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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2001

Weltgeschichte als Agentenstory
Parvus-Helphand, Lenin und die angeblich gekaufte russische Revolution

Elisabeth Heresch: Geheimakte Parvus. Die gekaufte Revolution. Biographie. Mit 37 Abbildungen und Dokumenten. Langen Müller Verlag, München 2000. 400 Seiten, 49,90 Mark.

Die deutsche Reichsleitung unterstützte während des Ersten Weltkriegs die revolutionäre Bewegung in Rußland mit Millionenbeträgen. Als Mittelsmann diente ihr dabei eine Person von durchaus zweifelhaftem Ruf. Mit bürgerlichem Namen hieß er Israil Lasarewitsch Helphand, in der Szene besser bekannt unter dem Pseudonym Alexander Parvus. Die Kontakte liefen über ein Export-Import-Unternehmen, das Parvus mit tatkräftiger Unterstützung deutscher Stellen im neutralen Dänemark aufgebaut hatte. So konnten neben Waren auch Waffen, Zeitungen, Flugblätter und beträchtliche Geldbeträge über die finnische Grenze nach Rußland gebracht werden. Parvus hatte die Hände im Spiel, als Lenin im Frühjahr 1917 - im "plombierten Waggon" - mit Hilfe der deutschen Reichsleitung aus dem Schweizer Exil ins revolutionäre Petrograd zurückkehrte.

Parvus brachte für die politische wie die ökonomische Seite seines subversiven Auftrags beste Voraussetzungen mit. 1867 im Gouvernement Minsk geboren und in Odessa zur Schule gegangen, war er in Basel in Nationalökonomie promoviert worden. Er wurde Journalist, blieb im Westen und schrieb für sozialdemokratische Zeitschriften. Er profilierte sich dabei zunächst als bissiger Kritiker Bernsteins und jener "revisionistischen" Kreise in der SPD, die nicht so recht an das baldige Ende des Kapitalismus glauben mochten.

Daß sich Parvus bald ein üppiges Leben in wechselnder weiblicher Begleitung - mit Champagner und dicken Zigarren - leisten konnte, hing allerdings nicht mit Lenin zusammen. Parvus hatte den Schriftsteller Maxim Gorki dazu gebracht, ihm die Verwertungsrechte seiner Werke für Westeuropa anzuvertrauen. Er gründete daraufhin einen eigenen Verlag und profitierte von Gorkis Welterfolg "Nachtasyl". Doch der Geschäftserfolg war nicht von Dauer, und so kamen Parvus die turbulenten Ereignisse der ersten russischen Revolution (1905) gerade recht, um sich nach Sankt Petersburg aufzumachen.

Parvus sah sich durch die Petersburger Ereignisse in seiner Auffassung bestätigt, daß der Zarismus nach der Niederlage im Krieg gegen Japan vor dem Zusammenbruch stehe, das russische Proletariat dabei - mit dem politischen Massenstreik als Waffe - eine Schlüsselrolle spielen werde und zur Avantgarde der Weltentwicklung werden könne. Den Kerngedanken griff Leo Trotzki, der neue Weggefährte, auf und führte ihn weiter: Stehe das russische Proletariat erst einmal an der Spitze der revolutionären Bewegung, werde es sich nicht mit dem Sturz des Zarismus begnügen, sondern eigene Forderungen stellen und der "bürgerlichen" Phase der Revolution unmittelbar die "sozialistische" folgen lassen. Damit war die Leitidee einer "Revolution in Permanenz" oder "permanenten Revolution" formuliert, an der sich später auch Lenin orientierte.

Doch die Theorie eilte der Wirklichkeit voraus, die Unruhen wurden niedergeschlagen, wie Trotzki so auch Parvus verhaftet; zu drei Jahren Sibirien verurteilt, gelang es ihm, von dort zu fliehen. Ende 1906 war Parvus wieder in Deutschland. Auch hier erwartete ihn Ungemach. Gorki warf ihm vor, sämtliche Tantiemen unterschlagen zu haben. So viel Kleinbürgerlichkeit vergällte dem Eben-noch-Revolutionär das Leben in Deutschland. Er zog sich erst nach Wien, dann in die Türkei zurück. Als Vermittler von Holz und Getreide, Eisen und Maschinen, Waffen und Munition machte er binnen weniger Jahre ein Millionenvermögen.

Der Weltkrieg belebte die alten Phantasien neu. Dabei verband sich die Überzeugung, daß der Krieg Folge von Kapitalismus und Imperialismus sei, für Parvus wie selbstverständlich mit der Forderung, ihn zum Kampf gegen den Zarismus zu nutzen. Dazu bot er der deutschen Reichsleitung im Frühjahr 1915 seine Hilfe an. In einem Memorandum vom 9. März 1915 legte er dar, wie unter der Leitung der russischen Sozialdemokratie ein politischer Massenstreik vorbereitet, nationale Bewegungen in Finnland, der Ukraine, im Kaukasus unterstützt, durch Pressekampagnen in den Nachbarstaaten und in Nordamerika flankiert werden sollten. Er fand damit erst beim deutschen Botschafter in Konstantinopel, dann im Berliner Auswärtigen Amt aufmerksame Zuhörer. Sie versorgten ihn mit all dem, was er zur Durchführung seines Planes für nötig hielt.

