Ein Fremder kommt in Domenicos Dorf und weckt in dem jungen Mann den Wunsch, die Welt kennenzulernen. Zuerst kommt er nach Feinstadt, ein Ort der guten Sitten; doch ist wirklich "alles in Oo-ordnung", wie der Nachtwächter ruft? Als Domenico seine große Liebe auf tragische Weise verliert, will er fort, nach Kamora. Dort regieren Willkür und Verbrechen - bis eine Gruppe Hirten aufbegehrt. Sie errichten Canudos, eine Stadt der Freiheit. Doch der Kampf gegen Kamora steht ihnen bevor.
Das meistgelesene Buch in Georgien und - zur Zeit sowjetischer Herrschaft geschrieben - eine aufrüttelnde Parabel über das menschliche Dasein in Zeiten gesellschaftlicher und politischer Tyrannei. "Eine wunderschöne Fabel über die Liebe und die Freundschaft, über das Leben und die Identität, und allem voran eine Einladung zu einem Fest der Phantasie." Nino Haratischwili
Das meistgelesene Buch in Georgien und - zur Zeit sowjetischer Herrschaft geschrieben - eine aufrüttelnde Parabel über das menschliche Dasein in Zeiten gesellschaftlicher und politischer Tyrannei. "Eine wunderschöne Fabel über die Liebe und die Freundschaft, über das Leben und die Identität, und allem voran eine Einladung zu einem Fest der Phantasie." Nino Haratischwili
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018Das Wort ist heilig
In Georgien gilt Guram Dotschanaschwilis ausufernder Roman „Das erste Gewand“
als Klassiker. Jetzt liegt er auf Deutsch vor
VON SONJA ZEKRI
Die Weltliteratur kennt viele Unholde, aber gegen den ersten Auftritt von Marschall Edmondo Bittencourt wirkt selbst der unheimliche Oberförster aus Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“ nur wie ein Kinderschreck. In einem gekachelten Zimmer, erleuchtet vom Flackern der Laterne, setzt sich Bittencourt vor einen Spiegel, tupft eine grüne, klebrige Flüssigkeit auf seinen welkenden Körper und setzt eine Eidechse darauf. Während das Reptil seine Krallen in die Haut gräbt und die grünen Punkte erst ableckt und dann sanft zubeißt, erst in die Brust, dann unter den Achseln, während den Marschall ein Schauder überläuft – es schaudert ihn oft –, übt er Sätze ein, die seine Untertanen, die Einwohner der furchtbaren Stadt Kamora, in Angst und Schrecken versetzen werden: „Es gibt doch nichts Schöneres als echte Freundschaft“, lautet einer davon: „Die Freundschaft unter Menschen hat positive Folgen.“
Spätestens an dieser Stelle windet sich der Leser längst selbst wie eine Eidechse, als sich spitz der Erzähler des Buches zu Wort meldet: „Sind Sie noch da? Haben Sie sich geekelt? Verzeihen Sie mir, ich kann nichts dafür, so ist es eben.“ Hätte es noch eines letzten Beweises für das stilistische Zehnkämpfertum Guram Dotschanaschwilis bedurft – hier, etwa in der Mitte seines Romans „Das erste Gewand“, wäre er zu finden.
Zwölf Jahre hat der Georgier Dotschanaschwili an diesem Buch geschrieben. 1966 begann er, 1978 schloss er es ab, es war sein erster Roman. Und er zielt hoch. „Das erste Gewand“ ist biblische Parabel und mittelalterliche Queste, Stalinismus-Abrechnung und Gralslegende, magischer Realismus und Schlachtengemälde. Es schöpft aus literarischen Quellen vor Dotschanaschwilis georgischer Haustür und in entlegenen Regionen wie der brasilianischen Einöde. Einmal singt der Hofnarr des Marschalls „Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden“, und obwohl man nicht weiß, ob Dotschanaschwili Tolkiens „Herr der Ringe“ kannte, lässt es sich angesichts der ungeheuren Fülle zitierter Literatur nicht ausschließen. In gewisser Hinsicht hat Dotschanaschwili ein totales Buch geschrieben.
Angesichts dessen ist die Handlung überraschend schnörkellos. In einem fantastischen Land lebt der junge Domenico, Sohn des reichsten Mannes im Dorf, ein Leben in friedlicher Einfalt, als ein mysteriöser Flüchtling auftaucht. Er weckt Domenicos Lust auf Abenteuer, und so bricht der Junge auf und bereist drei Städte: das sinnenfrohe, verspielte, etwas großmäulige Feinstadt – eine Anspielung auf die georgische Hauptstadt Tiflis –, das amoralische paranoide Folter- und Mafiareich Kamora Bittencourts und schließlich Canudos, die Stadt der Freien und Gerechten. Canudos ist ein neues Jerusalem, errichtet aus weißem Lehm von entflohenen Hirten unter Anleitung eines „Conselheiro“, eines messianischen Ratgebers. Nach grausamen Kämpfen gegen Bittencourts Männern liegt Canudos in Trümmern und der verlorene Sohn Domenico kehrt reumütig zu seinem Vater zurück.
