Produktdetails
- Hersteller: History,
- EAN: 4011222056702
- Artikelnr.: 28209854
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2024Von wegen hum-ta-ta!
Wenn Marcus Bosch ruft, kommen die Leute: die handverlesenen Musiker und Musikerinnen seiner 2011 gegründeten Cappella Aquileia, darunter der Solocellist aus Palermo, der Solotrompeter aus der Ukraine. Und das Publikum, das Bosch blind vertraut. Der weltläufige Dirigent mit Wohnsitz und Weinberg auf Mallorca, Professur in München und Chefposition bei der Norddeutschen Philharmonie Rostock, außerdem Vorsitzender der GMD-Konferenz, brennt für die Opernfestspiele in seiner Heimatstadt Heidenheim. Vor sechzig Jahren wurden sie gegründet, seit 2010 liegen sie in Boschs künstlerischer Verantwortung und haben sich inzwischen zu einem "Must go" der deutschen Sommerfestivals entwickelt. Glamour spielt hier keine Rolle. Dafür ein Arbeitspensum, das Giuseppe Verdi unter der Rubrik "Galeerenjahre" subsumiert hätte. Nur dass Bosch nach den Proben am Tag und den Aufführungen am Abend putzmunter an der Hotelbar steht und sich mit allen unterhält.
Fest an seiner Seite der Flötist der Cappella, Matthias Jochner, im Zweitberuf Kulturdezernent in Heidenheim. Gemeinsam wird hier auf die Beine gestellt, was im normalen Betrieb nicht zu leisten ist: die chronologische Aufführung aller frühen Verdi-Opern, ab dem Erstling "Oberto" (1839). Mittlerweile ist mit der Nummer acht sein wahrscheinlich unbekanntestes Bühnenwerk erreicht, die "Alzira" von 1845, eine Dreiecksgeschichte um die Inkaprinzessin Alzira während der spanischen Eroberung. Warum diese Tragedia lirica in einem Prolog und zwei Akten nach einem Schauspiel von Voltaire dermaßen ins Abseits geraten ist - in Deutschland wurde sie erst kurz vor der Jahrtausendwende in Passau gezeigt -, ist nach ihrer Heidenheimer Wiederbelebung kaum begreiflich: jeder Takt glühender Verdi, die Chöre eine Wucht, die Sängerpartien Bravournummern, die Instrumentierung sogar experimentell: Randinstrumente wie Bratsche, Kontrabässe und Cimbasso (Bassposaune) "werden zur Hauptsache", erläutert Bosch.
Dazu die Soloklarinette als Seelenträger des Inka-Anführers Zamoro - eine Spinto-Rolle, wie geschaffen für den Höhenakrobaten Sung Kyu Park. Ein Flirren an der Grenze der Hörbarkeit wie später in der "Traviata", ein Cello-Solo im Finale wie eine Matrix für die große Arie des Philipp im späteren "Don Carlo".
Die Begeisterung sei mit den Proben gekommen, erzählt Bosch, und sie überträgt sich auf das Publikum. Alle Vorbehalte gegenüber Verdis Frühwerk verschwinden durch die genaue Lesart der Partitur: "Machen, was dasteht" ist Boschs Maxime, was nichts anderes bedeutet, als den Text "gegen die Aufführungstradition herzustellen". Oft hätten Traditionen mit technischen Schwächen zu tun, die dann zum Stilmittel erhoben werden, erklärt Bosch. Und es brauche dann gerade bei jungen Sängern oft ein Umdenken, damit sie dem Notentext und nicht den Anweisungen des Lehrers folgten. Und die Ansicht "Das geht nicht" hat bei Bosch gar keine Chance. Bei dieser interpretatorischen Sorgfalt hat in den Rezitativen der "Alzira" jede Note, dem Wortgestus folgend, idealerweise einen anderen Charakter, und wie weggeblasen ist Verdis oft belächeltes Hum-ta-ta, weil Bosch selbst solche Stereotype rhythmisch ausdifferenziert.
