Das Buch ist eines der Hauptwerke der europäischen Literatur.
Längst gehört Das Buch der Unruhe zum Kanon der Weltliteratur, und man darf es als unerwartetes Geschenk empfinden, daß bald weitere 200 Seiten dieses Werks vorliegen. Um gut ein Drittel erweitert ist die Neuausgabe, deren Textabfolge auf Grundlage der neu gefundenen Texte eine gänzlich neue Anordnung erfahren hat. Ein Hauptwerk der europäischen Literatur erscheint somit erstmals vollständig, teils in überarbeiteter und teils in neuer Übersetzung. Fernando Pessoas Buch der Unruhe bildet damit den Ausgangspunkt für die "definitive Edition" seiner Werke im Ammann Verlag. In den nächsten Jahren werden sämtliche Werke des Portugiesen in erweiterten Fassungen und neu übersetzt herausgegeben.
Längst gehört Das Buch der Unruhe zum Kanon der Weltliteratur, und man darf es als unerwartetes Geschenk empfinden, daß bald weitere 200 Seiten dieses Werks vorliegen. Um gut ein Drittel erweitert ist die Neuausgabe, deren Textabfolge auf Grundlage der neu gefundenen Texte eine gänzlich neue Anordnung erfahren hat. Ein Hauptwerk der europäischen Literatur erscheint somit erstmals vollständig, teils in überarbeiteter und teils in neuer Übersetzung. Fernando Pessoas Buch der Unruhe bildet damit den Ausgangspunkt für die "definitive Edition" seiner Werke im Ammann Verlag. In den nächsten Jahren werden sämtliche Werke des Portugiesen in erweiterten Fassungen und neu übersetzt herausgegeben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2001Im Reich der Misanthropen
Leiden in Literatur und Leben: Der Roman „Unruhe” des Norwegers Finn Skårderud
Wenn sich das Subjektivste des Menschen in den Künsten, auf der Couch, manchmal auch vor Gericht oder im Bordell artikuliert, so erfährt der Psychotherapeut von Grenzproblemen, die Menschen umtreiben, welche aus den Rastern der Statistik in der Regel herausfallen. Der Trip des norwegischen Arztes Finn Skårderud in das Selbst des Zeitgenossen führt geografisch unter anderem über Wien, Lissabon, Los Angeles, Prag und Hongkong. In seinem Buch lässt der Autor Fallgeschichten auf Reiseimpressionen folgen, die von Literaturstudien abgelöst werden – und vice versa. Was die „symptomatische Lektüre literarischer Texte” betrifft, so ergänzt Skårderud diese meist durch eine Reise zwecks Studiums des genius loci, gleich anderen Literatur-Touristen. Schon der Titel seiner Reflexionen ist inspiriert von Fernando Pessoa, dessen Buch der Unruhe.
Rastlosigkeit, Unzufriedenheit als Signal der Epoche? „Der einzig stabile Zustand ist der Zustand der Instabilität”, heißt es apodiktisch. Wir wissen das seit Heraklit, aber der Autor fügt hinzu: „Unruhe ist die verrückte Rede der Liebe. ” Wenn Skårderud die Strategien schildert – seien es die seiner Klientel, seien es jene bestimmter Künstler –, das innere Territorium der Psyche unter Kontrolle zu halten, steckt er das Ziel seiner Phänomenologie ab: Sie möchte ganz allgemein die „Schwierigkeiten, sich zu verhalten”, beschreiben und deuten. Der auf Ess-Störungen spezialisierte Analytiker vertritt die Ansicht, dass sich die Symptome seiner Patienten – Selbstverletzungen, Anorexie, Bulimie, Drogenmissbrauch – als Folgen eines korrodierten, fragilen Selbstwertgefühls übersetzen lassen. Antithetisch zu Christopher Laschs zwanzig Jahre alter Polemik („Das Zeitalter des Narzissmus”) strengt der Autor eine Neudefinition des Narzissmus an. Selbstgenügsamkeit, diese „neue Dementia” (Julia Kristeva), sei lediglich eine Maske, hinter der sich Liebeshunger verberge: „Die narzisstische Person versucht mit aller Macht, geliebt zu werden, aber es gelingt ihr nicht, denn sie ist nicht in der Lage, sich selbst wie einen anderen Menschen zu lieben. ”
Wenn Skårderuds eigentliches Thema das Problem der Scham zu sein scheint, so nur als eine Facette des Narzissmus. „Scham ist ein lebensfeindliches Gefühl, und sie ist schwer zu teilen. Das Leiden wird depressiv bestätigt, indem derjenige, der zeigt, dass er niemanden braucht, sich so verhält, dass die anderen gehen. ”
Am Beispiel von Strindberg, Stig Dagermann (der Suizid beging) und Finn Alnæs werden Schaffenskrisen von Schriftstellern exploriert. Es leuchtet ein, dass grandiose Ansprüche an sich selbst letztendlich lähmen können – weniger nachvollziehbar ist, dass Größe zwangsläufig mit der „Wut” einhergehen soll, „seine Selbstverachtung und sein unerfülltes Begehren kompensieren zu müssen”. Um seine Argumentation zu untermauern, pickt sich der Autor Franz Kafka („es gibt eine Kunst, die aus Kränkung entspringt”), Thomas Bernhard, Fernando Pessoa und Alberto Giacometti heraus: In bester psycho-pathografischer Tradition wird Bernhard „narzisstische Wut” nebst „manischer Misanthropie” attestiert. Bernhards „literarische Methode ist Überlebenskunst, um der Melancholie zu entkommen”.