Im Westen ist dieses Epos so gut wie unbekannt, aber in der damaligen Sowjetrepublik Georgien wurde es aus dem Stand ein Klassiker. Ein Land, das seine Wurzeln auf das griechische Kolchis und die Argonauten zurückführt, hat keine Scheu vor Verweisen auf die Antike. Nun haben Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse das vielstimmige Werk in einer siebenjährigen Anstrengung ins Deutsche übertragen, und so bietet sich dem deutschen Leser zwar kein leichtes Lesevergnügen, aber ein Schlüsselwerk, um ein paar Dinge über das Buchmessen-Gastland Georgien zu begreifen. Da wäre, natürlich, das Gewand. Es ist, einerseits, eine Anspielung auf den Psalm 104 – „Licht ist das Kleid, das du anhast“ –, aber Dotschanaschwili hat daraus einen ausufernden Mythos gesponnen. In Domenicos Dorf werfen die Bewohner einmal im Jahr ein Stück ihrer Kleidung ins Feuer. Der Stoff enthält die Geschichten der Menschen, und diese steigen mit dem Rauch in den Himmel auf. Dort nämlich sind jene geblieben, aus deren Mitte die Dorfbewohner einst herabstiegen. Domenicos Vater besitzt das erste Gewand, verkauft vor der Reise seines Sohnes die Edelsteine darauf, um ihm das Erbteil auszuzahlen, und kleidet ihn nach seiner Rückkehr in das besondere Tuch, denn das Gewand, sagt er, ist das Wort. Und Domenico? Wirft es ins Feuer, damit auch seine Geschichten von Heldenmut und Menschlichkeit aufsteigen. Und erzählt fortan seine Erlebnisse.
Dieses sakrale Wort-, also Literaturverständnis ist für Nicht-Georgier, nun ja, ziemlich schwerer Stoff. Aber die Georgier sind stolz darauf, dass sie ihre Religion, die zu den ältesten christlichen Kirchen der Welt gehört, unter Mongolen, Osmanen und Persern bewahrten. Schrift ist für sie mehr als nur eine Ansammlung von Bedeutungsträgern. In der Vielvölkerregion des Kaukasus, an der Nahtstelle zwischen den Großmächten sind Sprache und Text Instrumente des kulturellen Überlebens.
Über das physische Überleben ist damit noch nichts gesagt. Im März 1956, wenige Wochen nach Nikita Chruschtschows Abrechnung mit Stalins Personenkult, kam es in Georgien zu einem Massaker. Studenten hatten erst für Stalin, den Landsmann, und dann gegen die Sowjetunion demonstriert und wurden niedergemacht. Im Dezember verteilte eine Gruppe namens Gorgasliani antisowjetische Flugblätter in Erinnerung an den Aufstand, wurde verhaftet und zu Haftstrafen verurteilt auf Bewährung. Einer von ihnen war der Schüler Guram Dotschanaschwili. Seine Analyse der Entmenschlichung in einem totalitären System lieferte er Jahrzehnte später in der vorsichtshalber ins Fantastische verlegten Stadt Kamora, wo die Menschen Messer in ihre Kleidung einnähen und niemandem in die Augen sehen, weil sie das Grauen darin nicht ertragen. Die Metaphorik dieser bizarren Hölle und ihrer Rituale hat nichts von ihrer Intensität verloren, ja, sie ist sogar deutlich besser gealtert als ihr Gegenentwurf: die Sozialutopie der Idealstadt Canudos.
Dabei hat diese ebenso wie Marschall Bittencourt ein reales historisches Vorbild. Canudos war in der Tat die Gründung eines messianischen Charismatikers, der sich „Ratgeber“ nannte. Aber es lag im brasilianischen Bundesstaat Bahia und war eine Art Sekte aus vernachlässigten, fanatisch religiösen Landbewohnern, die Ende des 19. Jahrhunderts entstand– Sie betrachtete die junge brasilianische Republik als Antichrist und wurde von einem Marschall namens Bittencourt oder Betencourt grausam zerschlagen. Mario Vargas Llosa schrieb ein Buch darüber, „Der Krieg am Ende der Welt“, aber vielleicht ließ sich Dotschanaschwili auch von einem Aufsatz in einer sowjetischen Zeitschrift inspirieren.
Sein Canudos ist eine ironiefreie Erlösungsfantasie, in dem die von Bittencourt akribisch Gemartertern postum nobilitiert werden, was einerseits an den christlichen Märtyrerkult erinnert, aber eben auch an sowjetische Opferpropaganda. Inzwischen hat der Gedanke, dass Leiden immer einen Sinn hat, dass Liebe einzig durch Schmerz entsteht, ein wenig an Überzeugungskraft verloren. Jedenfalls außerhalb Georgiens.