Auch szenisch kann die krude Eroberungsgeschichte im Zeichen der Religion heute bestehen, wenn man sie mit Bosch als "Geste der Umkehr" versteht. Gusmano, spanischer Gouverneur von Peru und Gegenspieler Zamoros, bezahlt seinen Kampf um Alzira mit dem Leben, verzeiht aber seinem Mörder und gibt dem Paar sogar noch seinen Segen. Marian Pop verkörperte ihn mit baritonaler Durchschlagskraft. Der Regisseur Andreas Baesler und die Kostümbildnerin Tanja Hofmann deuten auf der breiten Bühne des Heidenheimer Congress Centrums mit sparsamen, aber griffigen Mitteln den historischen Zusammenhang an - Halskrausen für die Spanier, roter Poncho und Fransen für die Inkas - und verweisen mit Projektionen auf den geographischen Ort des Geschehens in Peru. Andengipfel, die Sonnenscheibe aus der Inka-Hauptstadt Cusco und ein leibhaftiges Maisfeld beleben die dunkle Bühne.
Der fabelhafte Tschechische Philharmonische Chor Brünn trägt die Aufführung auch darstellerisch, indem er sich von Akteuren zu Zuschauern wandelt, sich auch einmal diskret umdreht, wenn Vater Ataliba (Gabriel Fortunas) seine Tochter Alzira aufsucht. Mit Ania Jeruc steht sie in jeder Hinsicht im Zentrum: stimmlich in ihrer einzigen, mörderischen Arie im ersten Akt und den großartigen, immer furioser werdenden Ensembleszenen sowie als Identifikationsfigur. In die Heirat mit Gusmano willigt sie nur ein, um Zamoro zu retten.
"Fremde Welten" lautet das Motto der diesjährigen Festspiele, und nach der Inka-Oper verabschiedete sich die Cappella Aquileia mit einem nordamerikanischen Konzertprogramm. Die Dvorák-Sinfonie "Aus der Neuen Welt" war ein Fest für die Englischhorn-Spielerin aus Regensburg. Vorausgegangen waren die Ouvertüre zu "Girl Crazy" und das Concerto in F von George Gershwin: mit dem unschlagbaren Pianisten Frank Dupree, dessen Vitalität wie Feuer auf Orchester und Publikum übersprang und auch in der Zugabe von Duke Ellingtons Standard "Caravan" nicht zu bremsen war. Dupree, selbst ausgebildeter Perkussionist, hatte ihn mit drei Schlagzeugern und einem Kontrabassisten der Cappella vorbereitet und improvisierte selbst an Klavier und Bongo.
Eigentlich sind die Heidenheimer Opernfestspiele eine Open-Air-Veranstaltung im offenen Rittersaal Schloss Hellenstein. Doch dafür hatte der bisherige Sommer kein Einsehen, sodass auch die zweite Produktion, "Madame Butterfly" von Giacomo Puccini mit den Stuttgarter Philharmonikern, im Congress Centrum stattfinden musste. Wenn Bosch schon bei Verdi allergisch auf eingefahrene Aufführungstraditionen reagiert, dann umso mehr bei Puccini, dem er jede Sentimentalität und Schaumschlägerei austrieb, zugunsten einer charakterlichen Durchleuchtung mit psychopathologischer Zielrichtung.
