckt sie nicht davor zurück, die intimsten Themen aus der Sicht einer Frau anzusprechen: Die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, die Angst vor Vergewaltigung und Schwangerschaft oder das Erfindertum in Sachen Körperpflege.
Ihr Bericht beeindruckt auch durch seine Konkretheit der Schilderungen von Ereignissen und Personen und besticht durch seine Empathie. Letztere dürfte ihr nicht immer leichtgefallen sein: Die von ihr geschilderte Extremsituation ist geprägt vom Hunger, von unmenschlichen Arbeitsbedingungen, von Krankheiten, die ihre Opfer derart degradierten, dass diese selbst unter den Mithäftlingen Abscheu erregten. Dennoch schreibt sie lieber über andere als über sich selbst, und manche der Schicksale, die sie erzählt, wird man nicht so schnell vergessen.
Allen voran das eines mit Skarga befreundeten deutschen Arztes, der während des Krieges in Brüssel für einen Kollegen eingesprungen war, ohne zu ahnen, um was für eine Art Vertretung es sich handelte, und so zum aktiven Teilnehmer einer Selektion von Häftlingen wurde. Daraufhin quittierte er den Dienst und schloss sich dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten an, um im Endeffekt in die Hände der Sowjets zu fallen.
Die Erinnerungen gewähren auch Einblick in die Verhaltensregeln im Lager. Hass, Gewalt und Zynismus sind an der Tagesordnung; Mut und Gerechtigkeitssinn kommen selten vor. Das sowjetische Strafsystem ist darauf ausgerichtet, die Häftlinge in einen Zustand zu versetzen, in dem alles, was zeitlich vor und räumlich außerhalb des Lagerdaseins liegt, für sie nicht mehr existiert, und man findet in Skargas Buch viele Stellen, die diesen Wesenszug beleuchten. Das haben zwar vor ihr bereits einige getan, Warlam Schalamow in "Geschichten aus Kolyma" und vor allem Aleksandr Solschenizyn in "Archipel Gulag", doch die beiden haben die sowjetische Strafwelt aus einer russischen Perspektive dargestellt, während Skarga es aus der Perspektive einer Polin tut, die sich zudem, wie sie mehrmals betont, als Europäerin fühlt, sprich als Erbin einer humanitären Kultur. So lässt sich ihr Buch wohl am besten mit "Welt ohne Erbarmen" des polnischen Exilschriftstellers Gustaw Herling vergleichen, einem weiteren Bericht über die sowjetischen Straflager, dem die eigenen Erfahrungen des Autors zugrunde liegen. Der Autor verbrachte zwar "nur" zwei Jahre in einem sowjetischen Straflager, doch schon diese verhältnismäßig kurze Zeit war eine Erfahrung, die für ihn als Schriftsteller dauerhafte Folgen hatte: Die Existenz des Bösen, das Leid als unvermeidbarer Teil des menschlichen Daseins oder die Einsamkeit als Strafe waren seitdem seine zentralen Themen - die bei Skarga, die übrigens in ihrem Buch mehrmals Herlings Bericht erwähnt, ebenfalls präsent sind.