Dort wird „Das erste Gewand“ nach wie vor geliebt und vor zwei Jahren in der Staatsoper auf die Bühne gebracht. „Keine andere Nation im Kräftefeld von Persern, Türken und Russen hat die Traditionen des Kaukasus so eng mit der europäischen Kultur verbunden,“, schrieb der Journalist Christian Schmidt-Häuer einmal: „Mit dem Völkerfrühling des 19. Jahrhunderts, mit dem polnischen Freiheitskampf, mit dem italienischen Risorgimento.“ Georgien lebt seine Gegenwart als Fortsetzung der alten Kämpfe und farbenprächtigen Epen der Vergangenheit. Eines davon ist „Das erste Gewand.“
Die Schrift ist für Georgier
mehr als nur eine Ansammlung
von Bedeutungsträgern
Guram Dotschanaschwili:
Das erste Gewand. Roman. Aus dem Georgischen von Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse. Hanser Verlag, München, 2018. 696 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Georgien gilt Guram Dotschanaschwilis ausufernder Roman „Das erste Gewand“
als Klassiker. Jetzt liegt er auf Deutsch vor
VON SONJA ZEKRI
Die Weltliteratur kennt viele Unholde, aber gegen den ersten Auftritt von Marschall Edmondo Bittencourt wirkt selbst der unheimliche Oberförster aus Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“ nur wie ein Kinderschreck. In einem gekachelten Zimmer, erleuchtet vom Flackern der Laterne, setzt sich Bittencourt vor einen Spiegel, tupft eine grüne, klebrige Flüssigkeit auf seinen welkenden Körper und setzt eine Eidechse darauf. Während das Reptil seine Krallen in die Haut gräbt und die grünen Punkte erst ableckt und dann sanft zubeißt, erst in die Brust, dann unter den Achseln, während den Marschall ein Schauder überläuft – es schaudert ihn oft –, übt er Sätze ein, die seine Untertanen, die Einwohner der furchtbaren Stadt Kamora, in Angst und Schrecken versetzen werden: „Es gibt doch nichts Schöneres als echte Freundschaft“, lautet einer davon: „Die Freundschaft unter Menschen hat positive Folgen.“
Spätestens an dieser Stelle windet sich der Leser längst selbst wie eine Eidechse, als sich spitz der Erzähler des Buches zu Wort meldet: „Sind Sie noch da? Haben Sie sich geekelt? Verzeihen Sie mir, ich kann nichts dafür, so ist es eben.“ Hätte es noch eines letzten Beweises für das stilistische Zehnkämpfertum Guram Dotschanaschwilis bedurft – hier, etwa in der Mitte seines Romans „Das erste Gewand“, wäre er zu finden.
Zwölf Jahre hat der Georgier Dotschanaschwili an diesem Buch geschrieben. 1966 begann er, 1978 schloss er es ab, es war sein erster Roman. Und er zielt hoch. „Das erste Gewand“ ist biblische Parabel und mittelalterliche Queste, Stalinismus-Abrechnung und Gralslegende, magischer Realismus und Schlachtengemälde. Es schöpft aus literarischen Quellen vor Dotschanaschwilis georgischer Haustür und in entlegenen Regionen wie der brasilianischen Einöde. Einmal singt der Hofnarr des Marschalls „Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden“, und obwohl man nicht weiß, ob Dotschanaschwili Tolkiens „Herr der Ringe“ kannte, lässt es sich angesichts der ungeheuren Fülle zitierter Literatur nicht ausschließen. In gewisser Hinsicht hat Dotschanaschwili ein totales Buch geschrieben.
Angesichts dessen ist die Handlung überraschend schnörkellos. In einem fantastischen Land lebt der junge Domenico, Sohn des reichsten Mannes im Dorf, ein Leben in friedlicher Einfalt, als ein mysteriöser Flüchtling auftaucht. Er weckt Domenicos Lust auf Abenteuer, und so bricht der Junge auf und bereist drei Städte: das sinnenfrohe, verspielte, etwas großmäulige Feinstadt – eine Anspielung auf die georgische Hauptstadt Tiflis –, das amoralische paranoide Folter- und Mafiareich Kamora Bittencourts und schließlich Canudos, die Stadt der Freien und Gerechten. Canudos ist ein neues Jerusalem, errichtet aus weißem Lehm von entflohenen Hirten unter Anleitung eines „Conselheiro“, eines messianischen Ratgebers. Nach grausamen Kämpfen gegen Bittencourts Männern liegt Canudos in Trümmern und der verlorene Sohn Domenico kehrt reumütig zu seinem Vater zurück.
