Der Musiker Edward Debicki gehört zu den polnischen Roma. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges lebte er mit seiner Familie auf Wanderschaft. In "Totenvogel" von seiner Kindheit und Jugend, von den glücklichen Jahren - und vom Leid nach der deutschen Besatzung Polens. Ohne Sentimentalität, mit nüchternem Blick berichtet er davon, um das Geschehene und die verlorenen Menschen nicht dem Vergessen zu überlassen. Es entsteht das das seltene Bild einer Gemeinschaft, von der wenig nach außen tritt, und über deren Schicksal es kaum Zeugnisse gibt.
buecher-magazin.de"Von Zigeunern kein Wort", schreibt ?Dbicki, als es zu Kriegszeiten darum geht, zu erfahren, wer überlebt hat und wer nicht. Als Angehöriger der Polska Roma beschreibt er nun in seinen Erinnerungen, wie es den Seinen vor und während des Zweiten Weltkriegs ergangen ist. Mit seiner Familie verbringt er viele Monate in den Wäldern, stets auf der Flucht vor faschistischen Banden und Treibjagden der Deutschen. Die Arten, wie verschiedene Gruppen in unmittelbarer Nähe morden, könnten barbarischer kaum sein. Auch Nahrungsmangel zehrt an den Kräften; gekocht werden muss selbst mit Ameisensäure und Sumpfwasser. Ein immenser Kontrast zu den friedlichen Jahren auf Wanderschaft, die Dbicki zu Beginn skizziert. Doch auch in größter Not achtet die Familie ihre Bräuche, trägt etwa keine Kleider von Toten, an denen sie immer öfter vorbeikommt. Dbicki beschreibt ein Aushalten unerträglicher Umstände. Seine Schilderungen sind einfach gehalten, es wiederholen sich Absätze über das Auskundschaften der Umgebung eines neuen Verstecks, das Innehalten bei dem leisesten Geräusch und die Angst von Mutter und Kindern, die häufig allein im Versteck ausharren. Anhand der Vielzahl dieser Passagen lässt sich ausmalen, wie viel Kraft die immerwährende Angst gekostet haben muss.
© BÜCHERmagazin, Melanie Schippling
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Gerhard Gnauck verdankt diesen im polnischen Original bereits 2004 erschienenen Erinnerungen von Edward Debicki bewegende Einblicke in das Schicksal der polnischen Roma während des Zweiten Weltkriegs. Der Kritiker liest hier nicht nur wie Debicki und seine Familie vor deutschen Besatzern und ukrainischen Nationalisten fliehen, sondern erfährt auch wie die Familie durch das Musizieren überlebte oder sich mit Partisanen der polnischen Armee und russischen Soldaten verbündete. Wenn Debicki erzählt, wie seine Mutter für ein Rehkitz ein paar Milchtropfen abpresst, mag der Rezensent das Gelesene zwar kaum glauben - und doch wird es wohl so gewesen sein, meint er. Dass der Band auch Fotografien der Hauptpersonen enthält, begrüßt Gnauck.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2019Als Jäger und Sammler von Wölfen verfolgt
Auf der Flucht: Edward Debickis Erinnerungen an das Schicksal der polnischen Roma im Zweiten Weltkrieg
"Wir mussten umziehen in einen anderen Wald", heißt es an einer Stelle mitten in diesem Buch. Da hat sich der Leser längst daran gewöhnt: Nur der Wald bietet Zuflucht, denn der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Nicht jeder jedem gleichermaßen, aber wenn man Fremden begegnet, gilt zunächst als Vorsichtsregel, das Schlimmste zu befürchten. Also besser versteckt halten. Da die Wolfsmenschen - in diesem Buch sind sie meistens aus Deutschland - sich in Städten und Siedlungen konzentrieren, bleibt den anderen nur die freie Natur.