Dass der Krieg in der Ukraine ihren Aufzeichnungen eine besondere Aktualität verleiht, braucht man wohl kaum zu betonen. So vieles, was sie darin beschreibe, so Alicja Gescinska, die Verfasserin einer sehr informativen Einleitung, sei durch diesen Krieg "auf schmerzliche Weise wiedererkennbar geworden. Die russische Rhetorik über die Notwendigkeit, das Nachbarland von den Faschisten zu befreien. Menschen, die in Züge Richtung Osten gesetzt wurden. Hunger als Waffe. Deportationen, die Evakuierungen genannt wurden." Man muss ihr zustimmen, dass "Nach der Befreiung" (die Ironie dieses Titels ist kaum zu überbieten) nicht nur ein historisch bedeutendes, sondern auch ein literarisch gelungenes und gedanklich beeindruckendes Buch ist. Man fragt sich allerdings - trotz der editorischen Notiz, die das zu erklären versucht -, warum die deutsche Ausgabe auf der niederländischen Übersetzung und nicht auf dem polnischen Original basiert. Zugegeben, seine Erstausgabe von 1985, die unter dem Pseudonym Wiktoria Krasniewska im Pariser Exilverlag Instytut Literacki erschien, wäre aufgrund der Fehler, die man später entdeckte, keine geeignete Grundlage gewesen. Es gibt aber auch die Neuausgabe von 2008, die von Barbara Skarga, die erst ein Jahr später starb, vermutlich durchgesehen wurde. MARTA KIJOWSKA
Barbara Skarga: "Nach der Befreiung". Aufzeichnungen aus dem Gulag 1944 -1956.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2024. 516 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Beschreibungen des Lebens im Gulag: Die Erinnerungen der polnischen Philosophin Barbara Skarga aus den Jahren 1944 bis 1956
Es gab im kommunistischen Polen nicht viele Frauen, die allgemeine Autorität genossen, auf zwei traf es aber bestimmt zu: die Literaturwissenschaftlerin Maria Janion und Barbara Skarga, die als die bedeutendste polnische Philosophin des zwanzigsten Jahrhunderts gilt. Von ihren Schriften sind leider keine ins Deutsche übersetzt, dafür ist soeben ihr persönlichstes Buch erschienen: "Nach der Befreiung" - Aufzeichnungen aus den Jahren 1944 bis 1956, die sie in sowjetischer Haft verbrachte.
Ihre Odyssee begann im September 1944, als sie knapp 25-jährig in Vilnius von den Russen als Mitglied der antikommunistischen, der polnischen Exilregierung in London unterstehenden Heimatarmee (AK) verhaftet wurde. Sie blieb fast zwei Jahre in den örtlichen Gefängnissen, wurde dann nacheinander in die Arbeitslager Woiwotsch, Uchta und Balqasch verschickt und musste anschließend noch ein Jahr lang in einer Kolchose in der Nähe von Petropawlowsk Zwangsarbeit leisten. Erst im Dezember 1955 durfte sie nach Polen zurückkehren und ihr normales Leben wiederaufnehmen, was ihr auch erstaunlich gut gelang: Sie studierte Philosophie und machte anschließend eine steile akademische Karriere, die zu einem umfangreichen Werk und Scharen dankbarer Studenten führte.
Es mussten allerdings Jahrzehnte vergehen, bis sie sich entschloss, ihre Erinnerungen an die Gulag-Zeit niederzuschreiben. Sie tat es zögernd und langsam, wohl wissend, dass nach so langer Zeit "die Vergangenheit verblasst", aber auch dass es "Dinge" gibt, die man "so laut hinausschreien" sollte, "dass jeder die Schreie hören kann". Zum Glück entschied sie sich letztendlich für einen leiseren Erzählton, und ihre Bedenken "erinnerungstechnischer" Natur waren offenbar unbegründet: Ihr Buch setzt sich aus mehreren Kapiteln zusammen, deren Detailreichtum eine genaue Vorstellung vom Leben im Lager ermöglicht. Denn einerseits deckt es komplett ihre Haftzeit ab, von den Gefängnissen über die Lager, in denen sie Krankenschwester, Vorarbeiterin in der Ziegelei und manches mehr war, bis hin zur Kolchose. Und andererseits schreckt sie nicht davor zurück, die intimsten Themen aus der Sicht einer Frau anzusprechen: Die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, die Angst vor Vergewaltigung und Schwangerschaft oder das Erfindertum in Sachen Körperpflege.
Ihr Bericht beeindruckt auch durch seine Konkretheit der Schilderungen von Ereignissen und Personen und besticht durch seine Empathie. Letztere dürfte ihr nicht immer leichtgefallen sein: Die von ihr geschilderte Extremsituation ist geprägt vom Hunger, von unmenschlichen Arbeitsbedingungen, von Krankheiten, die ihre Opfer derart degradierten, dass diese selbst unter den Mithäftlingen Abscheu erregten. Dennoch schreibt sie lieber über andere als über sich selbst, und manche der Schicksale, die sie erzählt, wird man nicht so schnell vergessen.