Im Westen ist dieses Epos so gut wie unbekannt, aber in der damaligen Sowjetrepublik Georgien wurde es aus dem Stand ein Klassiker. Ein Land, das seine Wurzeln auf das griechische Kolchis und die Argonauten zurückführt, hat keine Scheu vor Verweisen auf die Antike. Nun haben Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse das vielstimmige Werk in einer siebenjährigen Anstrengung ins Deutsche übertragen, und so bietet sich dem deutschen Leser zwar kein leichtes Lesevergnügen, aber ein Schlüsselwerk, um ein paar Dinge über das Buchmessen-Gastland Georgien zu begreifen. Da wäre, natürlich, das Gewand. Es ist, einerseits, eine Anspielung auf den Psalm 104 – „Licht ist das Kleid, das du anhast“ –, aber Dotschanaschwili hat daraus einen ausufernden Mythos gesponnen. In Domenicos Dorf werfen die Bewohner einmal im Jahr ein Stück ihrer Kleidung ins Feuer. Der Stoff enthält die Geschichten der Menschen, und diese steigen mit dem Rauch in den Himmel auf. Dort nämlich sind jene geblieben, aus deren Mitte die Dorfbewohner einst herabstiegen. Domenicos Vater besitzt das erste Gewand, verkauft vor der Reise seines Sohnes die Edelsteine darauf, um ihm das Erbteil auszuzahlen, und kleidet ihn nach seiner Rückkehr in das besondere Tuch, denn das Gewand, sagt er, ist das Wort. Und Domenico? Wirft es ins Feuer, damit auch seine Geschichten von Heldenmut und Menschlichkeit aufsteigen. Und erzählt fortan seine Erlebnisse.
Dieses sakrale Wort-, also Literaturverständnis ist für Nicht-Georgier, nun ja, ziemlich schwerer Stoff. Aber die Georgier sind stolz darauf, dass sie ihre Religion, die zu den ältesten christlichen Kirchen der Welt gehört, unter Mongolen, Osmanen und Persern bewahrten. Schrift ist für sie mehr als nur eine Ansammlung von Bedeutungsträgern. In der Vielvölkerregion des Kaukasus, an der Nahtstelle zwischen den Großmächten sind Sprache und Text Instrumente des kulturellen Überlebens.
Über das physische Überleben ist damit noch nichts gesagt. Im März 1956, wenige Wochen nach Nikita Chruschtschows Abrechnung mit Stalins Personenkult, kam es in Georgien zu einem Massaker. Studenten hatten erst für Stalin, den Landsmann, und dann gegen die Sowjetunion demonstriert und wurden niedergemacht. Im Dezember verteilte eine Gruppe namens Gorgasliani antisowjetische Flugblätter in Erinnerung an den Aufstand, wurde verhaftet und zu Haftstrafen verurteilt auf Bewährung. Einer von ihnen war der Schüler Guram Dotschanaschwili. Seine Analyse der Entmenschlichung in einem totalitären System lieferte er Jahrzehnte später in der vorsichtshalber ins Fantastische verlegten Stadt Kamora, wo die Menschen Messer in ihre Kleidung einnähen und niemandem in die Augen sehen, weil sie das Grauen darin nicht ertragen. Die Metaphorik dieser bizarren Hölle und ihrer Rituale hat nichts von ihrer Intensität verloren, ja, sie ist sogar deutlich besser gealtert als ihr Gegenentwurf: die Sozialutopie der Idealstadt Canudos.
Dabei hat diese ebenso wie Marschall Bittencourt ein reales historisches Vorbild. Canudos war in der Tat die Gründung eines messianischen Charismatikers, der sich „Ratgeber“ nannte. Aber es lag im brasilianischen Bundesstaat Bahia und war eine Art Sekte aus vernachlässigten, fanatisch religiösen Landbewohnern, die Ende des 19. Jahrhunderts entstand– Sie betrachtete die junge brasilianische Republik als Antichrist und wurde von einem Marschall namens Bittencourt oder Betencourt grausam zerschlagen. Mario Vargas Llosa schrieb ein Buch darüber, „Der Krieg am Ende der Welt“, aber vielleicht ließ sich Dotschanaschwili auch von einem Aufsatz in einer sowjetischen Zeitschrift inspirieren.
Sein Canudos ist eine ironiefreie Erlösungsfantasie, in dem die von Bittencourt akribisch Gemartertern postum nobilitiert werden, was einerseits an den christlichen Märtyrerkult erinnert, aber eben auch an sowjetische Opferpropaganda. Inzwischen hat der Gedanke, dass Leiden immer einen Sinn hat, dass Liebe einzig durch Schmerz entsteht, ein wenig an Überzeugungskraft verloren. Jedenfalls außerhalb Georgiens.
Dort wird „Das erste Gewand“ nach wie vor geliebt und vor zwei Jahren in der Staatsoper auf die Bühne gebracht. „Keine andere Nation im Kräftefeld von Persern, Türken und Russen hat die Traditionen des Kaukasus so eng mit der europäischen Kultur verbunden,“, schrieb der Journalist Christian Schmidt-Häuer einmal: „Mit dem Völkerfrühling des 19. Jahrhunderts, mit dem polnischen Freiheitskampf, mit dem italienischen Risorgimento.“ Georgien lebt seine Gegenwart als Fortsetzung der alten Kämpfe und farbenprächtigen Epen der Vergangenheit. Eines davon ist „Das erste Gewand.“
Die Schrift ist für Georgier
mehr als nur eine Ansammlung
von Bedeutungsträgern
Guram Dotschanaschwili:
Das erste Gewand. Roman. Aus dem Georgischen von Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse. Hanser Verlag, München, 2018. 696 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2018Im Dienst zu sein ist keine Entschuldigung, mein Herr!
