Produktdetails
- Verlag: Juventa Verlag GmbH
- ISBN-13: 9783779908074
- Artikelnr.: 07704908
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.1995Das Gesundheitswesen ist ein Krankheitswesen
Ein neuer Wissenschaftszweig sucht die Holzwege des medizinischen Versorgungssystems zu verlassen
Gesundheit ist zu wichtig, um sie allein der Medizin zu überlassen. Seit Heilung so selten geworden ist, weil die unheilbaren, die chronischen Krankheiten heute bei weitem überwiegen, geht die hundertjährige Alleinherrschaft des Heilgotts Asklepios zu Ende. Man entsinnt sich wieder seiner lange vernachlässigten Tochter Hygieia, Göttin der Gesundheit.
Weil die Medizin fast völlig zur Krankheitswissenschaft degenerierte, melden sich nun vielstimmig die "Gesundheitswissenschaften" zu Wort. Unter dem international gebräuchlichen Begriff "Public Health" sind sie im Ausland seit langem akademisch verankert. Schon 1912 entstand in den Vereinigten Staaten am Massachusetts Institute of Technology die erste "School of Public Health".
In Deutschland entwickelt sich seit etwa einem Jahrzehnt, von der Öffentlichkeit noch kaum bemerkt, das multidisziplinäre Schrägstrich-Fach "Public Health/Gesundheitswissenschaften", vorerst organisiert in fünf Forschungsverbünden und sechs Aufbaustudiengängen, beides mit staatlicher Anschubförderung. Deutschsprachige Literatur gibt es mittlerweile auch, unter anderem ein Handbuch "Gesundheitswissenschaften", in dem all dies nachzulesen ist. Die Herausgeber, Klaus Hurrelmann und Ulrich Laaser, sind Professoren der bisher einzigen deutschen Fakultät für Gesundheitswissenschaften, die die Universität Bielefeld eingerichtet hat.
Die klassische, von der Weltgesundheitsorganisation verbreitete Definition findet sich auch hier: "Public Health ist die Wissenschaft und Praxis der Krankheitsverhütung, Lebensverlängerung und Gesundheitsförderung durch gemeindebezogene Maßnahmen." Sie befaßt sich im Gegensatz zur Medizin nicht mit der Krankheit des Individuums, sondern mit der Gesundheit der Bevölkerung, hat also eine ganz andere Blickrichtung. Ihre Sichtweise ist nicht ganz neu: Das Handbuch bezieht sich gleich zu Beginn auf die verschüttete - oder vielmehr durch den Nationalsozialismus beendete - Tradition der deutschen Sozialhygiene des neunzehnten Jahrhunderts mit Männern wie Rudolf Virchow oder Salomon Neumann.
Der Neubeginn wird vierfach begründet: mit der neuen Tendenz zur Interdisziplinarität und zur Synthese nach Jahrzehnten der Spezialisierung; mit dem Vorherrschen von Krankheiten, die meist nicht zu heilen, aber oft zu verhüten sind; mit der Notwendigkeit, intensiver nach dem Nutzen der einzelnen Leistungen des kaum noch bezahlbaren Gesundheitswesens zu fragen und Prioritäten zu setzen; schließlich mit der Umweltzerstörung in der nördlichen Erdhälfte und der sozialen Unterentwicklung in der südlichen, denn beide bedrohen die Gesundheit der Bewohner.
Es leuchtet ein, daß die Medizin allein mit diesen Fragen überfordert ist, wie Hurrelmann und Laaser darlegen. Sie sei an ihre Grenzen gelangt, und dies müsse zum Teil gerade ihren Erfolgen beim Zurückdrängen der akuten (Infektions-) Krankheiten zugeschrieben werden. Daß der Grenznutzen des konventionellen Gesundheitswesens (besser "Krankheitswesens") immer mehr abnimmt, erklären sie mit der bislang nicht vollzogenen Umstellung auf das veränderte Krankheits- und damit Aufgabenspektrum. Noch immer steht die kurative Medizin ganz im Vordergrund, noch immer werden Gesundheitsförderung und Krankheitsverhütung ebenso vernachlässigt wie die Pflege und die Rehabilitation der zahlreicher werdenden chronisch Kranken und Altersgebrechlichen. Selbst dort, wo die Medizin sich um Prävention bemüht, versucht sie meist nur, isolierte Risikofaktoren auszuschalten, sofern sie unter Prävention nicht ohnehin nur Krankheitsfrüherkennung versteht.