Edward Debicki, Musiker, Autor und Kulturaktivist der polnischen Roma, wurde 1935 im damals polnischen Ostgalizien geboren, der heutigen Westukraine. Er hat in diesem Buch seine Erinnerungen aufgeschrieben; der größte Teil behandelt die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Nach und nach erfährt der Leser, wie die Fronten verliefen zwischen den Menschen, wer wem am gefährlichsten war. Ganz unten in der sozialen Hierarchie standen die Roma.
Gelegentlich verwenden Randgruppen stolz den Namen, unter dem sie stigmatisiert wurden - ein Akt semantischen Widerstands. So spricht Debicki in der polnischen Ausgabe durchweg von "Cyganie", und die Übersetzerin ist seinem Wunsch gefolgt, die deutsche Entsprechung zu verwenden. Die "Zigeuner" also waren vom NS-Regime - wie die Juden - zur physischen Vernichtung bestimmt. Immerhin widmete sich Debickis Sippe überwiegend dem Musizieren, was ihr schon in Friedenszeiten Ansehen verschaffte und auch in Kriegszeiten ein Auskommen oder zumindest eine Gnadenfrist.
Den Roma in den Regionen Galizien und Wolhynien standen während des Krieges die Partisanen der polnischen Heimatarmee am nächsten. Unerwartete Begegnungen mit ihnen endeten oft in Verbrüderung. Etwa seit 1944 zog Debickis Familie auch mit versprengten russischen (sowjetischen) Soldaten durch die Wälder. Gelegentlich taucht ein fliehender Jude auf; eine entkräftete Jüdin steckt die Familie "in Zigeunertracht" und gibt ihr Obdach. Auf der anderen Seite stehen die deutschen Besatzer und die ukrainischen Nationalisten, deren Furor sich vor allem gegen die Polen richtete, aber auch gegen Juden und Roma.
All das wird in stets nur wenige Seiten langen Episoden beschrieben, in schlichten Aussagesätzen aus dem Mund des Erzählers, in kurzen Dialogen, in "Zeitzeugenberichten" der Menschen, denen die Debickis begegnen. Familienmitglieder gehen verloren und werden im weiteren Verlauf des Krieges wiedergefunden, Krankheiten plagen die Flüchtlinge im Wald, deutsche Flugzeuge machen aus der Luft Jagd auf Partisanen, immer wieder erflehen Menschen einen schnellen Tod, um mit ihren Liebsten vereint zu sein. Erstaunlich oft öffnet jemand die Tür für Flüchtende. Aber noch öfter heißt es: gefundene Kartoffeln verzehren, Brennnesselsuppe kochen, einen gefangenen Vogel rupfen. Der Mensch als Jäger und Sammler, von Wölfen verfolgt.
Manchmal hält man bei der Lektüre inne: Kann sich das so zugetragen haben? Die Episode mit dem Rehkitz, dem die Mutter der Familie ein paar Tropfen ihrer Milch abpresst? Das Glück, irgendwo am Waldrand für Ringe, Dollar- oder Rubelscheine ein Bauernhäuschen erwerben zu können - nachdem gerade erst eine deutsche Einheit in diesem Dorf die Roma massakriert hat? "Lügen in Zeiten des Krieges" heißt ein Roman von Louis Begley, der zwei Jahre vor Debicki in derselben Region geboren wurde und darin seine Erlebnisse als jüdisches Kind im Schatten des Holocausts verarbeitet hat. Debicki jedoch hat keinen Roman geschrieben, und nach allem, was wir über diese Region wissen, können wir sagen: So kann es eigentlich gewesen sein. Das gilt erst recht für die vom Erzähler selbst offengelegten Überlebenslügen: Als sein Trupp ostwärts zog, gab die Familie sich als "ukrainische Zigeuner" aus, als es gegen Kriegsende westwärts ging, kaufte sie sich Ausweispapiere, die auf den polnischen Namen "Debicki" lauteten. Papiere und Identitäten waren damals begehrte Handelsware.