Georgiens Kultbuch: Der Dissident Guram Dotschanaschwili führt einen Jüngling durch Himmel und Hölle und lässt ihn zum Dichter werden.
Dass Domenico wegwill, das stille Dorf verlassen, in dem sein Vater das Oberhaupt, die letzte Instanz für alle diesseitigen und jenseitigen Fragen ist, weiß er wohl selbst noch nicht. Erst als ein namenloser Flüchtling ins Dorf kommt, Unterschlupf findet und seine Geschichten von der Löwenjagd, den fleischfressenden Pflanzen und den Kronen, die es da draußen zu erringen gibt, seinem staunenden Zuhörer erzählt, erst jetzt kommt diese idyllische Kindheit an ihr Ende. Domenico jedenfalls nimmt all seinen Mut zusammen, stellt sich vor den allmächtigen Vater hin und verlangt Reisegeld. Und der zahlt ihm anstandslos sein Erbe aus.
Nicht zufällig erinnert das Handlungsgerüst von Guram Dotschanaschwilis Roman "Das erste Gewand" an das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn, und auch sonst finden sich immer wieder Anklänge an tradierte religiöse Bilder, wenn etwa eine Gruppentaufe im gelobten Land durchgeführt oder mit dem Nachwuchs von ein paar Fischen eine vieltausendköpfige Menschenmenge gespeist wird. Dezent, aber deutlich sind diese Zitate in den Text eingefügt, deutlich genug zumindest, dass der georgische Roman, erschienen vor gut vierzig Jahren als Zeitschriftenvorabdruck und als Buch, deswegen Schwierigkeiten mit der sowjetischen Zensur bekam. Eduard Schewardnadse, damals Parteichef in Georgien, soll sich persönlich für den Text eingesetzt haben. Und ermöglichte so die Publikation eines Kultbuchs, gefeiert, ja geliebt von Dotschanaschwilis Kollegen ebenso wie vom Publikum. "Das erste Gewand" gilt als das meistgelesene georgische Buch der Gegenwartsliteratur.
Warum das so ist, versteht man rasch, setzt man sich nur ein paar Seiten dieser ruhigen, funkelnden, mitunter abgründig bebenden Prosa aus, die Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse nun ins Deutsche gebracht haben: "Die Stadt erstarb, saugte sich voll, keine Rufe waren mehr zu hören, selbst die Kutscher trieben ihre Pferde nicht mehr lautstark an, die triefend nassen Äste der Bäume wurden schwer, und vor lauter Langeweile krähten die Hähne noch öfter."
Dotschanaschwili, 1939 geboren und als Jugendlicher wegen des Verteilens antisowjetischer Flugblätter zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, erzählt in seinem 1966 begonnenen Roman von Domenicos Reise, die ihn nach dem Verlassen des Heimatdorfs nacheinander ins vornehme "Feinstadt" führt, dann in die finstere Stadt Kamora und schließlich in die Lehmsiedlung Canudos, gegründet und bewohnt von Hirten, die nicht mehr länger die Willkür der Kamoraner erleiden wollen, deshalb fortziehen und im Brachland neu siedeln, obwohl sie wissen, dass ihr Freiheitsdrang mit aller militärischen Härte bekämpft werden wird, dass sie dieser Gewalt unterliegen werden. Kein Wunder, dass auch dieser Aspekt der Publikation des Romans in der Sowjetunion hinderlich war, dass freiheitstrunkene Sätze wie "Im Dienst sein ist keine Entschuldigung!" wenig gelitten waren. Und dass dies dem Roman umgekehrt bei den zeitgenössischen Lesern den Weg bereitet hat.
Dennoch ist der Roman alles andere als von lediglich zeithistorischem Interesse oder gar eine Parabel auf den Widerstand gegen politische Unterdrückung. Viel eher ist es ein Roman, dessen Hauptfigur die Möglichkeit einer individuellen Entwicklung verkörpert, ein Jedermann im Werden, der sich naiv und unwissend in unterschiedliche Gesellschaften finden muss, was ihm das große, vom Vater mitgegebene Vermögen zugleich erleichtert und erschwert. Er genießt die Annehmlichkeiten von Feinstadt und nimmt erst sehr spät das Unheil war, die kleinen Betrügereien und faulen Kompromisse mit dem mächtigen Nachbarn Kamora, die das Wohlleben ermöglichen, und wenn der Nachtwächter zu jeder Stunde laut verkündet, alles wäre "in Ordnung", dann erweist sich das bald als Hohn.
Auch in der Nachbarstadt Kamora, wo die Willkürherrschaft offenliegt, wo alles falsch ist, niemand niemandem trauen kann, die Milch nach Blut schmeckt und in neue Kleidung serienmäßig fünf Messer eingenäht werden, um bei Bedarf als Mordwerkzeug zu dienen, gibt es einen Nachtwächter. Dieser verkündet gar, alles dort wäre "grandios", und das mag aus der Perspektive der Herrscherclique um einen Marschall Betancourt sogar richtig sein. Für die Übrigen aber, den Neuling Domenico eingeschlossen, ist Kamora ein Ort des Schreckens und der Willkür, mit unverständlichen Regeln, die sich jederzeit ändern können und über Leben und Tod des Einzelnen entscheiden.