Ausflug in die Piercing-Szene
Da der Mediziner, wie er selbst eingesteht, von der Vita des Österreichers so gut wie nichts weiß, greift die Exegese zu kurz. Literarisches Schreiben reduzierte sich andernfalls auf einen Allmachtsrausch, wäre in dieser Perspektive Symptom und Selbstheilungsversuch in einem. Nach Skårderud verdankt sich auch Pessoas „Buch der Unruhe”, das er immerhin als eines der subjektivsten Werke der modernen Literatur qualifiziert, einer „depressiven narzisstischen Kränkung”. Die exzessive „Selbstbezogenheit” seiner Notate schließe den Leser aus. Nomen est omen: Die Übersetzung des Eigennamens Pessoa lautet Person, das lateinische persona verweist auf die Maske des Schauspielers, kein Wunder also, wenn der Dichter, der es auf 30 Heteronyme brachte, auf Fotos wie der exemplarische „Mann ohne Eigenschaften” wirkt! Folglich sei der „geistige Ursprung” von Pessoas Heteronymie in einer „angeborenen, beständigen Neigung zur Entpersönlichung und Verstellung” zu suchen.
Dass derartige Reduktionen etwas zur Kreativitätstheorie beitragen, wage ich stark zu bezweifeln. Vor allem werden sie dem Spezifischen des jeweiligen Werkes in keiner Weise gerecht. Kunst ist mehr als ein „Antidepressivum”. Es mag ja zutreffen, dass dem scheuen Pessoa, der sich bis zum Eigennamen durchstrich, keine Objektbeziehung glückte – allein die Lektüre seiner „Liebesbriefe” kostet Überwindung –, diese Einsicht aber stellt keinen Universalschlüssel zum Verständnis des Œuvres dar. Steht Kafkas Hungerkünstler für die Auslotung des modernen Menschen in seiner unsicheren Identität, so materialisiert sich in Giacomettis Plastiken die „moderne Melancholie”, Verlust erleben.
Es fällt auf, dass der Autor ausnahmslos Kreative zitiert, die ein problematisches Verhältnis zur Frau hatten (die Liste ließe sich um Beckett, Artaud und andere erweitern), so als sei ihre Aufgabe, das Werk, unvereinbar gewesen mit dem, was Beziehung genannt wird. Doch der glückliche Asketismus Giacomettis, der keineswegs Enthaltsamkeit implizierte, hat metaphysische Gründe.
Anlässlich einer Kongressreise betreibt Skårderud Feldforschung in der New Yorker Piercing- und Tattoo-Szene. Er fragt sich, was diese ,modernen Primitiven‘ mit seinen Klientinnen gemeinsam haben, die sich zwanghaft Verletzungen zufügen und um Hilfe in seiner Praxis nachsuchen. „Das Blut ist wie eine Decke”, zitiert er eine Patientin, „dann brauche ich niemanden. ” Parallel zu diesen mit Scham besetzten kathartischen Praktiken gibt es die Faszination der Angstlust, jene „Übungen im Grenzbereich”, zum Beispiel in den Extremsportarten. Haben nicht Huizinga, Caillois, Bataille stringente Interpretationen für unser Hier und Jetzt vorgelegt? Gefährlich leben, das Leben aufs Spiel setzen: Zu Parolen verkürzt, könnte man das Gemeinte mit dem bemühten Hedonismus riskanten Freizeitverhaltens verwechseln. Heute ist das Versprechen intensiver Erfahrungen zur PR-Strategie der Urlaubsindustrie geworden.
Sympathisch macht das durchaus lesbare Buch die Empathie, die in den Fallgeschichten durchschimmert. Seine rhapsodische Komposition erinnert insbesondere an Kristevas „Geschichten von der Liebe”. Und um Joyce McDougall zu zitieren, würde ich auch dieses Buch ein vielschichtiges „Plädoyer für eine gewisse Anormalität” nennen.
BERND MATTHEUS
FINN SKÅRDERUD: Unruhe. Eine Reise in das Selbst. Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Frankfurt 2000. 437 Seiten, 39 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Leiden in Literatur und Leben: Der Roman „Unruhe” des Norwegers Finn Skårderud
Wenn sich das Subjektivste des Menschen in den Künsten, auf der Couch, manchmal auch vor Gericht oder im Bordell artikuliert, so erfährt der Psychotherapeut von Grenzproblemen, die Menschen umtreiben, welche aus den Rastern der Statistik in der Regel herausfallen. Der Trip des norwegischen Arztes Finn Skårderud in das Selbst des Zeitgenossen führt geografisch unter anderem über Wien, Lissabon, Los Angeles, Prag und Hongkong. In seinem Buch lässt der Autor Fallgeschichten auf Reiseimpressionen folgen, die von Literaturstudien abgelöst werden – und vice versa. Was die „symptomatische Lektüre literarischer Texte” betrifft, so ergänzt Skårderud diese meist durch eine Reise zwecks Studiums des genius loci, gleich anderen Literatur-Touristen. Schon der Titel seiner Reflexionen ist inspiriert von Fernando Pessoa, dessen Buch der Unruhe.