Die Gesundheitswissenschaften hingegen betrachten es als ihre Hauptaufgabe, die Bedingungen von Gesundheit zu klären. Das ist, so lehrt dieses Buch, nur multidisziplinär möglich. Neben den methodischen Werkzeugen (vor allem Epidemiologie und Statistik) werden eingangs die wichtigsten Grundlagen für Public Health ausführlich dargestellt. Sie kommen natürlich aus der Medizin, aber auch aus anderen Fächern, vor allem Psychologie und Soziologie. Denn das individuelle Verhalten und die es prägenden sozialen Verhältnisse bestimmen zu einem wesentlichen Teil Gesundheit und Krankheit.
Daß dies sogar für die Infektionskrankheiten gilt, wird mit dem Paradebeispiel Tuberkulose belegt: Die verbesserten hygienischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in den Industrieländern drängten die "Schwindsucht" zurück, lange bevor wirksame Medikamente entwickelt wurden. Die sind nun seit Jahrzehnten verfügbar, und trotzdem ist diese Krankheit noch heute eines der größten Gesundheitsprobleme in der Dritten Welt. Da scheint es plausibel, daß die Lebenserwartung in erster Linie von der Lebensweise und der sozialen Umwelt bestimmt sei. Deren Einflüsse gelten als doppelt so stark wie die der natürlichen (oder denaturierten) Umwelt sowie der Erbanlagen - und diese wiederum gelten als doppelt so einflußreich wie die Gesundheitsversorgung.
Eine wichtige Rolle in diesem Handbuch spielen auch Fragen der Analyse und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. Sein Nutzen ist im Detail schwer nachzuweisen. Aber der Aufwand ist immens. Allein der britische staatliche Gesundheitsdienst dürfte "nach dem Zerfall der Roten Armee der größte Arbeitgeber der Welt sein", schreibt Michael Arnold. Vor allem diesen letzten Teil des Handbuchs möchte man allen empfehlen, die etwas mit Gesundheitspolitik zu tun haben. Hier erfährt man, wie blind die Verantwortungsträger handeln: ohne hinreichende Informationen über die Verteilung vonGesundheitsrisiken, Krankheiten und Todesfällen, über präventive und kurative Leistungen und deren Wirkungen auf die Gesundheit.
Auch andere gesundheitswissenschaftliche Neuerscheinungen verdienen Aufmerksamkeit. Das eine stellt "Public Health und Pflege" als neue wissenschaftliche Disziplinen vor. Die Pflegewissenschaft, so liest man, sei in anderen Ländern längst akademisch etabliert, in den Vereinigten Staaten zum Beispiel seit Beginn des Jahrhunderts. Vor allem Lehr- und Führungskräfte in der Kranken- und Altenpflege holen sich ihr Rüstzeug an den Universitäten. Bei uns hingegen kämpfen die Pflegekräfte erst seit kurzem um Eigenständigkeit, höhere Qualifikation und Anerkennung. Sie wollen nicht länger nur als "ärztlicher Assistenzberuf" oder "Heilhilfsberuf" bezeichnet und nicht von überwiegend Fachfremden unterrichtet werden.
Die Folge der in diesem Buch kritisierten bisherigen Fehlentwicklung war der Pflegenotstand, denn Schwestern bleiben unter solch unbefriedigenden Bedingungen nur wenige Jahre im Beruf. Jetzt modernisiert sich die Pflege aber auch in Deutschland. Statt sich mit dem gewohnten "verdünnten Aufguß der Medizin" zu begnügen, sucht sie nach ihrer eigenen Wissensbasis und hat zugleich schon die ersten Ergänzungsstudiengänge eingerichtet bekommen, ebenso wie der Bereich Public Health. Beide sind im Aufbau, beide haben noch kein einheitliches Konzept, wie in diesem Band eingeräumt wird. Es ist ein Werkstattbericht, herausgegeben von Doris Schaeffer und Rolf Rosenbrock (beide vom Wissenschaftszentrum Berlin), der im wesentlichen auf einer Tagung im November 1992 beruht. Leider haben nicht alle Autoren ihre Beiträge auf den neuesten Stand gebracht.