Tatsächlich lebt auch der Roman nicht zuletzt von einer Vielzahl jäher Wendungen, von Geheimnissen und Enthüllungen, von Guten, die sich wie Böse verhalten, und Bösen, die ungewollt das Gute bewirken, und kaum zufällig berichtet der Vagabund, der anfangs in Domenicos Dorf kommt, dem staunenden Jungen von den fleischfressenden Pflanzen mit den verlockend schönen Blüten, die es draußen in der Welt gibt - nur dass der Vagabund für deren Tücke bei der Jagd nach lebender Nahrung eine ungewöhnliche Erklärung findet. Schuld seien nicht die Pflanzen, sondern "der schlechte Boden".
Der andauernde Wechsel bei einer zugleich kaum gewandelten Diktion prägt auch die Erzählperspektive. Das betrifft nicht nur die Schauplätze, sondern auch einzelne Szenen, die so gegeneinandergeschnitten sind, dass auf eine Frage am Ende der einen die Antwort aus einem ganz anderen Zusammenhang folgt, dass sich die Zeitebenen auf irritierende Weise durchdringen und vorwegnehmen, was noch gar nicht geschehen ist, oder dass schließlich der Erzähler selbst auftritt, aber mit dem Leser im Gepäck, an der Hand oder auf den Schultern, und dass dieser Leser abwechselnd mit "du" oder "Sie" angesprochen wird, weil sich die Unsicherheit des Erzählers auch auf das Verhältnis zum Publikum erstreckt: "Wir aber", sagt er, "wir stehen uns die ganze Zeit gegenüber, und ich breite bunte Geschichten wie einen Teppich zu Ihren Füßen aus - bitte, laufen Sie darüber; doch Sie, so gehorsam wie stur, schauen in meine Seele hinein."
Was damit gewonnen ist, erschließt sich rasch: Die Äußerungen, die Urteile gar des Erzählers zu einzelnen Figuren erscheinen so als Vorschläge, denen man rezipierend folgen kann oder auch nicht, Freiheitsdrang auch hier. Vor allem aber entspricht dem auf der Ebene des Inhalts die schiere Vielfalt von Erzählsträngen, die ineinander verwoben sind wie die Goldfäden des titelgebenden "Ersten Gewands". Jahr für Jahr, kurz vor dem Fortgang Domenicos und kurz nach seiner Rückkehr, wird im Dorf ein Ritual abgehalten, bei dem die Bevölkerung Fetzen ihrer Kleidung in ein großes Feuer wirft und damit das während der letzten zwölf Monate Erlebte buchstäblich in den Rauch schreibt - die Nachrichten von Geburten, Missernten oder unverhofftem Segen sollen so zu den Ahnen im Himmel aufsteigen. Am Ende des Romans, in einer fulminanten Szene, übergibt auch Domenico seine Kleidung dem Feuer, und der Erzähler beschreibt noch einmal, welche Erlebnisse, welche Begegnungen damit übermittelt werden.
Dabei belässt er es nicht. Domenico, der im Verlauf des Romans immer wieder versucht hat, sich das, was ihm widerfährt, die Menschen, die er trifft, durch das Kneten von Lehmfiguren bewusst zu machen, trifft nun ein letztes Mal auf seinen Vater, der ihn zu einem weiteren Schritt ermutigt, zum Erzählen. Das tut Domenico nun auch, mit denselben Worten, mit denen der Roman "Das erste Gewand" anfängt. Dass der Leser diesen Zirkel nur zu gern nachvollzieht, dass er am Ende seiner Lektüre zum Anfang zurückkehrt, um diesen Verbindungslinien nachzugehen, ist sehr wahrscheinlich.
TILMAN SPRECKELSEN
Guram Dotschanaschwili: "Das erste Gewand". Roman. Aus dem Georgischen von Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse. Hanser Verlag, München 2018. 672 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Georgiens Kultbuch: Der Dissident Guram Dotschanaschwili führt einen Jüngling durch Himmel und Hölle und lässt ihn zum Dichter werden.
Dass Domenico wegwill, das stille Dorf verlassen, in dem sein Vater das Oberhaupt, die letzte Instanz für alle diesseitigen und jenseitigen Fragen ist, weiß er wohl selbst noch nicht. Erst als ein namenloser Flüchtling ins Dorf kommt, Unterschlupf findet und seine Geschichten von der Löwenjagd, den fleischfressenden Pflanzen und den Kronen, die es da draußen zu erringen gibt, seinem staunenden Zuhörer erzählt, erst jetzt kommt diese idyllische Kindheit an ihr Ende. Domenico jedenfalls nimmt all seinen Mut zusammen, stellt sich vor den allmächtigen Vater hin und verlangt Reisegeld. Und der zahlt ihm anstandslos sein Erbe aus.