Sie spiegelte sich in der Inszenierung von Rosetta Cucchi als Kammerspiel wider: So schonungslos in der Desillusionierung einer Frau sieht man diese Oper nicht alle Tage. Cio-Cio-San lebt als Kindfrau in einem Muschelgehäuse des Bühnenbildners Tassilo Tesche, wird von allen Männern - dem Heiratsvermittler Goro (Musa Nkuna), dem Onkel Bonze (Alexander Teliga) - hin und her geschoben und ist wie in einem Wahn gefangen, dass Pinkerton sie liebt. Olga Busuioc verausgabte sich dabei in fast beängstigender Rollenanverwandlung, zwischen Lustschrei und Flüstern, Traumvision und Verlust des Verstands. Héctor Sandoval, im Hawaiihemd mit Whiskeyflasche ein amerikanischer Widerling, ist leider auch stimmlich kein Traummann, während Gerrit Illenberger als Konsul Sharpless einen vollendeten Diplomaten darstellt - ein Retter des Amerikabildes. LOTTE THALER
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Wenn Marcus Bosch ruft, kommen die Leute: die handverlesenen Musiker und Musikerinnen seiner 2011 gegründeten Cappella Aquileia, darunter der Solocellist aus Palermo, der Solotrompeter aus der Ukraine. Und das Publikum, das Bosch blind vertraut. Der weltläufige Dirigent mit Wohnsitz und Weinberg auf Mallorca, Professur in München und Chefposition bei der Norddeutschen Philharmonie Rostock, außerdem Vorsitzender der GMD-Konferenz, brennt für die Opernfestspiele in seiner Heimatstadt Heidenheim. Vor sechzig Jahren wurden sie gegründet, seit 2010 liegen sie in Boschs künstlerischer Verantwortung und haben sich inzwischen zu einem "Must go" der deutschen Sommerfestivals entwickelt. Glamour spielt hier keine Rolle. Dafür ein Arbeitspensum, das Giuseppe Verdi unter der Rubrik "Galeerenjahre" subsumiert hätte. Nur dass Bosch nach den Proben am Tag und den Aufführungen am Abend putzmunter an der Hotelbar steht und sich mit allen unterhält.
Fest an seiner Seite der Flötist der Cappella, Matthias Jochner, im Zweitberuf Kulturdezernent in Heidenheim. Gemeinsam wird hier auf die Beine gestellt, was im normalen Betrieb nicht zu leisten ist: die chronologische Aufführung aller frühen Verdi-Opern, ab dem Erstling "Oberto" (1839). Mittlerweile ist mit der Nummer acht sein wahrscheinlich unbekanntestes Bühnenwerk erreicht, die "Alzira" von 1845, eine Dreiecksgeschichte um die Inkaprinzessin Alzira während der spanischen Eroberung. Warum diese Tragedia lirica in einem Prolog und zwei Akten nach einem Schauspiel von Voltaire dermaßen ins Abseits geraten ist - in Deutschland wurde sie erst kurz vor der Jahrtausendwende in Passau gezeigt -, ist nach ihrer Heidenheimer Wiederbelebung kaum begreiflich: jeder Takt glühender Verdi, die Chöre eine Wucht, die Sängerpartien Bravournummern, die Instrumentierung sogar experimentell: Randinstrumente wie Bratsche, Kontrabässe und Cimbasso (Bassposaune) "werden zur Hauptsache", erläutert Bosch.
Dazu die Soloklarinette als Seelenträger des Inka-Anführers Zamoro - eine Spinto-Rolle, wie geschaffen für den Höhenakrobaten Sung Kyu Park. Ein Flirren an der Grenze der Hörbarkeit wie später in der "Traviata", ein Cello-Solo im Finale wie eine Matrix für die große Arie des Philipp im späteren "Don Carlo".
Die Begeisterung sei mit den Proben gekommen, erzählt Bosch, und sie überträgt sich auf das Publikum. Alle Vorbehalte gegenüber Verdis Frühwerk verschwinden durch die genaue Lesart der Partitur: "Machen, was dasteht" ist Boschs Maxime, was nichts anderes bedeutet, als den Text "gegen die Aufführungstradition herzustellen". Oft hätten Traditionen mit technischen Schwächen zu tun, die dann zum Stilmittel erhoben werden, erklärt Bosch. Und es brauche dann gerade bei jungen Sängern oft ein Umdenken, damit sie dem Notentext und nicht den Anweisungen des Lehrers folgten. Und die Ansicht "Das geht nicht" hat bei Bosch gar keine Chance. Bei dieser interpretatorischen Sorgfalt hat in den Rezitativen der "Alzira" jede Note, dem Wortgestus folgend, idealerweise einen anderen Charakter, und wie weggeblasen ist Verdis oft belächeltes Hum-ta-ta, weil Bosch selbst solche Stereotype rhythmisch ausdifferenziert.