Rastlosigkeit, Unzufriedenheit als Signal der Epoche? „Der einzig stabile Zustand ist der Zustand der Instabilität”, heißt es apodiktisch. Wir wissen das seit Heraklit, aber der Autor fügt hinzu: „Unruhe ist die verrückte Rede der Liebe. ” Wenn Skårderud die Strategien schildert – seien es die seiner Klientel, seien es jene bestimmter Künstler –, das innere Territorium der Psyche unter Kontrolle zu halten, steckt er das Ziel seiner Phänomenologie ab: Sie möchte ganz allgemein die „Schwierigkeiten, sich zu verhalten”, beschreiben und deuten. Der auf Ess-Störungen spezialisierte Analytiker vertritt die Ansicht, dass sich die Symptome seiner Patienten – Selbstverletzungen, Anorexie, Bulimie, Drogenmissbrauch – als Folgen eines korrodierten, fragilen Selbstwertgefühls übersetzen lassen. Antithetisch zu Christopher Laschs zwanzig Jahre alter Polemik („Das Zeitalter des Narzissmus”) strengt der Autor eine Neudefinition des Narzissmus an. Selbstgenügsamkeit, diese „neue Dementia” (Julia Kristeva), sei lediglich eine Maske, hinter der sich Liebeshunger verberge: „Die narzisstische Person versucht mit aller Macht, geliebt zu werden, aber es gelingt ihr nicht, denn sie ist nicht in der Lage, sich selbst wie einen anderen Menschen zu lieben. ”
Wenn Skårderuds eigentliches Thema das Problem der Scham zu sein scheint, so nur als eine Facette des Narzissmus. „Scham ist ein lebensfeindliches Gefühl, und sie ist schwer zu teilen. Das Leiden wird depressiv bestätigt, indem derjenige, der zeigt, dass er niemanden braucht, sich so verhält, dass die anderen gehen. ”
Am Beispiel von Strindberg, Stig Dagermann (der Suizid beging) und Finn Alnæs werden Schaffenskrisen von Schriftstellern exploriert. Es leuchtet ein, dass grandiose Ansprüche an sich selbst letztendlich lähmen können – weniger nachvollziehbar ist, dass Größe zwangsläufig mit der „Wut” einhergehen soll, „seine Selbstverachtung und sein unerfülltes Begehren kompensieren zu müssen”. Um seine Argumentation zu untermauern, pickt sich der Autor Franz Kafka („es gibt eine Kunst, die aus Kränkung entspringt”), Thomas Bernhard, Fernando Pessoa und Alberto Giacometti heraus: In bester psycho-pathografischer Tradition wird Bernhard „narzisstische Wut” nebst „manischer Misanthropie” attestiert. Bernhards „literarische Methode ist Überlebenskunst, um der Melancholie zu entkommen”.
Ausflug in die Piercing-Szene
Da der Mediziner, wie er selbst eingesteht, von der Vita des Österreichers so gut wie nichts weiß, greift die Exegese zu kurz. Literarisches Schreiben reduzierte sich andernfalls auf einen Allmachtsrausch, wäre in dieser Perspektive Symptom und Selbstheilungsversuch in einem. Nach Skårderud verdankt sich auch Pessoas „Buch der Unruhe”, das er immerhin als eines der subjektivsten Werke der modernen Literatur qualifiziert, einer „depressiven narzisstischen Kränkung”. Die exzessive „Selbstbezogenheit” seiner Notate schließe den Leser aus. Nomen est omen: Die Übersetzung des Eigennamens Pessoa lautet Person, das lateinische persona verweist auf die Maske des Schauspielers, kein Wunder also, wenn der Dichter, der es auf 30 Heteronyme brachte, auf Fotos wie der exemplarische „Mann ohne Eigenschaften” wirkt! Folglich sei der „geistige Ursprung” von Pessoas Heteronymie in einer „angeborenen, beständigen Neigung zur Entpersönlichung und Verstellung” zu suchen.
Dass derartige Reduktionen etwas zur Kreativitätstheorie beitragen, wage ich stark zu bezweifeln. Vor allem werden sie dem Spezifischen des jeweiligen Werkes in keiner Weise gerecht. Kunst ist mehr als ein „Antidepressivum”. Es mag ja zutreffen, dass dem scheuen Pessoa, der sich bis zum Eigennamen durchstrich, keine Objektbeziehung glückte – allein die Lektüre seiner „Liebesbriefe” kostet Überwindung –, diese Einsicht aber stellt keinen Universalschlüssel zum Verständnis des Œuvres dar. Steht Kafkas Hungerkünstler für die Auslotung des modernen Menschen in seiner unsicheren Identität, so materialisiert sich in Giacomettis Plastiken die „moderne Melancholie”, Verlust erleben.
Es fällt auf, dass der Autor ausnahmslos Kreative zitiert, die ein problematisches Verhältnis zur Frau hatten (die Liste ließe sich um Beckett, Artaud und andere erweitern), so als sei ihre Aufgabe, das Werk, unvereinbar gewesen mit dem, was Beziehung genannt wird. Doch der glückliche Asketismus Giacomettis, der keineswegs Enthaltsamkeit implizierte, hat metaphysische Gründe.
Anlässlich einer Kongressreise betreibt Skårderud Feldforschung in der New Yorker Piercing- und Tattoo-Szene. Er fragt sich, was diese ,modernen Primitiven‘ mit seinen Klientinnen gemeinsam haben, die sich zwanghaft Verletzungen zufügen und um Hilfe in seiner Praxis nachsuchen. „Das Blut ist wie eine Decke”, zitiert er eine Patientin, „dann brauche ich niemanden. ” Parallel zu diesen mit Scham besetzten kathartischen Praktiken gibt es die Faszination der Angstlust, jene „Übungen im Grenzbereich”, zum Beispiel in den Extremsportarten. Haben nicht Huizinga, Caillois, Bataille stringente Interpretationen für unser Hier und Jetzt vorgelegt? Gefährlich leben, das Leben aufs Spiel setzen: Zu Parolen verkürzt, könnte man das Gemeinte mit dem bemühten Hedonismus riskanten Freizeitverhaltens verwechseln. Heute ist das Versprechen intensiver Erfahrungen zur PR-Strategie der Urlaubsindustrie geworden.