Nicht zufällig erinnert das Handlungsgerüst von Guram Dotschanaschwilis Roman "Das erste Gewand" an das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn, und auch sonst finden sich immer wieder Anklänge an tradierte religiöse Bilder, wenn etwa eine Gruppentaufe im gelobten Land durchgeführt oder mit dem Nachwuchs von ein paar Fischen eine vieltausendköpfige Menschenmenge gespeist wird. Dezent, aber deutlich sind diese Zitate in den Text eingefügt, deutlich genug zumindest, dass der georgische Roman, erschienen vor gut vierzig Jahren als Zeitschriftenvorabdruck und als Buch, deswegen Schwierigkeiten mit der sowjetischen Zensur bekam. Eduard Schewardnadse, damals Parteichef in Georgien, soll sich persönlich für den Text eingesetzt haben. Und ermöglichte so die Publikation eines Kultbuchs, gefeiert, ja geliebt von Dotschanaschwilis Kollegen ebenso wie vom Publikum. "Das erste Gewand" gilt als das meistgelesene georgische Buch der Gegenwartsliteratur.
Warum das so ist, versteht man rasch, setzt man sich nur ein paar Seiten dieser ruhigen, funkelnden, mitunter abgründig bebenden Prosa aus, die Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse nun ins Deutsche gebracht haben: "Die Stadt erstarb, saugte sich voll, keine Rufe waren mehr zu hören, selbst die Kutscher trieben ihre Pferde nicht mehr lautstark an, die triefend nassen Äste der Bäume wurden schwer, und vor lauter Langeweile krähten die Hähne noch öfter."
Dotschanaschwili, 1939 geboren und als Jugendlicher wegen des Verteilens antisowjetischer Flugblätter zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, erzählt in seinem 1966 begonnenen Roman von Domenicos Reise, die ihn nach dem Verlassen des Heimatdorfs nacheinander ins vornehme "Feinstadt" führt, dann in die finstere Stadt Kamora und schließlich in die Lehmsiedlung Canudos, gegründet und bewohnt von Hirten, die nicht mehr länger die Willkür der Kamoraner erleiden wollen, deshalb fortziehen und im Brachland neu siedeln, obwohl sie wissen, dass ihr Freiheitsdrang mit aller militärischen Härte bekämpft werden wird, dass sie dieser Gewalt unterliegen werden. Kein Wunder, dass auch dieser Aspekt der Publikation des Romans in der Sowjetunion hinderlich war, dass freiheitstrunkene Sätze wie "Im Dienst sein ist keine Entschuldigung!" wenig gelitten waren. Und dass dies dem Roman umgekehrt bei den zeitgenössischen Lesern den Weg bereitet hat.
Dennoch ist der Roman alles andere als von lediglich zeithistorischem Interesse oder gar eine Parabel auf den Widerstand gegen politische Unterdrückung. Viel eher ist es ein Roman, dessen Hauptfigur die Möglichkeit einer individuellen Entwicklung verkörpert, ein Jedermann im Werden, der sich naiv und unwissend in unterschiedliche Gesellschaften finden muss, was ihm das große, vom Vater mitgegebene Vermögen zugleich erleichtert und erschwert. Er genießt die Annehmlichkeiten von Feinstadt und nimmt erst sehr spät das Unheil war, die kleinen Betrügereien und faulen Kompromisse mit dem mächtigen Nachbarn Kamora, die das Wohlleben ermöglichen, und wenn der Nachtwächter zu jeder Stunde laut verkündet, alles wäre "in Ordnung", dann erweist sich das bald als Hohn.
Auch in der Nachbarstadt Kamora, wo die Willkürherrschaft offenliegt, wo alles falsch ist, niemand niemandem trauen kann, die Milch nach Blut schmeckt und in neue Kleidung serienmäßig fünf Messer eingenäht werden, um bei Bedarf als Mordwerkzeug zu dienen, gibt es einen Nachtwächter. Dieser verkündet gar, alles dort wäre "grandios", und das mag aus der Perspektive der Herrscherclique um einen Marschall Betancourt sogar richtig sein. Für die Übrigen aber, den Neuling Domenico eingeschlossen, ist Kamora ein Ort des Schreckens und der Willkür, mit unverständlichen Regeln, die sich jederzeit ändern können und über Leben und Tod des Einzelnen entscheiden.
Tatsächlich lebt auch der Roman nicht zuletzt von einer Vielzahl jäher Wendungen, von Geheimnissen und Enthüllungen, von Guten, die sich wie Böse verhalten, und Bösen, die ungewollt das Gute bewirken, und kaum zufällig berichtet der Vagabund, der anfangs in Domenicos Dorf kommt, dem staunenden Jungen von den fleischfressenden Pflanzen mit den verlockend schönen Blüten, die es draußen in der Welt gibt - nur dass der Vagabund für deren Tücke bei der Jagd nach lebender Nahrung eine ungewöhnliche Erklärung findet. Schuld seien nicht die Pflanzen, sondern "der schlechte Boden".