Dankenswerterweise wurde der Text ergänzt um einige Fotos: Porträts der Hauptpersonen, mit Pferdewagen, Harfe und Akkordeon im Hintergrund. Die polnische Ausgabe von Debickis Erinnerungen erschien 2004. Zu dem Buch angeregt hatte ihn Jerzy Ficowski, ein bedeutender Dichter, der Polens Roma ("exotisch, faszinierend und doch unbekannt") im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme gegeben hat. Nach dem Krieg wanderte Ficowski zwei Jahre lang mit Roma durch Polen, entdeckte und übersetzte auch ihre Dichterin Bronislawa Wajs, genannt Papusza, die in diesem Buch auftaucht; sie gehörte zur Familie des Autors. Heute leben laut Volkszählung noch etwa 17 000 Roma in Polen; Debicki wohnt in Landsberg (Gorzów), wo er ein alljährlich stattfindendes Roma-Kulturfestival organisiert. Nicht weit davon, in Frankfurt (Oder), lebte bis 2018 die Übersetzerin Karin Wolff, der die Erinnerung an Roma und Juden in Polen ein besonderes Anliegen war. Leider hat sie das Erscheinen dieses Bandes nicht mehr miterlebt.
GERHARD GNAUCK
Edward Debicki:
"Totenvogel". Erinnerungen. Mit einem Gedicht von
Bronislawa Wajs-Papusza.
Aus dem Polnischen von
Karin Wolff. Friedenauer Presse, Berlin 2018. 271 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Flucht: Edward Debickis Erinnerungen an das Schicksal der polnischen Roma im Zweiten Weltkrieg
"Wir mussten umziehen in einen anderen Wald", heißt es an einer Stelle mitten in diesem Buch. Da hat sich der Leser längst daran gewöhnt: Nur der Wald bietet Zuflucht, denn der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Nicht jeder jedem gleichermaßen, aber wenn man Fremden begegnet, gilt zunächst als Vorsichtsregel, das Schlimmste zu befürchten. Also besser versteckt halten. Da die Wolfsmenschen - in diesem Buch sind sie meistens aus Deutschland - sich in Städten und Siedlungen konzentrieren, bleibt den anderen nur die freie Natur.
Edward Debicki, Musiker, Autor und Kulturaktivist der polnischen Roma, wurde 1935 im damals polnischen Ostgalizien geboren, der heutigen Westukraine. Er hat in diesem Buch seine Erinnerungen aufgeschrieben; der größte Teil behandelt die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Nach und nach erfährt der Leser, wie die Fronten verliefen zwischen den Menschen, wer wem am gefährlichsten war. Ganz unten in der sozialen Hierarchie standen die Roma.
Gelegentlich verwenden Randgruppen stolz den Namen, unter dem sie stigmatisiert wurden - ein Akt semantischen Widerstands. So spricht Debicki in der polnischen Ausgabe durchweg von "Cyganie", und die Übersetzerin ist seinem Wunsch gefolgt, die deutsche Entsprechung zu verwenden. Die "Zigeuner" also waren vom NS-Regime - wie die Juden - zur physischen Vernichtung bestimmt. Immerhin widmete sich Debickis Sippe überwiegend dem Musizieren, was ihr schon in Friedenszeiten Ansehen verschaffte und auch in Kriegszeiten ein Auskommen oder zumindest eine Gnadenfrist.
Den Roma in den Regionen Galizien und Wolhynien standen während des Krieges die Partisanen der polnischen Heimatarmee am nächsten. Unerwartete Begegnungen mit ihnen endeten oft in Verbrüderung. Etwa seit 1944 zog Debickis Familie auch mit versprengten russischen (sowjetischen) Soldaten durch die Wälder. Gelegentlich taucht ein fliehender Jude auf; eine entkräftete Jüdin steckt die Familie "in Zigeunertracht" und gibt ihr Obdach. Auf der anderen Seite stehen die deutschen Besatzer und die ukrainischen Nationalisten, deren Furor sich vor allem gegen die Polen richtete, aber auch gegen Juden und Roma.