Denn die Gesundheitswissenschaften entwickeln sich rasch, und die ersten Ergebnisse liegen bereits vor. Ein Beispiel ist eine Arbeit aus der gesundheitswissenschaftlichen Fakultät in Bielefeld von Bernhard Badura und Günter Feuerstein. Hinter dem spröden Titel "Systemgestaltung im Gesundheitswesen" verbirgt sich eine spannend zu lesende Analyse unserer hochtechnisierten Medizin samt massiver, aber wohlfundierter Kritik. Im Zentrum der Untersuchungen steht das Krankenhaus. Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß dort die Versorgung an den Bedürfnissen der Patienten vorbeigeht. Teilsysteme und Einzelfunktionen hätten sich verselbständigt und folgten jeweils ihrer eigenen Logik. Die technischen Leistungen würden über-, die sozialen unterbewertet. Hierzu zählen die Autoren beispielsweise die Interaktionen innerhalb des therapeutischen Teams und von Patienten und Betreuern, ihre Pflege und den eigenen Beitrag des Kranken zur Gesundung.
Badura und Feuerstein erörtern auch die Gründe für den unerschöpflichen Technikbedarf des medizinischen Systems. Vom "diagnostischen Overkill" ist da die Rede, und als Beispiel für eine nahezu ungehemmte Expansion der Medizintechnik dient die Kardiologie. Gegen den Abgrund an Verschwendung und Irrationalität, der sich hier auftut, kann der Herzklappen-Korruptionsskandal als Randerscheinung vernachlässigt werden.
Denn die Zahl der mit den deutschen Krankenkassen abgerechneten Langzeit-EKGs stieg in drei Jahren um siebzig Prozent; die Zahl der Angiokardiographien (kontrastmittelunterstützte Röntgendarstellungen des Herzens und seiner Gefäße) hat sich in einem Jahrzehnt sogar mehr als verhundertfacht. Die Notwendigkeit jeder zweiten Schrittmacher-Implantation ist nach einer amerikanischen Studie zweifelhaft. Daß der therapeutische Wert der Bypassoperation wie auch der Ballondilatation in vielen Fällen umstritten ist, ändert nichts am unaufhaltsamen Anstieg der Zahl solcher Behandlungen verengter Herzkranzgefäße.
Diese medizinisch nicht ausreichend zu begründende Leistungsausweitung schreiben Badura und Feuerstein nicht allein den Patientenwünschen und der "ökonomischen Indikation" von Ärzten zu. Vielmehr analysieren sie scharfsinnig die Prozesse der selbstreproduzierenden Techniknutzung. Sie diskutieren aber auch detaillierte Vorschläge für etwas scheinbar Selbstverständliches und Einfaches, das doch so schwer zu machen ist: für ein medizinisches Vorsorgungssystem, das am Menschen orientiert wäre. ROSEMARIE STEIN
Klaus Hurrelmann, Ulrich Laaser (Hrsg.): "Gesundheitswissenschaften". Handbuch für Lehre, Forschung und Praxis. Beltz Verlag, Weinheim, Basel 1993. 450 S., Abb., geb., 128,- DM.
Doris Schaeffer, Martin Moers, Rolf Rosenbrock (Hrsg.): "Public Health und Pflege". Zwei neue gesundheitswissenschaftliche Disziplinen. Edition Sigma, Rainer Bohn Verlag, Berlin 1994. 297 S., Abb., br., 33,- DM.
