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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2022

Mit Blick auf die Anarchie der Werte
Friedrich Wilhelm Grafs exzellente Biographie des Theologen und Politikers Ernst Troeltsch

Diese Biographie beginnt mit einer Trauerfeier im Krematorium Berlin-Wilmersdorf am 3. Februar 1923. Zwei Tage zuvor war der protestantische Theologe Ernst Troeltsch überraschend im Alter von 57 Jahren verstorben. Er galt als einer der Bedeutendsten unter den Gelehrten des wilhelminischen Kaiserreichs weit über sein ursprüngliches Fach hinaus. Seine Berliner Professur für "Religions-, Sozial- und Geschichtsphilosophie und christliche Religionsgeschichte" lag außerhalb der Theologischen Fakultät. Spätestens seit Beginn des Ersten Weltkriegs war er zudem als charismatischer öffentlicher Redner und durch zahlreiche Veröffentlichungen in Kulturzeitschriften auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. In den Wirren von Revolution und Nachkriegszeit erwies er sich als scharfsinniger politischer Kommentator. Er wurde zu einem führenden Politiker des linksliberalen Bürgertums, das eine Verständigung mit der proletarisch geprägten Sozialdemokratie für dringend nötig hielt. Als 1919 der erste Reichspräsident gewählt wurde, überlegte die liberale DDP, Troeltsch als ihren Kandidaten aufzustellen.

Es ist deshalb kein Wunder, dass bei der Trauerfeier für ihn sowohl wichtige Politiker anwesend waren wie die bedeutendsten Vertreter der Wissenschaft: Friedrich Meinecke und Otto Hintze, Albert Einstein und Gustav Radbruch, aus der jüngeren Generation Erich Auerbach, Paul Tillich und Hans Jonas. Umso überraschender mutet es an, dass Troeltsch nach seinem Tod außerhalb der Theologie rasch und anhaltend in Vergessenheit geriet.

Vergleicht man seine Wirkungsgeschichte mit der Max Webers, der bis zu einem dramatischen Zerwürfnis 1915 sein enger Kollege und Freund, ja zeitweise sogar Hausgenosse war, dann wird der Kontrast unübersehbar. Auf Webers Bedeutung können sich heute alle einigen; nach ihm sind Institute und Förderprogramme benannt. Troeltsch dagegen wird häufig nur als abhängig von Weber gesehen, ohne die radikale Unterschiedlichkeit der Erkenntnisinteressen wahrzunehmen. Die Abkehr der protestantischen Theologie vom Historismus und die schleichende Entwicklung der Soziologie zu einer "Gegenwartswissenschaft" haben einen Denker an den Rand gedrängt, der sich um ein soziologisch aufgeklärtes Verständnis der Religionsgeschichte, insbesondere der des Christentums, bemühte. Das ist ein gravierendes ideengeschichtliches Versäumnis.

Niemand hat in den letzten Jahrzehnten so viel zu dessen Überwindung geleistet wie der Verfasser der jetzt vorliegenden neuen Biographie. Friedrich Wilhelm Graf ist selbst als äußerst produktiver Religionsintellektueller bekannt, hat aber immer auch die Edition von Troeltschs Schriften in einer "Kritischen Gesamtausgabe" maßgeblich betrieben. Ohne die Sammlung der über 250 Rezensionen aus Troeltschs Feder und der oft unter Pseudonym erschienenen politischen Kommentare, die eine wahre Goldgrube darstellen, ohne die neue dreibändige Ausgabe von Troeltschs tausendseitiger Geschichte des Christentums, die den Reichtum der Weiterführungen aus dem Handexemplar des Verfassers zugänglich gemacht hat, gäbe es die Grundlagen für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem großen Denker heute gar nicht.

Grafs Biographie wird durch ihren Kenntnisreichtum und die Plastizität ihrer Schilderungen für lange Zeit ein Standardwerk sein. Von Troeltsch übernimmt Graf die methodische Leitlinie, die Entwicklung religiöser und philosophischer Ideen im engsten Zusammenhang mit ihren Verwendungsweisen und Produktionsformen zu sehen. Mit großer Wärme, vielleicht sogar ein wenig distanzlos schildert der Verfasser zunächst das Milieu des protestantischen Bildungsbürgertums, dem der Augsburger Arztsohn Troeltsch entstammt. Den Militärdienst nach der Schulzeit erlebte er entsprechend "als schockierende Konfrontation mit kirchenfernen, in seinen Augen amoralischen Gleichaltrigen".