Auch szenisch kann die krude Eroberungsgeschichte im Zeichen der Religion heute bestehen, wenn man sie mit Bosch als "Geste der Umkehr" versteht. Gusmano, spanischer Gouverneur von Peru und Gegenspieler Zamoros, bezahlt seinen Kampf um Alzira mit dem Leben, verzeiht aber seinem Mörder und gibt dem Paar sogar noch seinen Segen. Marian Pop verkörperte ihn mit baritonaler Durchschlagskraft. Der Regisseur Andreas Baesler und die Kostümbildnerin Tanja Hofmann deuten auf der breiten Bühne des Heidenheimer Congress Centrums mit sparsamen, aber griffigen Mitteln den historischen Zusammenhang an - Halskrausen für die Spanier, roter Poncho und Fransen für die Inkas - und verweisen mit Projektionen auf den geographischen Ort des Geschehens in Peru. Andengipfel, die Sonnenscheibe aus der Inka-Hauptstadt Cusco und ein leibhaftiges Maisfeld beleben die dunkle Bühne.
Der fabelhafte Tschechische Philharmonische Chor Brünn trägt die Aufführung auch darstellerisch, indem er sich von Akteuren zu Zuschauern wandelt, sich auch einmal diskret umdreht, wenn Vater Ataliba (Gabriel Fortunas) seine Tochter Alzira aufsucht. Mit Ania Jeruc steht sie in jeder Hinsicht im Zentrum: stimmlich in ihrer einzigen, mörderischen Arie im ersten Akt und den großartigen, immer furioser werdenden Ensembleszenen sowie als Identifikationsfigur. In die Heirat mit Gusmano willigt sie nur ein, um Zamoro zu retten.
"Fremde Welten" lautet das Motto der diesjährigen Festspiele, und nach der Inka-Oper verabschiedete sich die Cappella Aquileia mit einem nordamerikanischen Konzertprogramm. Die Dvorák-Sinfonie "Aus der Neuen Welt" war ein Fest für die Englischhorn-Spielerin aus Regensburg. Vorausgegangen waren die Ouvertüre zu "Girl Crazy" und das Concerto in F von George Gershwin: mit dem unschlagbaren Pianisten Frank Dupree, dessen Vitalität wie Feuer auf Orchester und Publikum übersprang und auch in der Zugabe von Duke Ellingtons Standard "Caravan" nicht zu bremsen war. Dupree, selbst ausgebildeter Perkussionist, hatte ihn mit drei Schlagzeugern und einem Kontrabassisten der Cappella vorbereitet und improvisierte selbst an Klavier und Bongo.
Eigentlich sind die Heidenheimer Opernfestspiele eine Open-Air-Veranstaltung im offenen Rittersaal Schloss Hellenstein. Doch dafür hatte der bisherige Sommer kein Einsehen, sodass auch die zweite Produktion, "Madame Butterfly" von Giacomo Puccini mit den Stuttgarter Philharmonikern, im Congress Centrum stattfinden musste. Wenn Bosch schon bei Verdi allergisch auf eingefahrene Aufführungstraditionen reagiert, dann umso mehr bei Puccini, dem er jede Sentimentalität und Schaumschlägerei austrieb, zugunsten einer charakterlichen Durchleuchtung mit psychopathologischer Zielrichtung.
Sie spiegelte sich in der Inszenierung von Rosetta Cucchi als Kammerspiel wider: So schonungslos in der Desillusionierung einer Frau sieht man diese Oper nicht alle Tage. Cio-Cio-San lebt als Kindfrau in einem Muschelgehäuse des Bühnenbildners Tassilo Tesche, wird von allen Männern - dem Heiratsvermittler Goro (Musa Nkuna), dem Onkel Bonze (Alexander Teliga) - hin und her geschoben und ist wie in einem Wahn gefangen, dass Pinkerton sie liebt. Olga Busuioc verausgabte sich dabei in fast beängstigender Rollenanverwandlung, zwischen Lustschrei und Flüstern, Traumvision und Verlust des Verstands. Héctor Sandoval, im Hawaiihemd mit Whiskeyflasche ein amerikanischer Widerling, ist leider auch stimmlich kein Traummann, während Gerrit Illenberger als Konsul Sharpless einen vollendeten Diplomaten darstellt - ein Retter des Amerikabildes. LOTTE THALER
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.