Bernhard Badura, Günter Feuerstein: "Systemgestaltung im Gesundheitswesen". Zur Versorgungskrise der hochtechnisierten Medizin und den Möglichkeiten ihrer Bewältigung. Juventa Verlag, Weinhein, München 1994. 328 S., Abb., br., 49,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein neuer Wissenschaftszweig sucht die Holzwege des medizinischen Versorgungssystems zu verlassen
Gesundheit ist zu wichtig, um sie allein der Medizin zu überlassen. Seit Heilung so selten geworden ist, weil die unheilbaren, die chronischen Krankheiten heute bei weitem überwiegen, geht die hundertjährige Alleinherrschaft des Heilgotts Asklepios zu Ende. Man entsinnt sich wieder seiner lange vernachlässigten Tochter Hygieia, Göttin der Gesundheit.
Weil die Medizin fast völlig zur Krankheitswissenschaft degenerierte, melden sich nun vielstimmig die "Gesundheitswissenschaften" zu Wort. Unter dem international gebräuchlichen Begriff "Public Health" sind sie im Ausland seit langem akademisch verankert. Schon 1912 entstand in den Vereinigten Staaten am Massachusetts Institute of Technology die erste "School of Public Health".
In Deutschland entwickelt sich seit etwa einem Jahrzehnt, von der Öffentlichkeit noch kaum bemerkt, das multidisziplinäre Schrägstrich-Fach "Public Health/Gesundheitswissenschaften", vorerst organisiert in fünf Forschungsverbünden und sechs Aufbaustudiengängen, beides mit staatlicher Anschubförderung. Deutschsprachige Literatur gibt es mittlerweile auch, unter anderem ein Handbuch "Gesundheitswissenschaften", in dem all dies nachzulesen ist. Die Herausgeber, Klaus Hurrelmann und Ulrich Laaser, sind Professoren der bisher einzigen deutschen Fakultät für Gesundheitswissenschaften, die die Universität Bielefeld eingerichtet hat.
Die klassische, von der Weltgesundheitsorganisation verbreitete Definition findet sich auch hier: "Public Health ist die Wissenschaft und Praxis der Krankheitsverhütung, Lebensverlängerung und Gesundheitsförderung durch gemeindebezogene Maßnahmen." Sie befaßt sich im Gegensatz zur Medizin nicht mit der Krankheit des Individuums, sondern mit der Gesundheit der Bevölkerung, hat also eine ganz andere Blickrichtung. Ihre Sichtweise ist nicht ganz neu: Das Handbuch bezieht sich gleich zu Beginn auf die verschüttete - oder vielmehr durch den Nationalsozialismus beendete - Tradition der deutschen Sozialhygiene des neunzehnten Jahrhunderts mit Männern wie Rudolf Virchow oder Salomon Neumann.
Der Neubeginn wird vierfach begründet: mit der neuen Tendenz zur Interdisziplinarität und zur Synthese nach Jahrzehnten der Spezialisierung; mit dem Vorherrschen von Krankheiten, die meist nicht zu heilen, aber oft zu verhüten sind; mit der Notwendigkeit, intensiver nach dem Nutzen der einzelnen Leistungen des kaum noch bezahlbaren Gesundheitswesens zu fragen und Prioritäten zu setzen; schließlich mit der Umweltzerstörung in der nördlichen Erdhälfte und der sozialen Unterentwicklung in der südlichen, denn beide bedrohen die Gesundheit der Bewohner.
Es leuchtet ein, daß die Medizin allein mit diesen Fragen überfordert ist, wie Hurrelmann und Laaser darlegen. Sie sei an ihre Grenzen gelangt, und dies müsse zum Teil gerade ihren Erfolgen beim Zurückdrängen der akuten (Infektions-) Krankheiten zugeschrieben werden. Daß der Grenznutzen des konventionellen Gesundheitswesens (besser "Krankheitswesens") immer mehr abnimmt, erklären sie mit der bislang nicht vollzogenen Umstellung auf das veränderte Krankheits- und damit Aufgabenspektrum. Noch immer steht die kurative Medizin ganz im Vordergrund, noch immer werden Gesundheitsförderung und Krankheitsverhütung ebenso vernachlässigt wie die Pflege und die Rehabilitation der zahlreicher werdenden chronisch Kranken und Altersgebrechlichen. Selbst dort, wo die Medizin sich um Prävention bemüht, versucht sie meist nur, isolierte Risikofaktoren auszuschalten, sofern sie unter Prävention nicht ohnehin nur Krankheitsfrüherkennung versteht.