Sympathisch macht das durchaus lesbare Buch die Empathie, die in den Fallgeschichten durchschimmert. Seine rhapsodische Komposition erinnert insbesondere an Kristevas „Geschichten von der Liebe”. Und um Joyce McDougall zu zitieren, würde ich auch dieses Buch ein vielschichtiges „Plädoyer für eine gewisse Anormalität” nennen.
BERND MATTHEUS
FINN SKÅRDERUD: Unruhe. Eine Reise in das Selbst. Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Frankfurt 2000. 437 Seiten, 39 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Fernando Pessoa, der "wichtigste portugiesische Autor" des 20. Jahrhunderts, war nicht ein Autor, sondern gleich mehrere - Figuren, die er sich erträumt oder erdacht hatte, berichtet Rezensent Jörg Sundermeier. Es wäre ein Fehler, Pessoa mit dem Hilfsbuchhalter Bernardo Soares zu verwechseln. Die Übersetzerin der Neuausgabe des "Buches der Unruhe", Inés Koebel, scheint aber eben diesem Irrtum auf dem Leim gegangen zu sein, stellt Sundermeier fest. Die "Autobiografie ohne Ereignisse", der umfangreichste Teil des Buches, scheine ihr - wie auch dem portugiesische Herausgeber Richard Zenith - als die Autobiografie des "wahren" Pessoa zu gelten. Die Texte und Textfragmente des Buchmanuskripts, Zettel ohne Bauplan und genaue Anweisungen, habe Zenith thematisch geordnet. Dadurch wird die Lektüre des Buches im Vergleich zur alten Ausgabe nach Einschätzung Sundermeiers "anstrengender". Einerseits wegen der Unzahl von gedanklichen Wiederholungen, andererseits, weil aus dem kontrollierten und bissigen Melancholiker, als den man Soares bislang kannte, ein Romantiker geworden sei, der seine narzisstische Gekränktheit kaum verbergen könne. Dass Zenith den Zustand des Materials offen gelegt hat, würdigt Sundermeier als "großes Verdienst der Neuausgabe", auch wenn die Anordnung des Materials Pessoa möglicherweise nicht gefallen hätte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2003Der achte Kontinent
Fernando Pessoas "Buch der Unruhe" in revidierter Neuausgabe
Reisen mochte er nicht. Überhaupt war ihm jede Form der Ortsveränderung ein Greuel oder besser gesagt: Zeitverschwendung. "Zum Mich-Bewegen fehlt mir etwas zwischen Seele und Körper; nicht das Bewegen verweigert sich mir, sondern das Verlangen nach ihm." Der einzige Weg, den der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares aus Überzeugung geht, ist der tägliche Weg in sein Büro in der Rua dos Douradores, in den vierten Stock der Firma zu seinem Chef Vasques, dem Buchhalter, dem Laufburschen, dem Kassierer und der Katze. Obwohl ihn das ereignislose Angestelltendasein, das ewige Bilanzieren ohne endgültige Summe bedrückt, käme ihm eine Trennung von ihm wie ein "halber Tod" vor. Schon der Tejo scheint Soares ein endloser Atlantik, unmöglich zu überqueren, das Viertel am anderen Ufer ein fremdes Universum.
Doch die Trägheit ist nur die Kehrseite einer inneren Flexibilität, eines fast quecksilbrigen, nie zum Stillstand kommenden Drangs zum Tourismus des Imaginativen. "Ich verstehe, daß reisen muß, wer unfähig ist zu fühlen. Daher sind Reisebücher auch so arm an Erfahrung, sie taugen nur so viel wie die Vorstellungskraft dessen, der schreibt." Selbst die Welt Heinrichs des Seefahrers kann es mit der Ausdehnung dieses inneren Universums nicht aufnehmen: "Eure Karavellen, Herr, haben niemals eine Reise unternommen, die in ihrer Bedeutung dem Schiffbruch gleichkommt, den mein Denken mit diesem Buch erlitten hat." Noch das Scheitern des literarischen Vorhabens wird zum Triumph rein geistiger Mobilität, denn die "wahren Landschaften" seien die selbsterschaffenen: "Nicht einer der sieben Teile der Welt interessiert mich so, daß ich ihn wirklich sehen könnte; ich bereise den achten, und er ist mein."
Als Fernando Pessoas "Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" 1982 erstmals aus dem Nachlaß herausgegeben wurde, tauchte dieser achte, innere Erdteil aus dem Meer auf wie das sagenhafte Atlantis. Die Kenner von Pessoas Werk hatten davon gehört, doch mit seiner Veröffentlichung fand so etwas wie eine Kontinentalverschiebung auf der weltliterarischen Landkarte statt. Portugals Literatur rückte mit dem "Buch der Unruhe" vom Rand ins Zentrum der europäischen Moderne; Pessoas Lissabon lag in der fiktiven Topographie plötzlich neben dem Dublin des James Joyce, dem Prag Kafkas, dem Wien Musils, dem Triest Svevos.
