Alt- wie Neu-Frankfurtern, die den Dichter Friedrich Stoltze vielleicht dem Namen nach oder lediglich als Mundartdichter kennen, begegnet in diesem Buch ein Mann, dessen dichterisches Werk überwiegend auf Hochdeutsch abgefasst ist. Sie werden mit einem entschiedenen Demokraten und Republikaner, einem Patrioten, Freiheitsdichter und Freiheitskämpfer konfrontiert, der zeit seines Lebens kompromisslos gegen überlebtegesellschaftliche Strukturen und für verbriefte Volksrechte kämpfte - oder sie verrteidigte, wie etwa die Grundrechte des deutschen Volkes, die das erste deutscheParlament in der Frankfurter Paulskirche 1848 beschlossen hatte. Als Mensch, der die industriellen Wandlungen Deutschlands im 19.Jahrhundert bewusst erlebte und ihre sozialen Folgen einzuschätzen wusste, wurde Stoltze mit seiner Dichtung zum Anwalt der im Stich Gelassenen, der Armen und Verfolgten, der Darbenden und Hungernden. Als Kriegsgegner, der er gewesen ist, wurde er dennoch nicht müde, für das Recht des Volkes einzutreten, sich zu nehmen, was ihm vorenthalten wurde. Er war ein Vorkämpfer für verbriefte und einklagbare Grundrechte, die wir seit 1949 so selbstverständlich in Anspruch nehmen können, dass es vielen kaum noch bewusst ist.
Stoltze als Freiheitskämpfer
Geschichte wiederholt sich nicht? Das kann nur behaupten, wer die Geschichte nicht kennt. Und: "Wer die Geschichte nicht kennt, begreift die Gegenwart nicht", hat Helmut Schmidt gesagt. Deshalb zitierte Franz Neuland den Altkanzler, als er seine politische Friedrich-Stoltze-Biographie vorstellte. Zum 200. Geburtstag des Frankfurter Dichters hat der Verein für Frankfurter Arbeitergeschichte ein Buch herausgegeben, das Stoltze vor allem als Republikaner, Demokraten und Freiheitskämpfer würdigt. "Wir würden uns wünschen, dass Stoltze wieder mehr ins öffentliche Bewusstsein zurückkehrt", sagte der bald 90 Jahre alte Verfasser.
Geschichte wiederholt sich zumindest in ihren Grundmustern. Man traut seinen Augen kaum im Kapitel "Polen-Flüchtlinge" - eine Folge des Aufstands von 1831 gegen die zaristische Herrschaft im sogenannten Kongresspolen. Auf Seite 34 etwa ist von "Willkommens-Ausschüssen" zu lesen, die sich im Januar 1832 an der Frankfurter Stadtgrenze um die ersten von insgesamt 7000 polnischen Emigranten mit Ziel Frankreich kümmerten. Der Senat beteiligte sich mit 57 000 Gulden und schloss mit Gastwirten Verträge für die Aufnahme von Flüchtlingen, die Neuhaus "Vertriebene" nennt. Stoltzes Vater beherbergte in seinem Gasthaus "Zum Rebstock" polnische Offiziere, und Stoltzes Schwester Annett, die in einem ehrenamtlichen Flüchtlingskomitee aktiv war, trug ein Willkommensgedicht vor.
Friedrich Stoltze war damals 15 Jahre alt und vor allem mit den Vormärz-"Demagogen" vertraut, die im Hinterzimmer des "Rebstocks" gegen die restaurative Politik des Metternich-Systems konspirierten. Im März 1832 nahm ihn sein Vater mit zum Demokraten-Treffen auf Schloss Hambach, wo er Ludwig Börne kennenlernte, der neben Schiller und Heine sein Vorbild wurde. Auch Familie Stoltze war einst nach Frankfurt zugewandert. Allerdings nur aus dem Fürstentum Waldeck, für Neuland eine "der finstersten Ecken deutscher Adelsherrschaft".
Der Sohn war nicht nur vom Vater, sondern auch vom Großvater müttterlicherseits freiheitlich geprägt. Kein Wunder, dass er 1848 unter die Freischärler ging. Ob er selbst zur Waffe griff, ist nicht bekannt. Aber als "Kriegsberichterstatter" will Neuland ihn schon sehen. Stoltze dichtete: "Ich trag das Freisoldatenkleid/Und nehm' nicht Fürstensold,/Hab' abgelegt den Fahneneid/Aufs Banner Schwarz-Rot-Gold." Mit einer anderen Ballade offenbarte er sich als Parteigänger von Robert Blum. Der Fraktionsführer der Linken in der Frankfurter Nationalversammlung war in Wien standrechtlich erschossen worden. Stoltze widmete ihm einen poetischen Nachruf im pathetischen Ton seiner Zeit - und in Hochdeutsch.
Erst 1852, als alle demokratischen Organisationen verboten wurden, zog sich der Autor hinter die harmlose Fassade der Sachsenhäuser Mundart zurück, die für "ausländische" Spitzel kaum zu verstehen war. Schon gar nicht für den "Krautjunker" Otto von Bismarck, der im selben Jahr als preußischer Bundestagsgesandter nach Frankfurt kam und 1862 Reichskanzler wurde. Er ließ den Satiriker juristisch verfolgen. Nur in Frankfurt war Stoltze noch sicher. Doch 1866 besetzten die Preußen die Freie Stadt. Stoltze floh nach Stuttgart, konnte aber bald wieder zurückkehren. In seiner Wochenzeitschrift "Frankfurter Latern" wurde er zum Fürsprecher der Unterdrückten, der Juden und Frauen, er hielt es im "Kulturkampf" mit den preußischen Katholiken und mit den Arbeitern gegen das "Sozialistengesetz". Auch wetterte er gegen Krieg und Kolonialismus.
Ein Glücksfall für einen Gewerkschafter wie Franz Neuland. Mit umfassender Geschichtskenntnis und detaillierten Hintergrundinformationen rehabilitiert er den vergessenen Freiheitsdichter, den der Zeitgeist zum "Lokalpoeten" degradiert hatte. Schon zum 100. Geburtstag Stoltzes war sein Werk im Sinne des wilhelminischen Kaiserreichs umgedeutet worden. Auch die Nationalsozialisten nahmen ihn für sich in Anspruch. Nach dem zweiten Weltkrieg erschienen ausschließlich Mundartgedichte. Es waren Journalisten, die den politischen Dichter wiederentdeckten, darunter Heinrich Heym, der 1965 an dieser Stelle "das andere Gesicht des Friedrich Stoltze" porträtierte. Schon ein Jahr zuvor aber hatte Franz Neuland einen fünfseitigen Artikel über den "vergessenen Freiheitssänger" im "Sprachwart", der Fachzeitschrift der deutschen Korrektoren in der IG Druck und Papier, veröffentlicht. Nach mehr als 50 Jahren hat der Autor sein Urteil über Stoltze nun bravourös besiegelt.
CLAUDIA SCHÜLKE
Franz Neuland: ",Freiheit, Du mein Losungswort!' Der Frankfurter Dichter und Publizist Friedrich Stoltze (1816-1891)", Hrsg.: Verein für Frankfurter Arbeitergeschichte e.V., 2016. VAS-Verlag für akademische Schriften. 177 Seiten, 16,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main