Die Gesundheitswissenschaften hingegen betrachten es als ihre Hauptaufgabe, die Bedingungen von Gesundheit zu klären. Das ist, so lehrt dieses Buch, nur multidisziplinär möglich. Neben den methodischen Werkzeugen (vor allem Epidemiologie und Statistik) werden eingangs die wichtigsten Grundlagen für Public Health ausführlich dargestellt. Sie kommen natürlich aus der Medizin, aber auch aus anderen Fächern, vor allem Psychologie und Soziologie. Denn das individuelle Verhalten und die es prägenden sozialen Verhältnisse bestimmen zu einem wesentlichen Teil Gesundheit und Krankheit.
Daß dies sogar für die Infektionskrankheiten gilt, wird mit dem Paradebeispiel Tuberkulose belegt: Die verbesserten hygienischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in den Industrieländern drängten die "Schwindsucht" zurück, lange bevor wirksame Medikamente entwickelt wurden. Die sind nun seit Jahrzehnten verfügbar, und trotzdem ist diese Krankheit noch heute eines der größten Gesundheitsprobleme in der Dritten Welt. Da scheint es plausibel, daß die Lebenserwartung in erster Linie von der Lebensweise und der sozialen Umwelt bestimmt sei. Deren Einflüsse gelten als doppelt so stark wie die der natürlichen (oder denaturierten) Umwelt sowie der Erbanlagen - und diese wiederum gelten als doppelt so einflußreich wie die Gesundheitsversorgung.
Eine wichtige Rolle in diesem Handbuch spielen auch Fragen der Analyse und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. Sein Nutzen ist im Detail schwer nachzuweisen. Aber der Aufwand ist immens. Allein der britische staatliche Gesundheitsdienst dürfte "nach dem Zerfall der Roten Armee der größte Arbeitgeber der Welt sein", schreibt Michael Arnold. Vor allem diesen letzten Teil des Handbuchs möchte man allen empfehlen, die etwas mit Gesundheitspolitik zu tun haben. Hier erfährt man, wie blind die Verantwortungsträger handeln: ohne hinreichende Informationen über die Verteilung vonGesundheitsrisiken, Krankheiten und Todesfällen, über präventive und kurative Leistungen und deren Wirkungen auf die Gesundheit.
Auch andere gesundheitswissenschaftliche Neuerscheinungen verdienen Aufmerksamkeit. Das eine stellt "Public Health und Pflege" als neue wissenschaftliche Disziplinen vor. Die Pflegewissenschaft, so liest man, sei in anderen Ländern längst akademisch etabliert, in den Vereinigten Staaten zum Beispiel seit Beginn des Jahrhunderts. Vor allem Lehr- und Führungskräfte in der Kranken- und Altenpflege holen sich ihr Rüstzeug an den Universitäten. Bei uns hingegen kämpfen die Pflegekräfte erst seit kurzem um Eigenständigkeit, höhere Qualifikation und Anerkennung. Sie wollen nicht länger nur als "ärztlicher Assistenzberuf" oder "Heilhilfsberuf" bezeichnet und nicht von überwiegend Fachfremden unterrichtet werden.
Die Folge der in diesem Buch kritisierten bisherigen Fehlentwicklung war der Pflegenotstand, denn Schwestern bleiben unter solch unbefriedigenden Bedingungen nur wenige Jahre im Beruf. Jetzt modernisiert sich die Pflege aber auch in Deutschland. Statt sich mit dem gewohnten "verdünnten Aufguß der Medizin" zu begnügen, sucht sie nach ihrer eigenen Wissensbasis und hat zugleich schon die ersten Ergänzungsstudiengänge eingerichtet bekommen, ebenso wie der Bereich Public Health. Beide sind im Aufbau, beide haben noch kein einheitliches Konzept, wie in diesem Band eingeräumt wird. Es ist ein Werkstattbericht, herausgegeben von Doris Schaeffer und Rolf Rosenbrock (beide vom Wissenschaftszentrum Berlin), der im wesentlichen auf einer Tagung im November 1992 beruht. Leider haben nicht alle Autoren ihre Beiträge auf den neuesten Stand gebracht.