Bis dahin war Pessoa vorwiegend als Begründer der modernen portugiesischen Poesie bekannt gewesen, als Zentralgestirn der intellektuellen und literarischen Szene seiner klassischen Moderne, der in Gestalt seiner berühmten "Heteronyme" - Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Álvaro de Campos - gleich ein ganzes Spektrum dichterischer Haltungen und Stile entwarf, so als wären in Deutschland die Gedichte Trakls, Benns und Brechts aus ein und derselben Feder geflossen. Doch erst mit dieser Sammlung von Prosafragmenten, in der Herausgeberfiktion des Vorworts dem kleinen Angestellten Soares zugeschrieben, wurde Pessoa zum Inbegriff und zum mythischen Übervater der portugiesischen Literatur. Auch in der deutschen Erstausgabe von 1985 wurde das Werk, an dem Pessoa kurz vor dem Ersten Weltkrieg und dann wieder von 1929 bis kurz vor seinem Tod 1935 arbeitete, zu einem großen Erfolg.
Georg Rudolf Lind, der damalige Herausgeber und Übersetzer, ging freilich mit dem Textkorpus wenig zimperlich um. Von den fünfhundert schon damals bekannten Textpartikeln nahm er weniger als die Hälfte in die deutsche Ausgabe auf, was vielleicht ironischerweise zu ihrem Erfolg beitrug. Denn so hatte sie fast den Charakter eines Breviers, eines Handorakels der Weltverachtung für die Manteltasche, das bei aller Schwere des Inhalts immerhin quantitativ gut zu bewältigen war. In der Zwischenzeit haben die Editoren weitere Fragmente aus Pessoas berühmter Nachlaßtruhe dem Werk zugeordnet; die deutsche Neuedition im Rahmen der Werkausgabe im Ammann Verlag orientiert sich an der vor wenigen Jahren in Lissabon von Richard Zenith herausgegebenen, philologisch stark revidierten Fassung und enthält jetzt 481 Bruchstücke sowie zahlreiche weitere, thematisch verwandte Prosatexte Pessoas.
Was nach dem Wellengang des Wiederauftauchens zu erkennen ist, läßt den deutschen Betrachter sich ungläubig die Augen reiben: Der Kontinent hat sich in seiner Ausdehnung schlichtweg verdoppelt. Was der Verlag bescheiden als "Neuausgabe" ankündigte, ist vielmehr ein völlig neues, umfangreiches Werk, dessen Längen- und Breitengrade, dessen Höhenkämme und Küstenzüge allererst zu vermessen und zu kartieren sind. Eine zerklüftete Seelenlandschaft bietet sich dar, wolkenverhangen, doch trotz reicher Niederschläge karg und schroff, lebensfeindlich bis zum völligen Absterben jeder Vitalität: "Sosehr ich auch in mich dringe, alle meine Traumpfade führen zu Lichtungen der Angst" und: "Mein Leben ist, als würde man mich mit ihm schlagen."
Das Dasein als Angestellter in einer Lissabonner Stoffhandlung wird zum Gleichnis der modernen Existenz, deren völlige Sinnlosigkeit noch nicht einmal durch radikalen Verzicht, durch Abkehr von der Welt, ja Selbstmord beendet werden kann. Denn selbst das bedeutete ja ein Handeln, zu dem es an Kraft mangelt. "Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter in irgendeinem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir zählen zusammen und gehen weiter; wir ziehen Bilanz und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns." Probleme - grundsätzlich unlösbar; Götter - eine "Funktion des Stils"; Liebe - eine Illusion; die Zukunft - durch ihre Offenheit nichts als eine Last; die Vergangenheit - eine einzige Ansammlung schmerzhafter Verluste. Das Bewußtsein selbst ist die größte Quelle aller Leiden, die einzige Linderung bietet der Schlaf, in dem Vergangenheit und Zukunft sowie die Illusion des eigenen unverwechselbaren Ichs abgestreift werden wie ein Anzug. So ist das Schreiben nicht etwa ein Ersatzhandeln, sondern vielmehr dem Schlaf verwandt: "Schreiben heißt vergessen. Die Literatur ist die angenehmste Art, das Leben zu ignorieren." In einem berühmten Brief an Adolfo Casais Monteiro von 1935 stellt Pessoa das "Erscheinen" seines "Halbheteronyms" Bernardo Soares dem Zustand geistiger Wachheit gegenüber: Er trete auf den Plan, "wenn ich müde und schläfrig bin und meine Hemmungen und mein Denkvermögen etwas nachgelassen haben; diese Prosa ist eine ständige Träumerei . . . Soares ist ich, allerdings ohne mein Denkvermögen und meine Emotionalität."
Bei der zergliedernden Schärfe seines Verstands mag dieser Hinweis einigermaßen befremdlich klingen und nicht frei von Koketterie - fest steht, daß Soares nicht einfach als Alter ego genommen werden kann, sondern eine Persönlichkeit eigenen Rechts ist. Das Ich sei ohnehin nur ein ästhetisches Phänomen, ein Kunstprodukt. Dennoch darf, ja muß man das "Buch der Unruhe" auch biographisch lesen. Es allein als zeitenthobenen Ausdruck einer sinnlosen Condition humaine zu verstehen würde ihm ebensowenig gerecht wie die folkloristische Verklärung seines ans Pathologische grenzenden Selbst- und Weltekels zur typisch portugiesischen "Saudade", auf deren Spuren man eine portweinselige Pauschalreise zum Ende der europäischen Fahnenstange unternehmen kann.
Pessoas spätes, unvollendetes Werk ist auch eine Reaktion auf die innenpolitischen Wirren seines Landes, ein Rückzug unter dem übernationalen Banner schopenhauerschen Pessimismus in das innere Imperium, während das Kolonialreich bereits dem Untergang geweiht war und die Monarchie einem chaotischen Wechselspiel demokratischer und diktatorischer Kräfte Platz gemacht hatte: "In mir selbst einen Staat gründen, mit Politik, Parteien und Revolutionen, und dies alles selbst sein, Gott im wirklichen Pantheismus dieses Ich-Volkes." Das "Drama im Menschen", so die berühmte Formel für die multiple Dichter-Persönlichkeit Pessoas, ist auch ein politisches Stück.
