Deutschland um 1900 - das anbrechende 20. Jahrhundert scheint es gut mit den Deutschen und dem Wilhelminischen Reich zu meinen. In den emporwuchernden Mietskasernen für das neue Industrieproletariat der Großstädte mag es gären, doch auf den Ringstraßen der Großstädte flaniert man stolz vor bürgerlichen Prunkbauten, die Wirtschaft floriert, Adel und Militär genießen uneingeschränktes Sozialprestige, und die Mehrheit der Bevölkerung verehrt den Kaiser und übt sich im Untertanengeist. Wilhelm II. liebt seine Dackel, die Marine und Weltmachtträume, die bis China reichen. In Übersee reifen die Kolonialwaren, der Rhein ist romantisch und Elsass-Lothringen deutsch. Auf den rund 800 Bildern dieses Bandes zeigt sich Deutschland überwiegend so, wie es sich gerne sah: selbstbewusst, glanzvoll, patriotisch, bodenständig, konservativ, aber auch fortschrittsgläubig und - wenn man es sich leisten konnte - mondän.Wie schon bei dem TASCHEN-Bestseller America 1900 handelt es sich bei diesen Bildern um besonders schöne Beispiele für das historische Photochrom-Verfahren, eine Drucktechnik, die Schwarz-Weiß-Fotografien Farbe verlieh. Die Reise führt von den Lustschlössern Ludwigs II. in den bayerischen Alpen bis in die Seebäder an Nord- und Ostsee durch ein Deutschland, das gerade einen Modernisierungsschub vom Agrarstaat hin zum Industriestaat erlebt, aber noch stark seinen traditionellen Wurzeln verhaftet ist. Bilder von mittelalterlichen Städten, ländlichem Brauchtum und als erhaben wahrgenommenen Landschaften stehen so einträchtig neben Darstellungen technischer Neuerungen und moderner Gründerzeitboulevards. Das Porträt eines Landes im Aufbruch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2021NEUES REISEBUCH
Für den Tisch In Gedanken zu reisen ermöglicht, den Stillstand metaphysisch zu überwinden. Wenn man schon beim Imaginieren ist, kann man gleich Zeitreisen unternehmen. Der Bildband "Deutschland 1900", prächtig, schwülstig und schwer wie das untergegangene Kaiserreich, bietet zudem eine bedeutend buntere Variante zur Schwarz-Weiß-Lektüre vergangener Schachpartien, wie sie jetzt nach der Netflix-Serie "Damengambit" in Mode kommen. Das Buch präsentiert eine imposante Sammlung von raffiniert kolorierten Aufnahmen, die kurz nach Reichsgründung in den deutschen Königreichen, Herzogtümern und preußischen Provinzen entstanden sind.
Das angewendete Photochrom-Verfahren, eine zeitgenössische Neuheit, bot die Möglichkeit, das von Gründerfreude und französischen Reparationen bestens alimentierte Reich in märchenhafter Vielfalt zu porträtieren. Von Berlin aus geht es an die See, dann die Elbe hinauf und ins "Herz" des Reichs. Das soll, geographisch und auch sonst befremdlicherweise, in der Gegend um Hannover und Braunschweig geschlagen haben. Weiter den Rhein entlang verweilt die Optik am Kölner Dom, der nach einigen hundert Jahren Bauzeit eben erst vollendet war. Bayern bekommt auch noch ein eigenes Kapitel. Historisch prekär erweist sich der Umgang mit Straßburg (kürzlich erobert, fehlt), Königsberg (kommt knapp vor) oder ostpreußischen Städten wie Elbing oder Allenstein (fehlen). Wer dort noch einen Koffer oder eine Erinnerung hat, muss das missen.
Dafür gibt es reichlich Neuschwanstein oder das mittelalterliche Hildesheim aus vielen Perspektiven. Beim Betrachten der zahlreichen Innenstadtaufnahmen fragt man sich, ob es um 1900 einen Lockdown gab, so menschenleer wirken häufig die Straßen und Häfen. Was vor allem fehlt, beziehungsweise nicht, sind Automobile.