All das wird in stets nur wenige Seiten langen Episoden beschrieben, in schlichten Aussagesätzen aus dem Mund des Erzählers, in kurzen Dialogen, in "Zeitzeugenberichten" der Menschen, denen die Debickis begegnen. Familienmitglieder gehen verloren und werden im weiteren Verlauf des Krieges wiedergefunden, Krankheiten plagen die Flüchtlinge im Wald, deutsche Flugzeuge machen aus der Luft Jagd auf Partisanen, immer wieder erflehen Menschen einen schnellen Tod, um mit ihren Liebsten vereint zu sein. Erstaunlich oft öffnet jemand die Tür für Flüchtende. Aber noch öfter heißt es: gefundene Kartoffeln verzehren, Brennnesselsuppe kochen, einen gefangenen Vogel rupfen. Der Mensch als Jäger und Sammler, von Wölfen verfolgt.
Manchmal hält man bei der Lektüre inne: Kann sich das so zugetragen haben? Die Episode mit dem Rehkitz, dem die Mutter der Familie ein paar Tropfen ihrer Milch abpresst? Das Glück, irgendwo am Waldrand für Ringe, Dollar- oder Rubelscheine ein Bauernhäuschen erwerben zu können - nachdem gerade erst eine deutsche Einheit in diesem Dorf die Roma massakriert hat? "Lügen in Zeiten des Krieges" heißt ein Roman von Louis Begley, der zwei Jahre vor Debicki in derselben Region geboren wurde und darin seine Erlebnisse als jüdisches Kind im Schatten des Holocausts verarbeitet hat. Debicki jedoch hat keinen Roman geschrieben, und nach allem, was wir über diese Region wissen, können wir sagen: So kann es eigentlich gewesen sein. Das gilt erst recht für die vom Erzähler selbst offengelegten Überlebenslügen: Als sein Trupp ostwärts zog, gab die Familie sich als "ukrainische Zigeuner" aus, als es gegen Kriegsende westwärts ging, kaufte sie sich Ausweispapiere, die auf den polnischen Namen "Debicki" lauteten. Papiere und Identitäten waren damals begehrte Handelsware.
Dankenswerterweise wurde der Text ergänzt um einige Fotos: Porträts der Hauptpersonen, mit Pferdewagen, Harfe und Akkordeon im Hintergrund. Die polnische Ausgabe von Debickis Erinnerungen erschien 2004. Zu dem Buch angeregt hatte ihn Jerzy Ficowski, ein bedeutender Dichter, der Polens Roma ("exotisch, faszinierend und doch unbekannt") im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme gegeben hat. Nach dem Krieg wanderte Ficowski zwei Jahre lang mit Roma durch Polen, entdeckte und übersetzte auch ihre Dichterin Bronislawa Wajs, genannt Papusza, die in diesem Buch auftaucht; sie gehörte zur Familie des Autors. Heute leben laut Volkszählung noch etwa 17 000 Roma in Polen; Debicki wohnt in Landsberg (Gorzów), wo er ein alljährlich stattfindendes Roma-Kulturfestival organisiert. Nicht weit davon, in Frankfurt (Oder), lebte bis 2018 die Übersetzerin Karin Wolff, der die Erinnerung an Roma und Juden in Polen ein besonderes Anliegen war. Leider hat sie das Erscheinen dieses Bandes nicht mehr miterlebt.
GERHARD GNAUCK
Edward Debicki:
"Totenvogel". Erinnerungen. Mit einem Gedicht von
Bronislawa Wajs-Papusza.
Aus dem Polnischen von
Karin Wolff. Friedenauer Presse, Berlin 2018. 271 S., geb., 22,- [Euro].
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