Während sich auf der historischen Bühne Salazar anschickt, seinen autoritären "Estado Novo" für Jahrzehnte als einziges Stück auf den Spielplan zu setzen, träumt Pessoas Buchhalter vom inneren Aufstand: "Revolutionär oder Reformer - sie erliegen dem gleichen Irrtum. Unfähig, die eigene Haltung zum Leben, das alles ist, oder zum eigenen Sein, das fast alles ist, zu beherrschen oder zu ändern, ergreift der Mensch die Flucht nach vorn, indem er versucht, die anderen und die Außenwelt zu verändern. Jeder Revolutionär, jeder Reformer ist ein Flüchtiger. Kämpfen heißt außerstande sein, sich selbst zu bekämpfen. Reformieren heißt, selbst nicht verbesserungsfähig sein." Der Angestellte ist kein Demokrat, der die Masse an den Annehmlichkeiten des Daseins beteiligt sehen wollte. Er hing in seinem Büro vielmehr Tagträumen vom Ruhm nach, der nur wenigen zuteil werden kann und auf dessen Gipfel nur Platz für einen allein ist. Er zitiert ein Diktum Ernst Haeckels, wonach der Abstand vom überlegenen zum gewöhnlichen Menschen viel größer sei als der von diesem zum Affen, ja, so Soares, selbst zu einer Katze: "Doch zwischen mir und dem Bauern gibt es einen Qualitätsunterschied, zurückzuführen auf die Existenz abstrakten Denkens in mir und uneigennütziger Gefühle; zwischen ihm und der Katze hingegen besteht in geistiger Hinsicht nur ein gradueller Unterschied." Wie jeder Kontinent besteht auch der achte nicht nur aus Gebirgen, sondern kennt auch Abgründe, die den Wanderer schwindeln machen und die sich nicht immer historisierend überbrücken lassen.
Natürlich muß man dieses Buch, das allenfalls Ansätze einer Entwicklung, geschweige denn einer Handlung bietet und sich als "Autobiographie ohne Fakten" versteht, nicht als Ganzheit aufnehmen. Das entspricht auch nicht seiner Intention, die auf erzählerische Zusammenhänge und strenge philosophische Kohärenz gleichermaßen verzichtet. Als Steinbruch, als Fundgrube von Beobachtungsfragmenten, Gedankensplittern und Aphorismen, als "jesuitische Kasuistik von Empfindungen" ist es freilich ebenso unerschöpflich wie das Leben selbst, von dem sich das Ich für immer wie durch eine Glasscheibe getrennt fühlt und dem es doch wie einer zerstörerischen Sucht heillos verfallen ist: "Jeder hat seinen Alkohol. Ich finde meinen Alkohol im Existieren." Pessoa starb 1935 an den Folgen einer Leberzirrhose.
Durchzittert vom innerlichen Reisefieber einer aller äußeren Bewegung und Tatendrang müden Existenz, wird sein "Buch der Unruhe" Pflichtlektüre für ewig Daheimbleibende bleiben, für introvertiert rasende Abenteurer, für Entdecker der eigenen Abgründe und innerer Labyrinthe. Als sicher begleitender Reiseführer, gar als zuverlässiger Baedecker durch die Windungen der Seele ist es nicht uneingeschränkt zu empfehlen. Viel zu verschlungen sind seine Wege, zu unzuverlässig ist der Maßstab, zu interpretationsbedürftig seine Legende. Wer mit diesem Buch in der Hand den achten Kontinent bereist, wird ihn nie mehr ganz verlassen können.
Fernando Pessoa: "Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares". Herausgegeben von Richard Zenith. Aus dem Portugiesischen übersetzt und revidiert von Inés Koebel. Ammann Verlag, Zürich 2003. 576 S., geb, 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fernando Pessoas "Buch der Unruhe" in revidierter Neuausgabe
Reisen mochte er nicht. Überhaupt war ihm jede Form der Ortsveränderung ein Greuel oder besser gesagt: Zeitverschwendung. "Zum Mich-Bewegen fehlt mir etwas zwischen Seele und Körper; nicht das Bewegen verweigert sich mir, sondern das Verlangen nach ihm." Der einzige Weg, den der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares aus Überzeugung geht, ist der tägliche Weg in sein Büro in der Rua dos Douradores, in den vierten Stock der Firma zu seinem Chef Vasques, dem Buchhalter, dem Laufburschen, dem Kassierer und der Katze. Obwohl ihn das ereignislose Angestelltendasein, das ewige Bilanzieren ohne endgültige Summe bedrückt, käme ihm eine Trennung von ihm wie ein "halber Tod" vor. Schon der Tejo scheint Soares ein endloser Atlantik, unmöglich zu überqueren, das Viertel am anderen Ufer ein fremdes Universum.
Doch die Trägheit ist nur die Kehrseite einer inneren Flexibilität, eines fast quecksilbrigen, nie zum Stillstand kommenden Drangs zum Tourismus des Imaginativen. "Ich verstehe, daß reisen muß, wer unfähig ist zu fühlen. Daher sind Reisebücher auch so arm an Erfahrung, sie taugen nur so viel wie die Vorstellungskraft dessen, der schreibt." Selbst die Welt Heinrichs des Seefahrers kann es mit der Ausdehnung dieses inneren Universums nicht aufnehmen: "Eure Karavellen, Herr, haben niemals eine Reise unternommen, die in ihrer Bedeutung dem Schiffbruch gleichkommt, den mein Denken mit diesem Buch erlitten hat." Noch das Scheitern des literarischen Vorhabens wird zum Triumph rein geistiger Mobilität, denn die "wahren Landschaften" seien die selbsterschaffenen: "Nicht einer der sieben Teile der Welt interessiert mich so, daß ich ihn wirklich sehen könnte; ich bereise den achten, und er ist mein."