Das emporgestiegene Deutschland hat weite Plätze, breite Alleen, kathedralenhafte Bahnhöfe - und Pferdefuhrwerke. Die ersten Autos sind bereits unterwegs, aber die Serienproduktion hat noch nicht begonnen. So wirkt das alte Reich geradezu gemütlich und bis in die blühenden Landschaften dezent koloriert, was ein wenig mit dem Geltungsdrang des schrillen Kaisers kontrastiert, der ebenfalls verewigt wird. Doch vor allem bereist der Zeittourist ein fast mittelalterliches Deutschland und sieht fachwerklich eng bebaute Gemeinden und Städte.
Es war ein Reich, das nach 1900 noch ein paar Jahre hatte, ehe es dann in den Feuerstürmen der Industrialisierung und des Bombenkriegs weitgehend verglühte. Doch davon wissen die wenigen, die man auf Märkten, Plätzen, Brücken, Promenaden spazieren, flanieren, bummeln und tummeln sieht, noch nichts.
pca.
Marc Walter, Sabine Arqué, Karin Lelonek: "Deutschland 1900. Ein Porträt in Farbe"; Taschen Verlag, Hardcover mit Ausklappseiten, 612 Seiten und fast vier Kilogramm schwer, 50 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Für den Tisch In Gedanken zu reisen ermöglicht, den Stillstand metaphysisch zu überwinden. Wenn man schon beim Imaginieren ist, kann man gleich Zeitreisen unternehmen. Der Bildband "Deutschland 1900", prächtig, schwülstig und schwer wie das untergegangene Kaiserreich, bietet zudem eine bedeutend buntere Variante zur Schwarz-Weiß-Lektüre vergangener Schachpartien, wie sie jetzt nach der Netflix-Serie "Damengambit" in Mode kommen. Das Buch präsentiert eine imposante Sammlung von raffiniert kolorierten Aufnahmen, die kurz nach Reichsgründung in den deutschen Königreichen, Herzogtümern und preußischen Provinzen entstanden sind.
Das angewendete Photochrom-Verfahren, eine zeitgenössische Neuheit, bot die Möglichkeit, das von Gründerfreude und französischen Reparationen bestens alimentierte Reich in märchenhafter Vielfalt zu porträtieren. Von Berlin aus geht es an die See, dann die Elbe hinauf und ins "Herz" des Reichs. Das soll, geographisch und auch sonst befremdlicherweise, in der Gegend um Hannover und Braunschweig geschlagen haben. Weiter den Rhein entlang verweilt die Optik am Kölner Dom, der nach einigen hundert Jahren Bauzeit eben erst vollendet war. Bayern bekommt auch noch ein eigenes Kapitel. Historisch prekär erweist sich der Umgang mit Straßburg (kürzlich erobert, fehlt), Königsberg (kommt knapp vor) oder ostpreußischen Städten wie Elbing oder Allenstein (fehlen). Wer dort noch einen Koffer oder eine Erinnerung hat, muss das missen.
Dafür gibt es reichlich Neuschwanstein oder das mittelalterliche Hildesheim aus vielen Perspektiven. Beim Betrachten der zahlreichen Innenstadtaufnahmen fragt man sich, ob es um 1900 einen Lockdown gab, so menschenleer wirken häufig die Straßen und Häfen. Was vor allem fehlt, beziehungsweise nicht, sind Automobile.
Das emporgestiegene Deutschland hat weite Plätze, breite Alleen, kathedralenhafte Bahnhöfe - und Pferdefuhrwerke. Die ersten Autos sind bereits unterwegs, aber die Serienproduktion hat noch nicht begonnen. So wirkt das alte Reich geradezu gemütlich und bis in die blühenden Landschaften dezent koloriert, was ein wenig mit dem Geltungsdrang des schrillen Kaisers kontrastiert, der ebenfalls verewigt wird. Doch vor allem bereist der Zeittourist ein fast mittelalterliches Deutschland und sieht fachwerklich eng bebaute Gemeinden und Städte.
Es war ein Reich, das nach 1900 noch ein paar Jahre hatte, ehe es dann in den Feuerstürmen der Industrialisierung und des Bombenkriegs weitgehend verglühte. Doch davon wissen die wenigen, die man auf Märkten, Plätzen, Brücken, Promenaden spazieren, flanieren, bummeln und tummeln sieht, noch nichts.
pca.
Marc Walter, Sabine Arqué, Karin Lelonek: "Deutschland 1900. Ein Porträt in Farbe"; Taschen Verlag, Hardcover mit Ausklappseiten, 612 Seiten und fast vier Kilogramm schwer, 50 Euro
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