Kopenhagen wurde zum Operationszentrum des Unternehmens, die dortige deutsche Botschaft zur politischen Leitstelle. Der zunächst avisierte Zeitpunkt - Januar 1916 - verstrich, ohne daß es in Rußland zum großen Knall gekommen wäre. Als der Eventualfall ein Jahr später dann eintrat, war nicht so recht ersichtlich, daß die Unruhen auf das Konto von Parvus gingen. Immerhin trug Parvus das Seine dazu bei, damit Lenin ins revolutionäre Petrograd zurückkehren und die Fortführung der Revolution predigen konnte. Im Winter 1917/18 war das angestrebte Ziel erreicht, auf die "bürgerliche" die "sozialistische Oktoberrevolution" gefolgt und die Allianz gesprengt: Das bolschewistische Rußland schloß Frieden mit den Mittelmächten in Brest-Litowsk.

Parvus-Helphand - ein turbulentes Leben und eine spannende Geschichte. Nur, neu ist die Geschichte nicht. Die Fäden, die von der deutschen Reichsleitung über Parvus zur revolutionären Bewegung liefen, waren der russischen Geheimpolizei nicht verborgen geblieben. Schon im Sommer 1917 hatten die Gegner Lenins die Umstände seiner Rückkehr enthüllt und ihn als "deutschen Agenten" bloßzustellen versucht. Selbst wenn die Bolschewiki alles abstritten, von bloßer Hetze sprachen und das Thema nach der Oktoberrevolution in Rußland tabu wurde, blieb es im Westen präsent und führte in den sechziger Jahren zwei Historiker erneut auf die Spur jener dubiosen Figur, die dabei eine Schlüsselrolle spielte (Winfried B. Scharlau/Zbynek A. Zeman: Freibeuter der Revolution. Parvus-Helphand. Köln 1964). Wer nach präziser Information und politischer Einordnung sucht, wird noch immer zu dieser Biographie greifen.

Dabei ist das Quellenverzeichnis der Darstellung von Elisabeth Heresch beeindruckend. Es führt 14 Archive in acht Ländern auf. Doch die Verfasserin nennt nur die Namen der Archive und beschreibt nicht, welche Aktenbestände sie durchgesehen hat. Auf Anmerkungen und Belege wird generell verzichtet. Man mag einwenden, daß sich die Darstellung an einen breiteren Leserkreis wendet, sich entsprechend stärker auf "das Erzählen" konzentriert. Doch irgendwie fragt man sich, ob das vermittelte Gesamtbild "stimmt".

Heresch beschränkt sich ganz auf Parvus und seine Machenschaften. Wie stark eine solche Fixierung das Sichtfeld einengt, zeigt die Schilderung der Revolution von 1917 und ihrer Vorgeschichte: Hier reduziert sich Politik auf dunkle Geschäfte, sind Unruhen allein das Ergebnis von Subversion und Propaganda, schrumpft Weltgeschichte zur Agentenstory und Lenin zur Figur in einem Schachspiel, dessen Regeln sich andere ausgedacht hatten. Daß bei der russischen Revolution mehr im Spiel war als jene Millionenbeträge, mit denen sie - wie der Untertitel suggeriert - angeblich "gekauft" wurde, wird ernsthaft kaum zu bestreiten sein. Daß Lenin mehr war als eine Schachfigur, mußten bald auch jene einsehen, die ihn gefördert hatten. Schon eher glich er jenem Zauberlehrling, den man nicht mehr los wurde, nachdem man ihn erst einmal gerufen hatte.

HELMUT ALTRICHTER

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Geschichte über den Geschäftsmann und Revolutionär Alexander Parvus, der mit bürgerlichem Namen Israil Lasarewitsch Helphand hieß und als dunkler Mittelsmann das Geld für die Durchführung der russischen Revolution beschafft hatte, ist nicht neu, schreibt Helmut Altrichter. An der Biografie von Elisabeth Heresch hat der Rezensent denn auch einiges auszusetzen. Schon in den sechziger Jahren hätten die beiden Historiker Winfried B. Scharlau und Zbynek A. Zeman ein Buch über den zwielichtigen Handlanger vorgelegt, das Altrichter für wesentlich lesenswerter hält als das vorliegende. Denn präzise Informationen und eine politische Einordnung liefere die Autorin weniger. Zwar hat sie den Rezensenten mit ihrem Quellenverzeichnis zunächst beeindruckt, doch fehlt es ihm an Anmerkungen und Belegen für ihre Forschung. Auch wenn sie darauf zugunsten eines breiteren Leserkreises und einer besseres Verständlichkeit verzichtet hat - Altrichter fragt, ob das hier vermittelte Gesamtbild den historischen Fakten entspricht. Politik auf dunkle Geschäfte und eine Weltrevolution auf eine Agentenstory zu reduzieren sowie Lenin als bloße Figur in einem Schachspiel darzustellen, schränkt die historische Perspektive arg ein, bemängelt der Rezensent. Für ihn war Lenin eher ein Zauberlehrling, den man gerufen hatte und den man dann nicht mehr los wurde.

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