Als Fernando Pessoas "Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" 1982 erstmals aus dem Nachlaß herausgegeben wurde, tauchte dieser achte, innere Erdteil aus dem Meer auf wie das sagenhafte Atlantis. Die Kenner von Pessoas Werk hatten davon gehört, doch mit seiner Veröffentlichung fand so etwas wie eine Kontinentalverschiebung auf der weltliterarischen Landkarte statt. Portugals Literatur rückte mit dem "Buch der Unruhe" vom Rand ins Zentrum der europäischen Moderne; Pessoas Lissabon lag in der fiktiven Topographie plötzlich neben dem Dublin des James Joyce, dem Prag Kafkas, dem Wien Musils, dem Triest Svevos.
Bis dahin war Pessoa vorwiegend als Begründer der modernen portugiesischen Poesie bekannt gewesen, als Zentralgestirn der intellektuellen und literarischen Szene seiner klassischen Moderne, der in Gestalt seiner berühmten "Heteronyme" - Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Álvaro de Campos - gleich ein ganzes Spektrum dichterischer Haltungen und Stile entwarf, so als wären in Deutschland die Gedichte Trakls, Benns und Brechts aus ein und derselben Feder geflossen. Doch erst mit dieser Sammlung von Prosafragmenten, in der Herausgeberfiktion des Vorworts dem kleinen Angestellten Soares zugeschrieben, wurde Pessoa zum Inbegriff und zum mythischen Übervater der portugiesischen Literatur. Auch in der deutschen Erstausgabe von 1985 wurde das Werk, an dem Pessoa kurz vor dem Ersten Weltkrieg und dann wieder von 1929 bis kurz vor seinem Tod 1935 arbeitete, zu einem großen Erfolg.
Georg Rudolf Lind, der damalige Herausgeber und Übersetzer, ging freilich mit dem Textkorpus wenig zimperlich um. Von den fünfhundert schon damals bekannten Textpartikeln nahm er weniger als die Hälfte in die deutsche Ausgabe auf, was vielleicht ironischerweise zu ihrem Erfolg beitrug. Denn so hatte sie fast den Charakter eines Breviers, eines Handorakels der Weltverachtung für die Manteltasche, das bei aller Schwere des Inhalts immerhin quantitativ gut zu bewältigen war. In der Zwischenzeit haben die Editoren weitere Fragmente aus Pessoas berühmter Nachlaßtruhe dem Werk zugeordnet; die deutsche Neuedition im Rahmen der Werkausgabe im Ammann Verlag orientiert sich an der vor wenigen Jahren in Lissabon von Richard Zenith herausgegebenen, philologisch stark revidierten Fassung und enthält jetzt 481 Bruchstücke sowie zahlreiche weitere, thematisch verwandte Prosatexte Pessoas.
Was nach dem Wellengang des Wiederauftauchens zu erkennen ist, läßt den deutschen Betrachter sich ungläubig die Augen reiben: Der Kontinent hat sich in seiner Ausdehnung schlichtweg verdoppelt. Was der Verlag bescheiden als "Neuausgabe" ankündigte, ist vielmehr ein völlig neues, umfangreiches Werk, dessen Längen- und Breitengrade, dessen Höhenkämme und Küstenzüge allererst zu vermessen und zu kartieren sind. Eine zerklüftete Seelenlandschaft bietet sich dar, wolkenverhangen, doch trotz reicher Niederschläge karg und schroff, lebensfeindlich bis zum völligen Absterben jeder Vitalität: "Sosehr ich auch in mich dringe, alle meine Traumpfade führen zu Lichtungen der Angst" und: "Mein Leben ist, als würde man mich mit ihm schlagen."
Das Dasein als Angestellter in einer Lissabonner Stoffhandlung wird zum Gleichnis der modernen Existenz, deren völlige Sinnlosigkeit noch nicht einmal durch radikalen Verzicht, durch Abkehr von der Welt, ja Selbstmord beendet werden kann. Denn selbst das bedeutete ja ein Handeln, zu dem es an Kraft mangelt. "Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter in irgendeinem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir zählen zusammen und gehen weiter; wir ziehen Bilanz und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns." Probleme - grundsätzlich unlösbar; Götter - eine "Funktion des Stils"; Liebe - eine Illusion; die Zukunft - durch ihre Offenheit nichts als eine Last; die Vergangenheit - eine einzige Ansammlung schmerzhafter Verluste. Das Bewußtsein selbst ist die größte Quelle aller Leiden, die einzige Linderung bietet der Schlaf, in dem Vergangenheit und Zukunft sowie die Illusion des eigenen unverwechselbaren Ichs abgestreift werden wie ein Anzug. So ist das Schreiben nicht etwa ein Ersatzhandeln, sondern vielmehr dem Schlaf verwandt: "Schreiben heißt vergessen. Die Literatur ist die angenehmste Art, das Leben zu ignorieren." In einem berühmten Brief an Adolfo Casais Monteiro von 1935 stellt Pessoa das "Erscheinen" seines "Halbheteronyms" Bernardo Soares dem Zustand geistiger Wachheit gegenüber: Er trete auf den Plan, "wenn ich müde und schläfrig bin und meine Hemmungen und mein Denkvermögen etwas nachgelassen haben; diese Prosa ist eine ständige Träumerei . . . Soares ist ich, allerdings ohne mein Denkvermögen und meine Emotionalität."
