Ist ein 1922 gestorbener japanischer Arzt, Militär und Dichter heute überhaupt noch von Interesse und verdient eine Biografie? Im Urteil Donald Keenes, des vielleicht besten westlichen Kenners der japanischen Literatur, steht Mori Ogai – neben Natsume Soseki – an der Spitze der modernen japanischen Literatur. Für die deutschsprachige Leserschaft ist Mori Ogai von ganz besonderem Interesse, hat er sich schließlich als erstrangiger Kulturmittler zwischen Deutschland und Japan verdient gemacht. Mori Ogais Faust-Übersetzung ins Japanische gilt noch heute als unübertroffen, um nur ein wesentliches Verdienst Ogais herauszugreifen. Die Übersetzung und Veröffentlichung eines dreißig Jahre alten Textes aus der untergegangenen Sowjetunion bedarf jedoch einer Begründung. Man könnte es sich einfach machen und sagen, dass es – neben Galina Dmitrievna Ivanovas Mori Ogai-Biografie aus dem Jahre 1982 (Russisch) – nur noch eine einzige weitere Ogai-Biografie in einer westlichen Sprache (Englisch) gibt: J. Thomas Rimers “Mori Ogai” aus dem Jahre 1975, vom Umfang her nahezu gleich. Selbst R. J. Bowrings vielzitierte Studie „Mori Ogai and the modernization of Japanese culture“, die man auch als Biografie lesen kann, liegt schon mehr als dreißig Jahre zurück (Erstveröffentlichung 1979). Alle drei genannten Werke sind nur noch über Universitätsbibliotheken oder zu Liebhaberpreisen über internationale Antiquariate zugänglich. Ein neueres Werk mit ausführlichen Angaben zu Mori Ogais Leben und Werk ist K. Krachts und K. Tateno-Krachts „Ogais ‚Noël‘“, das allerdings einem speziellen Aspekt gewidmet und keine Biografie im eigentlichen Sinne ist. Ein weiterer Gesichtspunkt erscheint aber beinahe gleichwertig. Im „Westen“ wird bis heute die sowjetische/russische Japanologie kaum wahrgenommen, sieht man einmal von dem unlängst verstorbenen Japanologen Bruno Lewin ab. Wahrscheinlich sind mangelnde russische Sprachkenntnisse bei den Japanologen die Ursache. Dies ist bedauernswert, fallen doch damit die Ergebnisse der eigenständigen russischen Orientalistik, die bis auf Zar Peter den Großen zurückblicken kann, unter den Tisch. Es dürfte für manchen Japanologen, der G.D. Ivanovas Mori Ogai-Biografie liest, ein „eye opener“ sein, was eine sowjetische Japanologin über ihren Forschungsgegenstand vorwiegend durch Studium der japanischen Originalliteratur herausfinden konnte, und dies ohne dass ihr die modernen Hilfsmittel des akademischen Arbeitens (Kopierer, Computer und Internet) zur Verfügung gestanden hätten.