Allen voran das eines mit Skarga befreundeten deutschen Arztes, der während des Krieges in Brüssel für einen Kollegen eingesprungen war, ohne zu ahnen, um was für eine Art Vertretung es sich handelte, und so zum aktiven Teilnehmer einer Selektion von Häftlingen wurde. Daraufhin quittierte er den Dienst und schloss sich dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten an, um im Endeffekt in die Hände der Sowjets zu fallen.
Die Erinnerungen gewähren auch Einblick in die Verhaltensregeln im Lager. Hass, Gewalt und Zynismus sind an der Tagesordnung; Mut und Gerechtigkeitssinn kommen selten vor. Das sowjetische Strafsystem ist darauf ausgerichtet, die Häftlinge in einen Zustand zu versetzen, in dem alles, was zeitlich vor und räumlich außerhalb des Lagerdaseins liegt, für sie nicht mehr existiert, und man findet in Skargas Buch viele Stellen, die diesen Wesenszug beleuchten. Das haben zwar vor ihr bereits einige getan, Warlam Schalamow in "Geschichten aus Kolyma" und vor allem Aleksandr Solschenizyn in "Archipel Gulag", doch die beiden haben die sowjetische Strafwelt aus einer russischen Perspektive dargestellt, während Skarga es aus der Perspektive einer Polin tut, die sich zudem, wie sie mehrmals betont, als Europäerin fühlt, sprich als Erbin einer humanitären Kultur. So lässt sich ihr Buch wohl am besten mit "Welt ohne Erbarmen" des polnischen Exilschriftstellers Gustaw Herling vergleichen, einem weiteren Bericht über die sowjetischen Straflager, dem die eigenen Erfahrungen des Autors zugrunde liegen. Der Autor verbrachte zwar "nur" zwei Jahre in einem sowjetischen Straflager, doch schon diese verhältnismäßig kurze Zeit war eine Erfahrung, die für ihn als Schriftsteller dauerhafte Folgen hatte: Die Existenz des Bösen, das Leid als unvermeidbarer Teil des menschlichen Daseins oder die Einsamkeit als Strafe waren seitdem seine zentralen Themen - die bei Skarga, die übrigens in ihrem Buch mehrmals Herlings Bericht erwähnt, ebenfalls präsent sind.
Dass der Krieg in der Ukraine ihren Aufzeichnungen eine besondere Aktualität verleiht, braucht man wohl kaum zu betonen. So vieles, was sie darin beschreibe, so Alicja Gescinska, die Verfasserin einer sehr informativen Einleitung, sei durch diesen Krieg "auf schmerzliche Weise wiedererkennbar geworden. Die russische Rhetorik über die Notwendigkeit, das Nachbarland von den Faschisten zu befreien. Menschen, die in Züge Richtung Osten gesetzt wurden. Hunger als Waffe. Deportationen, die Evakuierungen genannt wurden." Man muss ihr zustimmen, dass "Nach der Befreiung" (die Ironie dieses Titels ist kaum zu überbieten) nicht nur ein historisch bedeutendes, sondern auch ein literarisch gelungenes und gedanklich beeindruckendes Buch ist. Man fragt sich allerdings - trotz der editorischen Notiz, die das zu erklären versucht -, warum die deutsche Ausgabe auf der niederländischen Übersetzung und nicht auf dem polnischen Original basiert. Zugegeben, seine Erstausgabe von 1985, die unter dem Pseudonym Wiktoria Krasniewska im Pariser Exilverlag Instytut Literacki erschien, wäre aufgrund der Fehler, die man später entdeckte, keine geeignete Grundlage gewesen. Es gibt aber auch die Neuausgabe von 2008, die von Barbara Skarga, die erst ein Jahr später starb, vermutlich durchgesehen wurde. MARTA KIJOWSKA
Barbara Skarga: "Nach der Befreiung". Aufzeichnungen aus dem Gulag 1944 -1956.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2024. 516 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Nicht nur ein historisch bedeutendes, sondern auch ein literarisch gelungenes und gedanklich beeindruckendes Buch.« Marta Kijowska Frankfurter Allgemeine Zeitung