Bei der zergliedernden Schärfe seines Verstands mag dieser Hinweis einigermaßen befremdlich klingen und nicht frei von Koketterie - fest steht, daß Soares nicht einfach als Alter ego genommen werden kann, sondern eine Persönlichkeit eigenen Rechts ist. Das Ich sei ohnehin nur ein ästhetisches Phänomen, ein Kunstprodukt. Dennoch darf, ja muß man das "Buch der Unruhe" auch biographisch lesen. Es allein als zeitenthobenen Ausdruck einer sinnlosen Condition humaine zu verstehen würde ihm ebensowenig gerecht wie die folkloristische Verklärung seines ans Pathologische grenzenden Selbst- und Weltekels zur typisch portugiesischen "Saudade", auf deren Spuren man eine portweinselige Pauschalreise zum Ende der europäischen Fahnenstange unternehmen kann.
Pessoas spätes, unvollendetes Werk ist auch eine Reaktion auf die innenpolitischen Wirren seines Landes, ein Rückzug unter dem übernationalen Banner schopenhauerschen Pessimismus in das innere Imperium, während das Kolonialreich bereits dem Untergang geweiht war und die Monarchie einem chaotischen Wechselspiel demokratischer und diktatorischer Kräfte Platz gemacht hatte: "In mir selbst einen Staat gründen, mit Politik, Parteien und Revolutionen, und dies alles selbst sein, Gott im wirklichen Pantheismus dieses Ich-Volkes." Das "Drama im Menschen", so die berühmte Formel für die multiple Dichter-Persönlichkeit Pessoas, ist auch ein politisches Stück.
Während sich auf der historischen Bühne Salazar anschickt, seinen autoritären "Estado Novo" für Jahrzehnte als einziges Stück auf den Spielplan zu setzen, träumt Pessoas Buchhalter vom inneren Aufstand: "Revolutionär oder Reformer - sie erliegen dem gleichen Irrtum. Unfähig, die eigene Haltung zum Leben, das alles ist, oder zum eigenen Sein, das fast alles ist, zu beherrschen oder zu ändern, ergreift der Mensch die Flucht nach vorn, indem er versucht, die anderen und die Außenwelt zu verändern. Jeder Revolutionär, jeder Reformer ist ein Flüchtiger. Kämpfen heißt außerstande sein, sich selbst zu bekämpfen. Reformieren heißt, selbst nicht verbesserungsfähig sein." Der Angestellte ist kein Demokrat, der die Masse an den Annehmlichkeiten des Daseins beteiligt sehen wollte. Er hing in seinem Büro vielmehr Tagträumen vom Ruhm nach, der nur wenigen zuteil werden kann und auf dessen Gipfel nur Platz für einen allein ist. Er zitiert ein Diktum Ernst Haeckels, wonach der Abstand vom überlegenen zum gewöhnlichen Menschen viel größer sei als der von diesem zum Affen, ja, so Soares, selbst zu einer Katze: "Doch zwischen mir und dem Bauern gibt es einen Qualitätsunterschied, zurückzuführen auf die Existenz abstrakten Denkens in mir und uneigennütziger Gefühle; zwischen ihm und der Katze hingegen besteht in geistiger Hinsicht nur ein gradueller Unterschied." Wie jeder Kontinent besteht auch der achte nicht nur aus Gebirgen, sondern kennt auch Abgründe, die den Wanderer schwindeln machen und die sich nicht immer historisierend überbrücken lassen.
Natürlich muß man dieses Buch, das allenfalls Ansätze einer Entwicklung, geschweige denn einer Handlung bietet und sich als "Autobiographie ohne Fakten" versteht, nicht als Ganzheit aufnehmen. Das entspricht auch nicht seiner Intention, die auf erzählerische Zusammenhänge und strenge philosophische Kohärenz gleichermaßen verzichtet. Als Steinbruch, als Fundgrube von Beobachtungsfragmenten, Gedankensplittern und Aphorismen, als "jesuitische Kasuistik von Empfindungen" ist es freilich ebenso unerschöpflich wie das Leben selbst, von dem sich das Ich für immer wie durch eine Glasscheibe getrennt fühlt und dem es doch wie einer zerstörerischen Sucht heillos verfallen ist: "Jeder hat seinen Alkohol. Ich finde meinen Alkohol im Existieren." Pessoa starb 1935 an den Folgen einer Leberzirrhose.
Durchzittert vom innerlichen Reisefieber einer aller äußeren Bewegung und Tatendrang müden Existenz, wird sein "Buch der Unruhe" Pflichtlektüre für ewig Daheimbleibende bleiben, für introvertiert rasende Abenteurer, für Entdecker der eigenen Abgründe und innerer Labyrinthe. Als sicher begleitender Reiseführer, gar als zuverlässiger Baedecker durch die Windungen der Seele ist es nicht uneingeschränkt zu empfehlen. Viel zu verschlungen sind seine Wege, zu unzuverlässig ist der Maßstab, zu interpretationsbedürftig seine Legende. Wer mit diesem Buch in der Hand den achten Kontinent bereist, wird ihn nie mehr ganz verlassen können.
Fernando Pessoa: "Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares". Herausgegeben von Richard Zenith. Aus dem Portugiesischen übersetzt und revidiert von Inés Koebel. Ammann Verlag, Zürich 2003. 576 S., geb, 49,90 [Euro].
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"Sein Werk ist ein Schritt auf das Unbekannte zu. Es ist eine Passion." Octavio Paz)