Der andauernde Wechsel bei einer zugleich kaum gewandelten Diktion prägt auch die Erzählperspektive. Das betrifft nicht nur die Schauplätze, sondern auch einzelne Szenen, die so gegeneinandergeschnitten sind, dass auf eine Frage am Ende der einen die Antwort aus einem ganz anderen Zusammenhang folgt, dass sich die Zeitebenen auf irritierende Weise durchdringen und vorwegnehmen, was noch gar nicht geschehen ist, oder dass schließlich der Erzähler selbst auftritt, aber mit dem Leser im Gepäck, an der Hand oder auf den Schultern, und dass dieser Leser abwechselnd mit "du" oder "Sie" angesprochen wird, weil sich die Unsicherheit des Erzählers auch auf das Verhältnis zum Publikum erstreckt: "Wir aber", sagt er, "wir stehen uns die ganze Zeit gegenüber, und ich breite bunte Geschichten wie einen Teppich zu Ihren Füßen aus - bitte, laufen Sie darüber; doch Sie, so gehorsam wie stur, schauen in meine Seele hinein."
Was damit gewonnen ist, erschließt sich rasch: Die Äußerungen, die Urteile gar des Erzählers zu einzelnen Figuren erscheinen so als Vorschläge, denen man rezipierend folgen kann oder auch nicht, Freiheitsdrang auch hier. Vor allem aber entspricht dem auf der Ebene des Inhalts die schiere Vielfalt von Erzählsträngen, die ineinander verwoben sind wie die Goldfäden des titelgebenden "Ersten Gewands". Jahr für Jahr, kurz vor dem Fortgang Domenicos und kurz nach seiner Rückkehr, wird im Dorf ein Ritual abgehalten, bei dem die Bevölkerung Fetzen ihrer Kleidung in ein großes Feuer wirft und damit das während der letzten zwölf Monate Erlebte buchstäblich in den Rauch schreibt - die Nachrichten von Geburten, Missernten oder unverhofftem Segen sollen so zu den Ahnen im Himmel aufsteigen. Am Ende des Romans, in einer fulminanten Szene, übergibt auch Domenico seine Kleidung dem Feuer, und der Erzähler beschreibt noch einmal, welche Erlebnisse, welche Begegnungen damit übermittelt werden.
Dabei belässt er es nicht. Domenico, der im Verlauf des Romans immer wieder versucht hat, sich das, was ihm widerfährt, die Menschen, die er trifft, durch das Kneten von Lehmfiguren bewusst zu machen, trifft nun ein letztes Mal auf seinen Vater, der ihn zu einem weiteren Schritt ermutigt, zum Erzählen. Das tut Domenico nun auch, mit denselben Worten, mit denen der Roman "Das erste Gewand" anfängt. Dass der Leser diesen Zirkel nur zu gern nachvollzieht, dass er am Ende seiner Lektüre zum Anfang zurückkehrt, um diesen Verbindungslinien nachzugehen, ist sehr wahrscheinlich.
TILMAN SPRECKELSEN
Guram Dotschanaschwili: "Das erste Gewand". Roman. Aus dem Georgischen von Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse. Hanser Verlag, München 2018. 672 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"'Ein zugleich tieftraditionelles und hochavantgardistisches Buch. [...] Man kann in der modernen Literatur lange suchen nach einer Welterzählung vergleichbarer Fülle, literarischer Komplexität, spiritueller Tiefe, metaphysischer Komik und prophetischer Ernsthaftigkeit. [...] Es gibt eigentlich keinen besseren Einstieg in die Mentalität und in den kulturellen Kosmos des diesjährigen Gastlands der Frankfurter Buchmesse als die Lektüre dieses von Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse in ein sehr plausibles Deutsch übertragenen Klassikers der georgischen Moderne." Stephan Wackwitz, DIE ZEIT, 27.09.18
"Ein Meisterwerk der Erzählkunst mit völlig neuem Vokabular." Cornelia Zetzsche, BR 2 Diwan, 23.09.18
"Was Dotschanaschwili in seinem weit ausgreifenden, stilistisch vielseitig schillernden Epos darbietet, ist getragen von einer unerschöpflichen Fülle an Einfallsreichtum und Virtuosität. Wie der Autor mit sicherer Hand den allegorischen Bogen der Lebensreise eines verlorenen Sohns zwischen Aufbruch und Rückkunft zu spannen weiß, das setzt den Leser einem dauerhaften Sprühregen mitreißender Beredsamkeit und unbändiger Erzähllust aus." Oliver vom Hove, Wiener Zeitung, 06.10.18
"Ein Meisterwerk der Erzählkunst mit völlig neuem Vokabular." Cornelia Zetzsche, BR 2 Diwan, 23.09.18
"Was Dotschanaschwili in seinem weit ausgreifenden, stilistisch vielseitig schillernden Epos darbietet, ist getragen von einer unerschöpflichen Fülle an Einfallsreichtum und Virtuosität. Wie der Autor mit sicherer Hand den allegorischen Bogen der Lebensreise eines verlorenen Sohns zwischen Aufbruch und Rückkunft zu spannen weiß, das setzt den Leser einem dauerhaften Sprühregen mitreißender Beredsamkeit und unbändiger Erzähllust aus." Oliver vom Hove, Wiener Zeitung, 06.10.18