Im Theologiestudium entwickelte Troeltsch seine Ablehnung eines christlichen Denkens, das sich vom modernen intellektuellen Leben und insbesondere von der Relativierung aller Geltungsansprüche durch konsequent historisches Denken isoliert. Die rasche akademische Karriere des glänzend Begabten führte ihn bald nach Heidelberg, wo nicht nur die Universität selbst ein Magnet für den ehrgeizigen Nachwuchs war, sondern sich in elitären Arbeitskreisen und Salons epochale Konstellationen intellektueller Begegnung ergaben. Wir erfahren durch dieses Buch Genaues über die Motive für die intensiven Versuche, die Geschichte des Protestantismus und die Entstehung der "modernen Welt" miteinander in Beziehung zu setzen. Gerade Troeltsch war es, der dabei allen Kontinuitätsmythen hinsichtlich Protestantismus und Moderne entgegentrat und sich auch dem zeitgenössischen "Nationalprotestantismus" entzog. Die Nation könne für die Christen nie der höchste Kulturwert sein.

Äußerst differenziert schildert der Biograph die Folgen von Troeltschs Wechsel "aus dem Heidelberger kleinstaatlichen Idyll auf das Berliner Schlachtfeld" im Jahr 1915 und die Ambivalenzen seiner Kriegspublizistik. Urteilssicher weist er die Beschuldigung zurück, auch Troeltsch habe antisemitisch gedacht; vom Vorwurf eines "volksdeutschen Kulturchauvinismus" spricht er ihn aber nicht frei. Einen Höhepunkt erreichte Troeltschs Entwicklung in seinem späten Versuch, "westliche" Demokratie und Menschenrechte mit einer "deutschen" Tradition des Individualitätsdenkens zu synthetisieren. Thomas Manns bekannte Wende zur Demokratie wurde davon direkt beeinflusst.

Vor dem Epilog zu Troeltschs Verständnis des Christentums als einer "personalistischen" Gegenkraft zu den "depersonalisierenden" Kräften von Bürokratie, Militarismus und Kapitalismus lesen wir noch etwas über Schildbürgerstreiche der heutigen Berliner Verwaltung einschließlich der Verweigerung einer Gedenktafel am einstigen Wohnhaus.

Es ist Graf gelungen, seinen Helden umfassend zu schildern, ohne ihn zum allzeit irrtumslosen Genie zu stilisieren. Überraschend ist nur, dass er dem zweiten umfangreichen Hauptwerk Troeltschs nicht dieselbe Sorgfalt zukommen lässt wie dem ersten. Während die "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" souverän zusammengefasst werden, bleibt "Der Historismus und seine Probleme" etwas konturlos. Hat Troeltsch nun das Problem der "Anarchie der Werte", zu dessen Lösung er in Berlin angetreten war, tatsächlich gelöst oder nicht? Damit bleibt auch das Scharnier zu den zahlreichen ideengeschichtlichen Arbeiten offen, die Troeltsch noch zum Ganzen einer "europäischen Kultursynthese" zusammenschmieden wollte.

Ein Leitmotiv für Grafs Darstellung ist die Frage nach einem "liberalen Protestantismus". Auch hierzu enthält das Buch viel Kluges. Troeltsch sah sich selbst keineswegs immer eindeutig als Liberalen, weder im politischen noch im theologischen Sinn. Sosehr ihm die "Zusammenbestehbarkeit" von christlichem Glauben und moderner Welt ein Anliegen war, sosehr er annahm, dass die Religionsferne der gebildeten Schichten kein irreversibler Zustand sei, so wenig hatte er doch einen simplen Begriff von Moderne. Die Rede von einem "modernitätskompatiblen" Christentum ging ihm weniger leicht über die Lippen als seinem Biographen. Vielleicht ist deshalb die Charakterisierung seines Denkens, die von Eduard Spranger stammt, nämlich als "existentiellen Historismus", besser geeignet als die Rede vom liberalen Protestantismus. Man muss ja weder Protestant noch Liberaler sein, um Troeltschs Lebenswerk als imponierend und inspirierend zu erleben. HANS JOAS

Friedrich Wilhelm Graf: "Ernst Troeltsch". Theologe im Welthorizont.

C. H. Beck Verlag, München 2022. 638 S., Abb., geb.,

38,- Euro.

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