Denn die Gesundheitswissenschaften entwickeln sich rasch, und die ersten Ergebnisse liegen bereits vor. Ein Beispiel ist eine Arbeit aus der gesundheitswissenschaftlichen Fakultät in Bielefeld von Bernhard Badura und Günter Feuerstein. Hinter dem spröden Titel "Systemgestaltung im Gesundheitswesen" verbirgt sich eine spannend zu lesende Analyse unserer hochtechnisierten Medizin samt massiver, aber wohlfundierter Kritik. Im Zentrum der Untersuchungen steht das Krankenhaus. Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß dort die Versorgung an den Bedürfnissen der Patienten vorbeigeht. Teilsysteme und Einzelfunktionen hätten sich verselbständigt und folgten jeweils ihrer eigenen Logik. Die technischen Leistungen würden über-, die sozialen unterbewertet. Hierzu zählen die Autoren beispielsweise die Interaktionen innerhalb des therapeutischen Teams und von Patienten und Betreuern, ihre Pflege und den eigenen Beitrag des Kranken zur Gesundung.
Badura und Feuerstein erörtern auch die Gründe für den unerschöpflichen Technikbedarf des medizinischen Systems. Vom "diagnostischen Overkill" ist da die Rede, und als Beispiel für eine nahezu ungehemmte Expansion der Medizintechnik dient die Kardiologie. Gegen den Abgrund an Verschwendung und Irrationalität, der sich hier auftut, kann der Herzklappen-Korruptionsskandal als Randerscheinung vernachlässigt werden.
Denn die Zahl der mit den deutschen Krankenkassen abgerechneten Langzeit-EKGs stieg in drei Jahren um siebzig Prozent; die Zahl der Angiokardiographien (kontrastmittelunterstützte Röntgendarstellungen des Herzens und seiner Gefäße) hat sich in einem Jahrzehnt sogar mehr als verhundertfacht. Die Notwendigkeit jeder zweiten Schrittmacher-Implantation ist nach einer amerikanischen Studie zweifelhaft. Daß der therapeutische Wert der Bypassoperation wie auch der Ballondilatation in vielen Fällen umstritten ist, ändert nichts am unaufhaltsamen Anstieg der Zahl solcher Behandlungen verengter Herzkranzgefäße.
Diese medizinisch nicht ausreichend zu begründende Leistungsausweitung schreiben Badura und Feuerstein nicht allein den Patientenwünschen und der "ökonomischen Indikation" von Ärzten zu. Vielmehr analysieren sie scharfsinnig die Prozesse der selbstreproduzierenden Techniknutzung. Sie diskutieren aber auch detaillierte Vorschläge für etwas scheinbar Selbstverständliches und Einfaches, das doch so schwer zu machen ist: für ein medizinisches Vorsorgungssystem, das am Menschen orientiert wäre. ROSEMARIE STEIN
Klaus Hurrelmann, Ulrich Laaser (Hrsg.): "Gesundheitswissenschaften". Handbuch für Lehre, Forschung und Praxis. Beltz Verlag, Weinheim, Basel 1993. 450 S., Abb., geb., 128,- DM.
Doris Schaeffer, Martin Moers, Rolf Rosenbrock (Hrsg.): "Public Health und Pflege". Zwei neue gesundheitswissenschaftliche Disziplinen. Edition Sigma, Rainer Bohn Verlag, Berlin 1994. 297 S., Abb., br., 33,- DM.
Bernhard Badura, Günter Feuerstein: "Systemgestaltung im Gesundheitswesen". Zur Versorgungskrise der hochtechnisierten Medizin und den Möglichkeiten ihrer Bewältigung. Juventa Verlag, Weinhein, München 1994. 328 S., Abb., br., 49,- DM.
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